Pathos in Listenform

 Die Abschiedsmelancholie hat mich gepackt, was vielleicht die beste und schlimmste Stimmung ist, um über irgendwas zu schreiben. Diese letzte Woche neigt sich dem Ende zu, ich versuche, mit allen Leuten, die mir ans Herz gewachsen sind, nochmal ein bisschen Zeit zu verbringen…

Und natürlich die Frage, was das alles am Ende gebracht hat. Was ich mitnehme.

Ich bemühe mich, nicht zu nostalgisch-pathetisch werden, und deshalb arbeite ich in Listenform. Von einem Kurvendiagramm einmal abgesehen, gibt es vermutlich nichts unpathetischeres als eine Liste. Die Punkte erscheinen in wahlloser Reihenfolge.

  1. Ich habe den tatsächlichen, greifbaren Beweis erhalten, dass die Welt sich nicht in schwarz-weiß-Rastern fassen lässt, dass man nicht sagen kann „Balkan=unterentwickelt, schlecht; Deutschland=hochentwickelt, gut“. Natürlich habe ich das vorher auch nicht geglaubt, aber glauben ist das eine, und wissen oder erfahren das andere.

  2. Ich habe gelernt, wie viel und wie wenig Nationalitäten bedeuten.

  3. Ich bin mir bewusst geworden, wie privilegiert ich bin, in Deutschland geboren und aufgewachsen zu sein, in einer Zeit mit relativ stabiler Wirtschaft, ohne Kriege, in einem toleranten und aufgeklärten Umfeld. Wie viele Chancen und Möglichkeiten mir offen stehen.

  4. Ich habe gelernt, was es heißt, über Grenzen zu gehen; echte, tatsächliche Ländergrenzen mit Passkontrollen und für viele Menschen der Ungewissheit, ob sie ein- und ausreisen dürfen. Stichwort EU-Privilegien, die wir uns nicht mehr bewusst machen.

  5. Ich habe einige meiner eigenen Grenzen überwunden, habe Dinge gemacht, die ich vielleicht vor einem Jahr nicht gewagt oder nicht für möglich gehalten hätte.

  6. Mir ist klar geworden, wie beliebig letztlich viele der Konventionen sind, die wir für unser alltägliches Leben etabliert haben. Dass das, was wir „normal“ finden, anderswo genauso normal sein kann. Oder völlig anders. Wie schnell sich Gewohnheiten ändern lassen. Und wie langsam, wenn man sich an ihnen festklammert.

  7. Ich kann zehn Sorten Rakija aus dem Stehgreif aufzählen.

  8. Ich weiß jetzt, dass ich auch anderswo leben kann, arbeiten kann, glücklich sein kann. Und was dieses diffuse Wort „Heimat“ meint.

  9. Das Gefühl, zu deutsch zu sein. Und nicht deutsch genug.

  10. Was mir am schwersten viel und am längsten gedauert hat: Zu akzeptieren, dass ich mich und meine Leistungen nicht immer vergleichen muss. Mich nicht dem Konkurrenzdruck zu beugen; nicht dauernd nachzudenken, ob andere vielleicht mehr oder besseres aus ihren sechs Monaten gemacht haben. Mehr gereist sind. Mehr gesehen haben. Mutiger waren. Fleißiger. Was ich tue, ist wozu ich fähig bin. Oder wozu ich nicht fähig bin. Ich muss nicht den Titel „Beste Freiwillige wo gibt“ erhalten, damit ich diese Erfahrung als Bereicherung empfinden darf.

So viel für jetzt.

Bald mehr.

Kommentare sind geschlossen.

Zur Werkzeugleiste springen