Gedanken im November

Raus aufs Land (1)

Kloster in Geghard

Die postsowjetische Millionenstadt Eriwan versprüht mitunter den ambivalenten Charme eines rostigen Zweitakters und einer überteuerten Edelboutique in einem. Wer die Chance hat, flüchtet also dann und wann am Wochenende zumindest ein paar Kilometer mit dem Bus aufs Land. Immerhin gibt es einige beachtliche mittelalterliche Kloster- und Festungsanlagen in der Umgebung, die im Sommer sogar Touristen anlocken. Und auch wenn ich (zumindest noch) nicht gerade Experte für vorderasiatische Geschichte bin, sind all diese geheimnisvollen alten Steine, und die neugierig die Fremden musternden Dorfbewohner mir immer eine willkommene Abwechslung.

Tempel in Garni

Bevor der Winter kommt (2)

In Deutschland hat es an diesem Wochenende geschneit, habe ich gelesen. Der Kalender sagt, es sei der erste Advent. Ob ich das glauben kann? – Ende November sind in diesem Jahr in Eriwan noch nicht einmal alle Blätter von den Bäumen gefallen. Bei rund fünfzehn Grad Tagestemperaturen ziehe ich zwar mittlerweile eine Jacke an, aber in der Sonne ist es immer noch sehr angenehm warm.

Umso unpassender erscheinen mir da die obligatorischen Rituale von Adventsbasteln bis Weihnachtsfeier. Aber vielleicht macht gerade das echten Kulturaustausch aus: Wir gestalten im Deutschunterricht einen Adventskalender und erzählen vom Nikolaus, während draußen der armenische Herbst einfach kein Ende finden will.

Das Gefühl von Schwere (3)

Am Sonntag war ich also endlich einmal dort. Das Genozid-Mahnmal Tsitsernakaberd liegt ein Stückchen außerhalb des Zentrums, beim Sport- und Konzertkomplex; da wo man es ein bisschen – aber nie so ganz – vergessen kann. Jetzt habe ich zum ersten Mal die Ausstellung besucht, all die Fotos und Texte gesehen, verstanden und doch nicht so ganz begriffen.

Dazu kommt der Eindruck einer türkisch-armenischen Konferenz am Vortag zu den komplizierten Beziehungen der beiden Nachbarländer, bei der es – nicht nur und doch immer ein bisschen – um „the genocide issue“ ging.

Kein greifbarer Gedanke, nur das Gefühl von Schwere, einem lastenden Gewicht. Lastend auf dem sonnigen Nachmittag am Denkmal und den kleinen Häppchen in der Kaffeepause zwischen den Vorträgen.

Blick von Tsitsernakaberd auf die Stadt

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Auf Russlandreise

Produkti

Produkti

Ein Reisetagebuch. – Zwischenseminar in St. Petersburg, Freizeit in Moskau: Neun Tage, in denen ich – raus aus dem kleinen Armenien – Russland ganz intensiv und auf vielfältige Weise erleben durfte. Ich habe versucht, das Allerwichtigste zusammenzufassen und trotzdem schon wieder fast 5000 Zeichen geschrieben.

Russlandreisend I.

Frierender Soldat auf dem Roten Platz

Frierender Soldat auf dem Roten Platz

Unendliche Birkenwälder von Moskau bis Petersburg. Anfang November liegt schon ein bisschen Schnee, und mir tun die jungen Männer leid, die aufgereiht in Uniform am Bahnsteig stehen und verängstigt dreinschauen, oder die Kadetten – keine zwölf Jahre alt -, denen ich in der Metro begegne. Ob Mantel und Fellmütze gegen die Kälte beim Wachestehen vor ewigen Feuern und schwer vergitterten Toren schützen? Und während ich mir ausmale, vor was auch ein Mantel die jungen Soldaten nicht schützen kann, rattern schon Vororte an meinem Fenster vorbei.

Bei Elchen

Idylle am See

Idylle am See

Ein Pionierlager bei St. Petersburg: Wieder Birken, ein See, der Gedanke an Finnland. Und was in Seminarräumen nicht gesagt werden kann, wird spätestens in der Banja besprochen. Losewo ist 70 km und gleichzeitig unendlich weit von der Millionenstadt an der Ostsee entfernt.

