Das große Los

Seit zwei Wochen bin ich nun hier. In der goldenen Stadt. Der Stadt der hundert Türme. In Prag.

Nun könnte ich die Dinge chronologisch erzählen, das aber würde wohl – Lieblingssatz eines jeden Schülers – „den Rahmen sprengen“. In diesem Fall täte es das wirklich. Darum folgendermaßen:

 

Die Stadt

Karlsbrücke SonnenuntergangZunächst mal wahnsinnig voll. Touristen an jeder Ecke, an denen der Weg zur nächsten Sehenswürdigkeit ausgeschildert ist, in jeder größeren Kirche und auch eigentlich sonst überall im Zentrum. Wer aber die 20 Meter entfernte Seitenstraße nimmt, hat die Straßen und Gassen für sich, erlebt auf einmal eine Ruhe, mit der scheinbar nicht zu rechnen war. Generell ist hier einiges paradox. Das äußert sich am offensichtlichsten in der Architektur. Barock neben Funktionalismus und Gotik – stand so im Lonely Planet. Stimmt aber wirklich. Gegenüber unseres wunderbaren Altbaus steht ein riesiger Betonklotz, den sich ein Radiosender mit der Polizei und einem Motorradcafé teilt.

Binnen der letzten zwei Wochen konnte ich dennoch ein wenig mehr als das Zentrum mit dem Wenzelsplatz und der Astronomischen Uhr kennenlernen. Natürlich kenne ich die ganzen Touristenstrecken jetzt auswendig, habe die Karlsbrücke und Burg wahrlich mehr als einmal gesehen, aber manche Orte hier sind es wirklich wert, doch öfter besucht zu werden. Was mir wirklich Freude bereitet, ist ziemlich simpel. Einfach durch die schönen Gassen der Kleinseite zu spazieren, sobald irgendetwas interessantes in Sicht ist, dorthin zu gehen und das immer wieder. Das hat beim letzten Mal drei Stunden gedauert.

 

Die Schule

Bislang top. Aber das muss dann doch chronologisch: Wie von meiner Betreuerin Sandra angekündigt, stürmte zunächst ein Pförtner auf mich zu und wollte vermutlich wissen, was ich hier machen würde. Mehrfach beteuerte ich in meinem besten Tschechisch, ich spräche seine Sprache leider nicht, was ihn aber nicht davon abhielt, weiter laut und eindringlich auf Tschechisch auf mich einzureden. Nach ein paar Minuten holte Sandra mich dann zum Glück ab. Schließlich zeigte sie mir meinen Schreibtisch. Lieber Leser, so einen Schreibtisch hast du nicht.IMG_4892

Dann ging es zum ersten Mal mit in den Unterricht. In jeder Klasse vorstellen in drei Sätzen. Dann: „Habt ihr Fragen?“ Nein, die hatten sie nicht. Vorhersehbar. So trottete ich die ersten Tage mit in den Unterricht, sah mir dir Klassen an und sie mich. Wirklich überrascht war ich über das Niveau, auf dem sich einige Schüler bewegen. Zwischen meinen sechs Jahren Spanisch und ihren sechs Jahren Deutsch liegen Welten. Beispiel: Heute morgen habe ich meinen spanisch-sprachigen Mitbewohner gefragt, was nochmal „Guten Morgen“ auf Spanisch heißt, während in der Schule hier auf Deutsch über Wahlpflicht debattiert wird.

Neulich habe ich dann eine erste eigene Stunde „gegeben“. Das entsprechende Kapitel im Lehrbuch hieß „Gefilmte und reale Welt“. Bis dahin ging es um Daily Soaps, die sich in Deutschland entgegen dem Glauben des Lehrbuchs aber niemand mehr ansieht. Deswegen hatte ich mich entschieden, mit ihnen etwas über das tatsächliche Fernsehverhalten in Deutschland zu machen. Und das heißt auch Reality Shows wie Dschungelcamp. Um diesen Absatz nicht ausarten zu lassen: Lief ganz gut.

