Dass die Tage in der Heimat gezählt sind, merkt man spätestens dann, wenn das Haltbarkeitsdatum der Milch im Kühlschrank das Ausreisedatum übersteigt.
Graduell verschwinden Institutionen aus meinem Leben, die über Jahre hinweg den Rhythmus bestimmt haben: Ein letztes Mal Musikunterricht, ein letztes Mal im Sportverein. Freunde fallen einem mit den Worten „Falls wir uns nicht mehr sehen…“ beim Abschied in die Arme und verleihen ihrer Überzeugung, ich müsse angesichts der nahenden Abreise schier verzweifeln, mit mitleidigen Blicken Ausdruck.
Aber Abschiedspanik? Mitnichten!
Das Ausbleiben jeglicher sentimentaler Ergüsse ist wohl einer diffusen Mischung aus Optimismus, Neugier und einer gehörigen Portion Naivität geschuldet.
Ich habe Reiseführer, Romane und Zeitungsartikel über China gelesen und habe die Eindrücke meiner Vorgängerin, Lea Schneider, in ihrem Blog verfolgt.
Ich habe einen Sprachkurs belegt, Filme und Bilder über Shanghai gesehen und das Visum befindet sich bereits im Reisepass.
Ich ertappe mich dabei, wie ich insgeheim Partei für die chinesische Kultur ergreife und mich vehement Vorurteilen meiner Bekannten entgegenstelle (was nicht immer berechtigt sein mag – viel mehr gehört es wohl zu der eigennützigen Verklärtheit, die jeder entwickelt, der längere Zeit im Ausland verbringt und das Fremde zum Teil seiner Identität macht).
Dennoch: Shanghai ist zum jetzigen Zeitpunkt noch seltsam unwirklich, nicht greifbar. Es ist ein Postkarten-Panorama, ein Punkt auf der Landkarte und ein Name, der aufregend-verruchte Assoziationen wie Opium-Kriege, ausländische Konzessionen und gnadenlosen Frühkapitalismus hervorruft; zumindest wenn man von skeptischen Kommentaren à la „Shanghai?! Warum gehst du denn nicht nach Neuseeland oder so?“ absieht.
Vermutlich läuft es auf Louisas Erkenntnis zu ihrem Schüleraustausch in den USA hinaus: „Man realisiert es weder kurz vor der Ausreise, noch während des folgenden Jahres. Erst zurück in Deutschland wird man gewahr, dass man gerade ganze zwölf Monate fernab der Heimat verbracht hat.“