Санкт-Петербург

Das coole St. Petersburg: Die Terrasse unseres Hostels

Das coole St. Petersburg: Die Terrasse unseres Hostels

Dann endlich: Sankt Petersburg! In Städten, von denen es Ansichtskarten und Reiseführer zu kaufen gibt, ist man als Besucher zunächst geneigt, staunend und ehrfurchtsvoll alle Häuserfassaden anzustarren, bis man nach einigen Tagen den Blick zurück auf die vierspurigen Straßen richten kann. Ich freue mich über Winterpalast und Blutkirche, über die Neva-Brücken und den Blick auf die Peter-und-Paul-Festung. Aber weil „kulturweit“ ja auch einen Bildungsauftrag verfolgt, ermöglicht man uns dann noch einen anderen Blick auf die Stadt. – Das heißt zunächst ein Besuch in der lutherischen Kirche, die die Kommunisten in ein Schwimmbad umgebaut hatten. Dann eine Diskussionsrunde mit Vertretern einer engagierten studentischen Initiative. Schließlich Ballett-Vorstellung im Konservatorium.

Über den Dächern

Über den Dächern

Dass die Eremitage allen Wartens und Schlangestehens zum Trotz ein Höhepunkt der Reise sein würde, versteht sich von selbst. Ich staune über große Sarkophage aus Ägypten und viel römischen Marmor. Deutsche, flämische, italienische Maler – schon die Namen versetzen mich in Verzückung. Und noch bevor ich zu Matisse und Picasso komme, bleibe ich in der prachtvollen Innenausstattung des Winterpalastes hängen. Das Museum ist vollkommen überladen, nur vage sortiert und konzipiert, mehr zusammengerafft und -geklaut als gesammelt, und dennoch ein beeindruckender Ort.

Russlandreisend II.

Eisenbahn

Bahnhof irgendwo zwischen Moskau und St. Petersburg

Ausgedehnte Zugreisen gehören in der russischen Literatur zur Grundausstattung eines standesgemäßen Romans. Und tatsächlich sind zehn Stunden im Liegewagen „platzkartniy“ ein ganz eigenes Erlebnis. Die ungewollt intime Erfahrung der vollen Körperlichkeit von mindestens sechs Mitreisenden gegen die Gemütlichkeit eines vom Schaffner selbst gekochten und servierten Tees (grün oder schwarz) für nur ein paar Rubel.

Москва

Moskau

Moskau

Die russische Hauptstadt hat über zehn Millionen Einwohner und ich gerade einmal zwei Tage, sie alle kennen zu lernen. Ich fange bei meinem Couchsurfing-Gastgeber an, der mit seiner Frau, ihrer Mutter und – immer wieder wechselnden – Gästen aus aller Welt auf wenigen Quadratmetern in einer Plattenbauwohnung wohnt. Von Anfang an fühle ich mich willkommen und am zweiten Abend koche ich – zum Zeichen der Freundschaft – Pfannkuchen mit Apfelmus, die ich fleißig als deutsche Spezialität anpreise.

Sicher ist Moskau nicht die einzige Metropole, die von ihrem U-Bahn-Netz am Leben gehalten wird wie ein Organismus von seinem Blutkreislauf; aber bestimmt ist die Metro nirgendwo so schön wie hier. Falscher Stuck und Mosaike sozialistischer Helden haben einen ganz eigenen Charme.

Helden von gestern

Helden von gestern

Nach dem obligatorischen Besuchsprogramm (roter Platz und Kreml), habe ich am zweiten Tag Zeit für eine Kuriosität: Das Museum des Großen Vaterländischen Krieges! Die Ausstellung sieht aus, als habe seit 1991 niemand mehr abgestaubt: Überall Siege der Sowjetunion und des russischen Volkes. Aber trotz aller bildgewaltigen und – zumindest aus westlicher Perspektive – ungewöhnlichen Geschichtsinterpretation beherbergt das Museum auch einige spannende Ausstellungsstücke: „An diesem Tisch saßen sich also Churchill und Stalin in Teheran gegenüber. Das sieht doch noch sehr geschäftsmäßig aus.“

Der Rote Platz

Der Rote Platz

Russlandreisend III.

