Sarajevo ist so schön! Eine wahnsinnig interessante, spannende Stadt; nicht umsonst heißt es ja „Jerusalem des Ostens“. Ich glaube, es gibt nicht viele Orte auf der Welt, wo man auf so kleinem Raum an mehreren Moscheen, einer orthodoxen Kirche, einer katholischen Kathedrale und einer Synagoge vorbeikommt. Dazu diese wunderbare Mischung aus „orientalischen“ und klassizistischen Stilelementen in der Architektur, das Basarviertel, der Fluss, all die kleinen, verwinkelten Gassen, die einen vergessen lassen, dass man sich in einer Hauptstadt befindet… Alles eingerahmt von hohen Bergen, hinter denen die Sonne abends verschwindet, während die Lichter an den Häusern und Minaretten langsam aufflackern und die Muezzins zum Gebet rufen.
Und dann im Kontrast dazu: die ehrwürdige, zerbombte Kaserne, die vom Berg über die Stadt blickt, bröckelnde Häuser mit Einschussnarben und die „Rosen von Sarajevo“, aufgefüllte Granattrichter, die mit roter Farbe markieren, wo ein Mensch gestorben ist. Eine Sonderausstellung zu den Massakern von Srebrenica. Und genau jetzt, an diesem Wochenende, das wir für unseren Besuch ausgewählt hatten, Demonstrationen, weil die Arbeitslosigkeit irgendwo zwischen dreißig und über vierzig Prozent liegt, weil Korruption den Staatsapparat lähmt, weil Menschen seit zwei Monaten ohne Gehalt gearbeitet haben, nur um zu erfahren, dass sie nun ihren Arbeitsplatz verlieren.
Ich gebe zu, als ich im Bus nach Sarajevo saß (acht Stunden!) und im Minutentakt Meldungen übers Radio durchgegeben wurden, die zunehmend panischer und beunruhigender klangen, habe ich schon überlegt, ob es wirklich eine gute Idee war, nach Bosnien zu fahren. So ruhig es für uns auch war an diesem Wochenende, in anderen Teilen der Stadt haben Regierungsgebäude und Autos gebrannt, die anfangs friedlichen Proteste eskalierten. Was ich daraus gelernt habe?
Vielleicht, dass Medien die Wirklichkeit verzerren, indem sie nur die „schrecklichen“ Bilder zeigen. Ist es nicht seltsam, wie verheerend einerseits und wie streng begrenzt auf bestimmte Plätze Demonstrationen sein können? Ob in Kiew, Istanbul oder jetzt eben in Sarajevo – während im einen Teil der Stadt gekämpft wird, gehen in anderen Teilen die Leute ihrem gewohnten Tagwerk nach. Und wir, als Touristen, als Außenstehende, stehen dazwischen und wundern uns, wie all das so nebeneinander existieren kann.
Welche Realität ist am Ende wahrer? Die chaotische, verzweifelte, gewalttätige, die in den Medien gezeigt wird? Die stoische, „normale“, unter deren Oberfläche es brodelt? Die bewegte historische? Die schillernd-exotische der Touristen? Oder sind sie nicht vielleicht alle Bruchstücke einer größeren, übergeordneten Realität?
Wer jetzt aus dem Ausland nach Sarajevo blickt, sieht vielleicht nur die Gewalt, die Korruption, die Arbeitslosigkeit, und fühlt sich bestätigt in seinem vorgefassten Urteil über ein ganzes Land. Ohne dieses Land gesehen zu haben, die Luft seiner Städte geatmet, die Menschen gesehen zu haben, die es bewohnen. Annemarie Schwarzenbach schrieb darüber, wie Orte erst wirklich in unseren Köpfen zu existieren beginnen, wenn wir sie mit unseren eigenen Augen gesehen haben. Und was war Sarajevo vorher für mich? Ein Name, ein abstrakter Begriff aus Geschichtsbüchern, ein Punkt auf der Weltkarte. Ich glaube, gerade heute, wo Bilder und Videos von Orten nur ein paar Klicks entfernt sind, denken wir oft, wir müssten die Orte dazu nicht mehr selbst besuchen. Und vergessen dabei, dass alle Bilder und Videos nur eine verzerrte Realität abbilden, dass ein Ort für uns nicht wahrhaftiger wird, umso mehr Bilder wir von ihm sehen, sondern umso mehr Schritte wir in ihm gegangen sind.
Ich weiß nicht, was aus Bosnien wird, aus dem Balkan. Aus Europa. Manchmal frage ich mich, wie ich in zwanzig oder dreißig Jahren auf diese Zeit zurückblicken werde. Ob ich sagen werde: „Wer hätte damals gedacht, dass alles so enden würde!“ oder „Ich habe es gesehen, bevor es so schön wurde, wie es jetzt ist“. Oder vielleicht „Damals haben wir alle noch nicht gewusst, was uns erwartet“.
Von meiner Reise nach Sarajevo bleiben mir jedenfalls viele schöne Erinnerungen, eine veränderte Perspektive auf das so wunderschöne, verkannte Bosnien und meine feste Absicht, bald zurückzukehren.
So viel für jetzt.