Die WG

Haust im vierten Stock eines netten Altbaus und beheimatet ein paar sehr spezielle Charaktere:

„Mama“ Corinna (Italien)

Mit 25 Jahren die älteste hier. Sie ruft ab und zu zum Essen und wollte mir vor lauter Fürsorge neulich zeigen, wie man Tiefkühlspinat warm und tellerfertig kriegt. Schiefes Geträller mit Fantasietexten entspringt meist ihren Stimmbändern. Corinna macht ihr Auslandssemester hier in Irgendwas mit Kunst und hat exakt zwei Zeitstunden in der Woche Vorlesung – Erasmus macht’s möglich.

„Pizza-Pasta“ Leo (Italien)

Ist so ziemlich der einzige neben mir, der sich für hiesige Kultur, Politik und Sprache interessiert. Schon bei meiner Ankunft aß er genüsslich seine Pasta (klingt edler als „Nudeln mit Tomatensauce“), wie fortan jeden Tag. Mehr Klischee geht nicht. Außerdem leidet Leo am meisten unter dem Leben aus dem Geschirrspüler, vor allem aber unter dem Wetter: „I only want to survive in this f*cking cold city!“

„Andorra-Man“ Cerni (Andorra)

Hat vor allem viele Muskeln. Danach erst kommen sein abgefahrener Humor, sein gelegentliches Schreien und irres Lachen. Aber insgesamt ein wirklich netter Kerl. Hier macht er ein Praktikum in der Buchhaltung eines Hotels. Bei neuen Leuten macht er sich vor allem durch seine Herkunft interessant. Das hört sich dann ungefähr so an:

WG Pasta

„Woher?“ Aus Andorra? Ist ja Wahnsinn, habe noch nie jemanden von dort getroffen!“ Das ist auch ziemlich unwahrscheinlich. Um genau zu sein, liegt die Chance nämlich bei 0,0011111%, angenommen die gesamte Weltbevölkerung würde sich am selben Ort zum Speeddating treffen. Um das noch kurz zu vertiefen: Im November kommen für ein Wochenende fünf seiner Freunde aus Andorra hierher. Es ist rund drei mal wahrscheinlicher, im Lotto zu gewinnen als sechs Andorranern auf einen Schlag zu begegnen. Ja, ich hätte auch lieber die Millionen gewonnen. Aber er ist ein ganz guter Kompromiss.

Also wenn das mal nicht überaus inter- und transkulturell ist.

Die ersten Unternehmungen 

Das erste war vielleicht der Besuch der Ausstellung einiger Werke von Dalí und Warhol. Ich empfand den Besuch dort als Pflicht, immerhin wusste ich, dass die beiden es in der Kunst zu einigem Ruhm gebracht hatten. Mehr aber auch nicht, was sich schnell als Problem herausstellte. Wie sollte ich denn verstehen, was Dalí’s tausende von Pferden mir sagen sollen, ohne zumindest vorher mehr als den dort ausliegenden A5-Flyer zu lesen? Außerdem stellte ich dann fest, dass ich eigentlich nur die Fotos mit ihm sehr mochte. Doch dämmerte mir langsam, dass das Motiv sich damals schlecht selbst festhalten konnte. Dumm gelaufen. Und nun ja, Warhol war sehr nett, da muss ein Ahnungsloser glaube ich nicht sonderlich viel interpretieren. Ich Kulturbanause.

Natürlich musste jede Kirche, an der ich vorbeilief (und immer noch vorbeilaufe) unbedingt von innen betrachtet werden. Das sind wahnsinnig viele. Darum entschuldigt bitte, vor allem meine Besucher, dass ich so ziemlich jeden derer Namen vergesse. Am spektakulärsten ist natürlich der Veitsdom, dessen Besichtigung zumindest am Wochenende keine gute Idee ist.

Eindeutig zu häufig wird hier ein einheimischer Brauch schnell von allen Fremden übernommen. Das Biertrinken. Da das Angebot hier unendlich ist, ist es bei vielen auch der Durst. Nein, das ist bei mir zum Glück (noch) nicht der Fall.

Der Rahmen 

Verzeihung, deutlich gesprengt.