Unter mir die endlosen Gipfel des Kaukasus-Gebirges. Schneebedeckte Felsen bis zum Horizont. Für Minuten ziehen dort Berg um Berg, Schlucht um Schlucht vorbei. Von der komfortablen Kabine eines Flugzeuges sieht das alles aus wie die friedliche Phantasie eines Modellbauers. Keine Grenze trennt Abchasen von Georgiern und Russen von Tschetschenen; nur die menschenleere Idylle einer unberührten Weite zweitausend Meter unter meinem – in Plastikfolie eingeschweißten – Mittagessen.

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Endlich laufen

Der Herbst im Südkaukasus

Eine Joggingstrecke! Ich habe eine Joggingstrecke gefunden. Nach mehr als einem Monat in Yerevan bietet sich die erste Gelegenheit, meine Laufschuhe und die kurze Sporthose anzuziehen. Auffälliger könnte meine Erscheinung jetzt kaum noch werden, in einer Stadt, in der gefühlte 98 Prozent aller Männer Stoffhosen und Lederschuhe tragen. Aber wenn ich wie blöde durch die immer noch sehr warme Abendsonne renne und dabei auch noch meine lächerlich entblößten, bleichen Waden zeige, brauche ich mich über verwundert starrende Blicke und misstrauisches Getuschel nicht zu wundern. Doch das ist mir jetzt egal!

Zuerst an der vielbefahrenen Straße entlang. Ein Hund verfolgt mich ein Stück und knabbert dann doch lieber an einem vielversprechend herumliegenden Blech weiter. Dann die Kaskaden hoch, an all den Ineinander-Verschlungenen vorbei. (Menschen, die glauben, Paris sei die Stadt der Liebe, sind einfach noch nie diese Treppe hinaufgestiegen.)

Langsam merke ich, dass mein Atem wieder regelmäßiger geht und meine Muskeln warm geworden sind. „Park Achdanak“ (Friedenspark) steht in kyrillischen Lettern an dem monumentalen Portal. Alles sehr sowjetisch hier, aber auch das ist jetzt nicht wichtig. Ich habe mein Ziel erreicht: Einen besseren Ort zum Joggen kann es in dieser Stadt nicht geben. Von hier sieht man auf den ganzen Moloch hinab, hier oben hört man keinen Straßenlärm und atmet keinen Baustellenstaub. Das goldgelbe Laub auf den zerbröckelnden Treppenstufen, die sonstwohin führen, schreit nach Herbstlyrik; irgendwas Romantisches über Verfall und Natur. Aber ich bin ja zum Laufen hier. Ein paar erbärmliche Jahrmarktstände säumen den Weg und aus knatternden Lautsprechern dröhnt armenischer Pop.

Zweimal um den See. Unter der kleinen geschwungenen Brücke habe ich sogar einen Schwan entdeckt. In den Ruderbötchen und auf den Parkbänken sitzen Familien, die buntes Popcorn essen; und schon wieder Verliebte, denen sicher egal ist, dass sich alle anderen Paare jeweils genau so innig in die Augen sehen wie sie. Von hier aus rauf zum Denkmal. Eine gigantische stählerne Dame, die gerade den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat und deshalb sehr ernsthaft und streng von ihrem Sockel herunter schaut. Sie hält ein langes Schwert mit beiden Händen fest, was irgendwie würdevoll aussieht, aber nur wenig mit echten Kriegen zu tun hat. Wie es sich für ein sowjetisches Kriegsdenkmal gehört, stehen rund um die Statue übriggebliebene russische Panzer und Geschütze. Es ist beruhigend, dass heute Kinder auf ihnen klettern, aber ein bisschen mulmig wird mir dennoch bei ihrem Anblick, der mich – genau so wie sie jetzt hier auf dem großen Platz stehen – an Fotos aus Berlin und Prag erinnert.

