Hongkong – Liebe auf den zweiten Blick

Sieben Millionen Einwohner zwängen sich in das bergige Relief der 262 Inseln Hongkongs und sind dabei der Gefahr von Taifunen und dem tropisch-feuchten Wetter des Südchinesischen Meeres an mindestens zehn Monaten im Jahr ausgeliefert. Was den sozialistischen Planern der Volksrepublik Chinas wohl niemals in den Sinn gekommen wäre, machte die im Süden angrenzende, ehemals britische Kronkolonie zu einem der wichtigsten Finanzzentren Asiens und sichert ihr den heutigen Status als Sonderverwaltungszone mit eigenständiger Währung, weitgehender Pressefreiheit und Englisch als offizielle Amtssprache.


Touristen-Dschunke

Touristen-Dschunke

Nur kurze Zeit nach der Landung im dichten weißen Smog, der von den nahen chinesischen Produktionsstandorten Shenzhen und Guangzhou herüberzieht, wird man gewahr, dass Hongkong trotz seiner Assimilation durch den großen Nachbarn seine Eigenständigkeit bewahrt hat. Die ungewohnte Querbeschleunigung im Doppeldecker-Bus, der auf der linken Straßenseite einen Kreisverkehr durchfährt, und die lateinische Umschrift der Ortsnamen im kantonesischen Stakkato erinnern vielmehr an ausgeprägte britische Einflüsse – wie im Übrigen auch die Ansammlung indischer Verkäufer vor unserer Herberge, die den geneigten Besucher mit den Worten „Hello, my friend. You need copy watch, tailored suit, apartment?“ begrüßen und ihm zum Abschied ein zischendes „Haschisch…“ als scheinbar größte Versuchung zuraunen. Dieses Klein-Mumbai befindet sich in einem der wenigen verbliebenen, eher unansehnlichen Relikten eines Wohnraum-Programms aus den 1970er Jahren und bietet nicht nur zahlreichen Geschäften, die einer Gewerbeprüfung wohl nicht standhalten würden, sondern auch Hostels mit wohlklingenden Namen wie „Four Seasons Guesthouse“, „Super Guesthouse“ oder „Pay Less Guesthouse“ Unterschlupf. Quälend langsame Fahrstühle wecken unwillkürlich Gedanken an so absurde Dinge wie Brandschutzvorkehrungen und bringen uns zur Rezeption, wo wir unter dem finsteren Blick turbantragender Religionsstifter unser Quartier beziehen.

Skyline

Skyline

Glücklicherweise trüben solche Betonbunker (im Gegensatz zu vielen chinesischen Städten) nur noch in geringer Zahl das Stadtbild und der Blick vom Victoria’s Peak auf die imposante Skyline Hongkongs entschädigt für alles: Wie ein funkelnder Juwelenhaufen, eingekesselt von den steilen, dicht bewaldeten Hängen strahlt Central in seinem stillen Glanz; nur von fern wird das beständige Rauschen des Verkehrs an den Betrachter herangetragen. Ein irres Leuchten geht von den Schluchten zwischen den Bankgebäuden aus, ein Hinweis auf das pulsierende Leben dort unten, wo Neonreklame und ein babylonisches Geschnatter die Nacht zum Tag werden lassen. Vergleichbar mit dem Turmbau zu Babel ist auch die Hybris der Architekten und Stadtplaner, die aus dieser Perspektive offensichtlich ist: Der geografisch bedingte Platzmangel forciert schritt- und schichtweise den Ausbau in die Vertikale, sodass Metro-Schächte unter der Stadt und den Gewässern verlaufen; darüber ersticken die Straßen am Verkehrsaufkommen und für Fußgänger wurde schon längst eine weitere Ebene von Hochwegen eingezogen. In Hongkong, dem Moloch der Zukunft, erwartet man beinahe Ströme von futuristischen Vehikeln auch in der Luft, so sehr erinnert die hektische Betriebsamkeit an die Metropolen aus Star Wars. Obwohl der Autoverkehr nicht (wie in China) Jagd auf den arglosen Passanten macht und – oh Wunder! – auf permanentes Hupen verzichtet, haben es Fußgänger schwer in Hongkong. Die gesamte Uferpromenade ist eine riesige Baustelle und eine schlechte Beschilderung erschwert den Weg über mehrere Ebenen, durch Malls, über Rolltreppen und Tunnel. Auch das hochgelobte Metrosystem kann unseren Erwartungen nicht gerecht werden, da wir zugegebenermaßen an das hervorragend einfache Pendant aus Shanghai gewöhnt sind, das mit kürzeren Wegen und einer unmissverständlichen Farbkodierung punkten kann.

"Please mind the gap" auf Kantonesisch

"Please mind the gap" auf Kantonesisch

Beiden Systemen gemein ist die unkomplizierte Bezahlung per Prepaid-Karte mit eingebautem RFID-Chip, die ohne Bargeld und Berührung auskommt. Die Hongkonger Octopus-Karte lässt sich jedoch nicht nur in der Metro, der Tram oder den Doppeldecker-Bussen, sondern auch in zahlreichen Geschäften einsetzen – kein Wunder angesichts der klobigen Münzen von beträchtlichem Gewicht. Nicht ganz so modern ist eine Fahrt mit der Fähre von einer Insel zur anderen, die für 20 Eurocent als eine ausgesprochen günstige Hafenrundfahrt gelten darf. Dieses Fortbewegungsmittel ergänzt das heutige Hongkong, das stets in Eile zu sein scheint, um eine entschleunigende Komponente. Ganz ohne zischende Türen und dichtes Gedränge erlebt man hier das maritime Flair der Stadt (abermals im Gegensatz zu Shanghai, dieser anderen „Hafen“-Stadt); das Wasser ist türkis und die leichte Brise trägt den salzigen Meeresgeruch heran.