Auf dem Rückweg erschreckt mich dann eine alte Frau, die mit einer mannshohen Sense am Wegesrand herumwerkelt, und aussieht, als sei sie aus einem Horrorfilm oder einem Barockgedicht entlaufen. Ihre grüne Weste erinnert mich aber schnell daran, dass sie zu den Heerscharen von Rentnerinnen gehört, die für ein paar Dram mit kleinen Harken und gebücktem Rücken all die vielen niedlichen Blumenbeete in der Innenstadt anlegen. Unter solchen Arbeitsbedingungen würde sicher weder ein Untoter noch der Sensenmann aktiv werden. Ich bin froh, dass ich auch an ihr schnell wieder vorbei gelaufen bin.

Nach etwas mehr als einer Stunde komme ich dann – diesmal von Straßenhunden und Schaulustigen relativ unbehelligt – zurück in unsere Wohnung, wo mich überraschend Alik erwartet, um mich zum Theater abzuholen…

20.11.2010

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Sprachunterricht aus zwei Perspektiven

Rote, grüne und graue Äpfel

„Das ist Elefant. Das ist Radiergummi. Das ist Apfel“, erzählt er mir stolz. Ich bin beeindruckt. Das klappt heute doch schon richtig gut. Aber ich will natürlich noch mehr wissen. Lehrer haben immer noch mehr Fragen. „Und welche Farbe hat der Apfel?“. Große dunkle Augen schauen fragend, aber interessiert zurück. Mhh, er hat recht: In dieser Schule gibt es leider nur schwarz-weiße Kopien des Anfänger-Deutschbuchs. Der Apfel ist genau so grau wie der Elefant und das Radiergummi.

Ich versuche es trotzdem noch einmal: „Intsch guin…?“. Gut, dass ich gerade die gleichen Vokabeln lerne wie die Kinder: Farben, Tiere, Obst – was Kinderbücher eben so hergeben. Jetzt versteht er mich. „Garmir!“ – „Und auf Deutsch?“ – „Rot. Grün“. Läuft doch wirklich super heute. Da können wir gleich noch einmal Umlaute üben: „Mä, mö, mü“.

Granatapfel

Typisch armenisch: Ein roter Granatapfel

Ein paar Stunden später bin ich dran, auf die – diesmal bunten – Bilder eines Kinderbuches zu zeigen und nicht enden wollende Fragen zu beantworten. Es ist gut, dreimal in der Woche daran erinnert zu werden, wie schwer es ist, das Schreiben (neu) zu lernen. Kreise, Punkte, gerade und geschwungene Linien und immer dieses Gefühl, das blöde Zeichen noch nie und gleichzeitig schon hundertmal gesehen zu haben. Und warum sind Lehrer immer mit der Aussprache ihrer Schüler unzufrieden? Im Armenischen gibt es drei „r“-Laute. Gut, dass auf dem Tisch meiner Armenischlehrerin immer auch echte Äpfel stehen; nur die darf ich natürlich nicht essen, ohne zu sagen, welche Farbe sie haben.

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Electro-Pop und Liebesbriefe

Zwei Empfehlungen aus dem Angebot des Goethe-Instituts

Im Supermarkt kann man Kinder-Schokolade kaufen, und das Frosch-Spülmittel mit dem Zitronengeruch. Irgendwie finden die wirklich wichtigen Exportprodukte ihren Weg aus Deutschland mit dem LKW über Georgien oder sonstwie fast von alleine hierher. Vieles andere braucht manchmal ein bisschen Unterstützung, um in den Südkaukasus zu gelangen. Das gilt auch für Repräsentanten des aktuellen deutschen Kulturbetriebs. An diesem Wochenende war ich bei zwei Veranstaltungen vom Goethe-Institut eingeladener Künstler.

Freitagabend. Dyko nennt sich der in Frankfurt lebende Australier, der mit einem roten Arbeitsanzug auf der Bühne der kleinen Kneipe steht und Lieder übers Wellenbaden singt. Hinter ihm flackert aufgeregte Videokunst über die Leinwand, vor ihm stehen ein Synthesizer und ein Mikrofon. Der junge Mann ist zunächst vielleicht ein bisschen zu trashig für das armenische Publikum, das brav an den Tischen Platz genommen hat und sich nur zögerlich – dann aber umso ausgelassener – auf die Bühne wagt. Er erzählt, wie er sich mit einem Sprachlern-Video Deutsch beigebracht hat und sagt, dass er sich auch ohne Reisepass als Deutscher fühlt. Das hätte kein Kulturattaché schöner formulieren können.

Montagnachmittag. Die Jugendbuchautorin Tamara Bach liest im Veranstaltungssaal der Kinderbibliothek Kurzprosa. Die 34-Jährige hat schon Termine in Aserbaidschan und Georgien hinter sich und wirkt nur ein ganz kleines bisschen gestresst, als sie die Fragen der Deutschschüler nicht auf Anhieb versteht oder die Jungs in der dritten Reihe – warum sind das schon wieder ausgerechnet „meine“ Schüler? – unruhig auf ihren Plätzen herum rutschen. Besonders gefällt den jungen Zuhörern ein kleiner Liebesbrief, den die Ich-Erzählerin an ihren Klassenkameraden Nils adressiert. Sie möchte mit ihm Eis essen und seine Hand halten, wünscht sich dass er romantisch und zärtlich ist, ihr sein Herz schenkt und ihre Freundinnen eifersüchtig macht. Und täusche ich mich oder hört da sogar die dritte Reihe zu?

Links: Dyko by Myspace

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Zentrale Lage, voll ausgestattet, Küche, Diele, Bad

Wie man vor Ort eine Unterkunft findet…

Küchenkonzert

Küchenkonzert

Das Geschäft mit Wohneigentum hat im deutschen Sprachgebrauch keinen besonders guten Ruf. Man spricht schließlich von Immobilien-Haien und nicht von Goldfischen. Mit einem ähnlichen Imageproblem haben höchstens noch Gebrauchtwagenhändler und Fischhändler zu kämpfen. So sehr sie ihre Produkte auch anpreisen und in den schillerndsten Farben ausmalen, wird man als Kunde den Eindruck nicht los, gehörig über den Ladentisch gezogen zu werden.

Es gehört also nicht zu den leichtesten Übungen, in den ersten Wochen in einer unbekannten Stadt in einer fremden Sprache nach einer geeigneten Unterkunft zu suchen. Eine Aufgabe, mit der ich alleine wahrscheinlich heillos überfordert gewesen wäre. Umso dankbarer bin ich, in den ersten Wochen bei meiner Mentorin, einer Deutschlehrerin meiner Schule, in einer provisorisch renovierten Einliegewohnung untergekommen zu sein. Aber weil das nicht zum Dauerzustand werden sollte, haben die anderen Freiwilligen und ich uns mit der tatkräftigen Unterstützung verschiedener armenischer Bekannter auf die Suche gemacht.

Wohnungssuche als Stadterkundung

WG-Kühlschrank

WG-Kühlschrank

Auf dem Weg zur neuen Freiwilligen-WG haben wir ganz nebenbei eine Yerevan-Tour der besonderen Art gemacht, hinter die Fassaden der Platten- und Altbauten geschaut, und mehr Wohneinrichtungen besichtigt, als wir sonst je in zwei Wochen hätten sehen können. Dabei ist uns bewusst geworden, wie ungewöhnlich unser Wunsch nach einem eigenen Zimmer für armenische Verhältnisse eigentlich ist. Drei- oder Vierzimmerwohnungen haben oft mehrere Doppelbetten und bieten – wenn man ein bisschen zusammenrückt – Platz für eine ganze Familie. Darüber hinaus sind allein lebende junge Menschen zumindest ein Grund für eine interessierte Nachfrage. Viele Studenten, auch in unserem Alter, leben hier weiterhin bei ihren Eltern.

Neu ist für uns auch die Präsenz der vielen wirklich unzureichenden Wohnungen, die uns natürlich kein Makler zeigt, an denen wir aber oft unversehens vorbeikommen. Ist das ein Schuppen oder wohnt da jemand? Dort hängt eine Wäscheleine: Das muss eine Behausung sein. Aber gibt es da drinnen wohl Wasser? Eine Gasheizung? Kaum zu glauben. Nur wie kann man so leben? Fragen, neben denen unsere eigenen Probleme plötzlich sehr klein wirken.