Jan Luis am Strand

Jan Luis am Strand

Während das Hongkong des ersten Tages mit seinem lauten Durcheinander auf den Straßen, mittelmäßigem Wetter und einigen ärgerlichen bürokratischen Hürden bei der Visumsvergabe einen insgesamt negativen Eindruck auf mich gemacht hat, so verkehrt sich meine Einstellung am nächsten Tag ins Gegenteil. Wir entfliehen mit einem Bus der dichten Bebauung und winden uns in Serpentinen über den bergigen Mittelteil der Insel, vorbei an luxuriösen Tennisplätzen und Villen mitten im Urwald bis hin zum Repulse Bay. Unterhalb der kleinen Baywatch-Häuschen können wir uns tatsächlich auf den langen Sandstrand legen und selbst das Wasser ist zum Schwimmen im Schutz der Hai-Netze nicht zu kalt.

Seafood auf Lamma Island

Seafood auf Lamma Island

Erst diese Facetten ergeben das vielseitige Gesamtbild von Hongkong: die zahlreichen Parks in ansonsten dicht bebauten Gebieten, wo sich die jungen philippinischen Haushälterinnen am Morgen treffen, die tropische Flora und Fauna und nicht zuletzt die zahllosen umliegenden Inseln. Auf Lantau Island, zur Hälfte ein Naturschutzgebiet, wacht die weltweit größte Statue eines Buddhas von seiner hohen Warte aus über den dazugehörigen Tempel und das Touristendorf; eine Seilbahn erleichtert den Abstieg bis zum vorgelagerten Flughafen. Die autofreie Insel Lamma Island bietet die Möglichkeit, in ungeahnter Abgeschiedenheit auf Wanderwegen zu flanieren, bis man die schläfrigen Fischersiedlungen bei der Fähre erreicht.

Weniger romantisch, dafür überaus schnell ist die Fähre nach Macao, deren hochtourige Gasturbinen schon von weitem hörbar sind. Circa eine Fahrtstunde auf Tragflügeln trennt Hongkong von Chinas anderer Sonderverwaltungszone, deren portugiesische Wurzeln wir in der Altstadt besichtigen. Rings um den zentralen Platz stehen eine Kirche und Verwaltungsgebäude aus der Kolonialzeit, in denen heute allerdings chinesisches und westliches Fastfood sowie Kleidung angeboten wird. Die Ruinen von St. Paul, Macaos Wahrzeichen, müssen gar mit einer überdimensionierten Panda-Figur um die Rolle als beliebtestes Fotomotiv ringen.  In der höher gelegenen Festung befindet sich das Museum, das die ungewöhnliche Entwicklung der Insel recht anschaulich dokumentiert und im Eingangsbereich die zivilisatorischen Errungenschaften der europäischen bzw. chinesischen Völker gegenüberstellt und somit einen Bezug herstellt, der nicht nur auf Macao beschränkt ist. Nicht abgedeckt ist hingegen der jüngste und

Venezianische Kanäle

Venezianische Kanäle

prominenteste Wandel: der Boom der Glücksspielindustrie. Findige Geschäftsleute, zumeist aus Las Vegas, erkannten im Jahre 2002 das Potenzial der wachsenden chinesischen Mittel- und Oberschicht, ihren neu erworbenen Wohlstand beim Glückspiel zu riskieren, woraufhin Ableger des Venetians und anderer bekannter Kasinos in Macao eröffnet wurden – mit berauschendem Erfolg. Kasino-eigene Shuttle-Busse transportieren nicht enden wollende Ströme von  Glücksrittern kostenlos von jedem Punkt der Insel in das drittgrößte Gebäude der Welt, in dem sich Hotelzimmer, Spielautomaten, Malls und natürlich – als Gipfel der Oberflächlichkeit – der überaus beliebte Nachbau der venezianischen Kanäle mitsamt singender Gondoliere befinden. In Anbetracht einer solch protzigen Gigantomanie verwundert es weiter nicht, dass Macao sein Vorbild Las Vegas umsatzmäßig schon längst um ein Vielfaches übertroffen hat und einer rosigen Zukunft entgegenblickt.

Uhrenturm in East Tsim Sha Tsui

Uhrenturm in East Tsim Sha Tsui

Zurück in Hongkong verfolgen wir ein letztes Mal die (unzensierten!) BBC-Nachrichten zum Atomunfall in Japan und bereiten alles für die Abreise vor. Noch bevor das Flugzeug am nächsten Morgen die Landebahn verlässt, überkommt uns ein schwer greifbares Gefühl von Fernweh. Sind wir nach einem halben Jahr kultureller Offenheit plötzlich rückfällig geworden? Vermissen wir schon jetzt das englische Frühstück im Café du Coral, die Bevölkerung, die nicht spuckt, oder sonstige Auswirkungen des britischen Kulturexports? Ganz im Gegenteil: Es ist eher diese Vielfalt und Widersprüchlichkeit von Landschaften, von Nationalitäten und Biografien, die Hongkong um ein Vielfaches aufregender machen als das mittlerweile vertraute Shanghai. Auf kleinsten Raum komprimiert findet man hier den wahren Schmelztiegel Asiens.

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