Ein neues Zuhause

Unser erstes Drahtlosnetzwerk

Unser erstes Drahtlosnetzwerk

Ein halbes Dutzend Makler und viele, viele Wohnungsbesichtigungen später, sind wir dann schließlich zunächst mit einer und heute der zweiten Vierzimmerwohnung für je drei junge Menschen fündig geworden. Am ersten November ziehe ich also um. Meine beiden Mitbewohnerinnen Rieke und Franziska freuen sich jetzt schon auf den neuen Badezimmerspiegel und ein eigenes Zimmer. Spätestens bei der Vertragsunterzeichnung morgen wird mir dann auch ein kleiner Stein vom Herzen fallen. Nils, Martin und Anni, die schon seit einer halben Woche in ihrer neuen Wohnung untergekommen sind, erscheinen zumindest sehr glücklich über den neugewonnen Komfort in den eigenen vier Wänden. Nach dem Zwischenseminar in St. Petersburg wartet dann auch auf mich ein neues Zuhause.

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Alles andere als Alltag

Erster Versuch einer Zustandsbeschreibung

Es gibt in meiner Erinnerung diese allerersten Eindrücke, die unzusammenhängenden Bilder der ersten Tage, auf denen kaum mehr zu sehen ist als verschwommene Schemen: Die nächtliche Taxifahrt vom Flughafen in die Stadt, ein reich beladener Tisch mit „lavash“ (dünnes Brot) und selbstgemachter Marmelade, mit freundlichen Worten zur Begrüßung und viel süßem Tee. In den ersten Tagen in einer neuen Stadt, in einem neuen Land und in einem neuen Leben auf Zeit vergehen die ersten Stunden wie Tage.

Markthalle in Yerevan

Markthalle in Yerevan

Es braucht ein wenig Zeit und ein bisschen Abstand von diesem Zustand, um einen zusammenhängenden Gedanken fassen zu können, um zwischen all den neuen Orten und Menschen zumindest vorläufige Verbindungen erkennen zu können. Vielleicht ist nach zehn Tagen der richtige Moment gekommen, um sich an einen ersten Blogeintrag zu wagen.

Und wie ist es so?

Wo lebst du? Was machst du? Wie geht es dir? Auf die am häufigsten gestellten Fragen nach meinem Verbleib in Yerevan gibt es auch nach den ersten eineinhalb Wochen noch keine abschließenden Antworten, aber einiges kann ich nun zumindest besser beantworten als noch vor meinem Abflug.

Neben mir hat der Pädagogische Austauschdienst noch vier weitere deutsche Freiwillige an armenische Schulen mit Deutschunterricht in Yerevan entsendet. Die erste Zeit leben wir zusammen in einer Dreieinhalbzimmer-Wohnung, die uns eine armenische Lehrerin untervermietet. Weil das natürlich keine langfristige Lösung ist, haben wir uns auf den Immobilienmarkt der Stadt gestürzt: Ungezählte Besuche bei Maklern und Vermietern mit Stadtplan und hilfsbereiten Übersetzern inklusive. In den nächsten Wochen werden wir dann zwei komfortablere Wohnungen beziehen. Hoffentlich!

Was machst du da eigentlich?

Straße in YerevanMeine Einsatzstelle ist eine relativ kleine (private) armenische Mittelschule im Stadtzentrum von Yerevan. Die Schüler sind zwischen acht und sechzehn Jahre alt und lernen in – für deutsche Verhältnisse – paradiesisch kleinen Klassen und schwierigen räumlichen Bedingungen.

Ich helfe im Deutschunterricht, antworte auf alle neugierigen Fragen und staune selbst noch über vieles. In dieser Woche ist eine Gruppe Austauschschüler aus Sachsen-Anhalt zu Besuch; an Alltag ist also noch nicht zu denken.

Eigene Projekte von uns Freiwilligen, von Exkursionen mit den Schülern bis zu einem deutschen Monatskino, sind in Planung. Der Armenischunterricht für uns ist angelaufen und mittlerweile kann ich Minibus fahren, ohne mich zu verirren.

Auch wenn der erste Schock bald überstanden scheint, wird es wohl noch eine ganze Weile dauern, bis ich mich richtig eingelebt haben werde. Nur langweilig wird mir sicher nicht werden.

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Wenn das mal gut geht…

Erwartungen – Hoffnungen und Ideen vom Vorbereitungsseminar

Alle lachen in die Kamera und überall scheint die Sonne auf die vielen Freiwilligen herab, irgendwo in einem fernen Land. Der kulturweit-Imagefilm soll Vorfreude auf ein (halbes) Jahr in der Ferne verbreiten. Die über 200 jungen Menschen, die ein bisschen erschöpft von der Anreise bei brandenburgischem Septemberwetter im überfüllten Kinosaal dem Gute-Laune-Video zuschauen, wissen selbst, dass in den nächsten Monaten auch Schwieriges auf sie zukommt; und nicht alles ist so leicht wie es nachher in so einem Filmchen aussieht. Aber wie sehen die Erwartungen vor dem Einsatz aus? Was wissen wir über unsere Einsatzländer und unsere Arbeit? Wie sähe mein persönlicher Imagefilm aus? Und was machen zehn Seminartage am Werbellinsee aus den bisherigen Hoffnungen und Befürchtungen?

Sprung in den Werbellinsee

Die Rahmendaten kennen alle. Aber was mache ich ich zwischen den vielen? 242 Freiwillige im Alter zwischen 18 und 26 Jahren verreisen im Auftrag von fünf Partnerorganisationen in 60 Länder. Vielfältiger kann ein Freiwilligenprogramm kaum sein. Dennoch oder gerade deshalb versammelt kulturweit zehn Tage lang junge Menschen mit ganz unterschiedlichen Vorkenntnissen, Motivationen und Erwartungen an einem Ort, provoziert Begegnungen, konzentriert Erfahrungen und lässt Sich-Ergänzendes aufeinanderprallen. Das Seminar als gemeinsamer Ausgangspunkt, bevor am Ende dann doch jeder die Herausforderungen für sich selbst bewältigen muss.

Im Flur des Seminarhauses hängt eine große Papierfläche, die überschrieben ist mit: „Ich suche/ Ich biete“. Und irgendwie funktioniert das ganze Seminar nach einem ähnlichen Prinzip. Natürlich mag auch eine PowerPoint-Präsentation über die Strukturen des deutschen Bildungsföderalismus oder das russischen Schulwesen ihren Reiz haben. Aber die wirklich brennenden Fragen über den Wohnungsmarkt in Buenos Aires oder das Taxifahren in Georgien klären sich dann doch erst im persönlichen Gespräch mit den Experten und Mitfreiwilligen. Letzte Gelegenheit alle hard facts und konkreten Probleme festzuzurren.

Pinnwand

Pinnwand: Ich suche/ Ich biete

Auch große Flipcharts, Karteikarten und Gespräche im Stuhlkreis bleiben bei einem pädagogischen Begleitprogramm natürlich nicht aus. Da wird dann über die Rolle als Freiwilliger, diskriminierende Sprache, Kommunikationsprobleme oder ganz allgemein über Identität gequatscht. Nochmal das ganze Pflegeprogramm für die Psyche, bevor es dann so richtig losgeht.

Wer von hier mit mehr offenen Fragen aufbricht, als er mitgebracht hat, hat schon was dazugelernt.

Dieser Text wurde zuvor bereits in leicht abgeänderter Form in der Seminarzeitschrift „freisprung“ (09/2010) veröffentlicht. Wer dort mehr von mir und anderen lesen will, findet hier einen Link dazu.

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Reisevorbereitungen

Ich zähle schon lange die Tage bis zum Abflug. Dabei weiß ich gar nicht, ob die immer kleiner werdenden Zahlen mir Angst machen oder mich in Freude versetzen. Tief durchatmen hilft auf jeden Fall. In meinem Zimmer steht ein gigantischer Koffer, in den ich mein Leben für ein Jahr packen soll. Das klingt melodramatisch, wie überhaupt so vieles im Moment. „Abschiedsparty“, „Abschiedsgeschenke“,… jetzt aber mal halblang! Ich war doch schon in halb Europa unterwegs, ein paar Tage oder ein paar Wochen. Versuche ich mir einzureden, hilft aber nichts. Ein Jahr nach Armenien! Klingt definitiv melodramatisch. Dannalso mal los.

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