Ein Reisetagebuch. – Zwischenseminar in St. Petersburg, Freizeit in Moskau: Neun Tage, in denen ich – raus aus dem kleinen Armenien – Russland ganz intensiv und auf vielfältige Weise erleben durfte. Ich habe versucht, das Allerwichtigste zusammenzufassen und trotzdem schon wieder fast 5000 Zeichen geschrieben.
Russlandreisend I.
Unendliche Birkenwälder von Moskau bis Petersburg. Anfang November liegt schon ein bisschen Schnee, und mir tun die jungen Männer leid, die aufgereiht in Uniform am Bahnsteig stehen und verängstigt dreinschauen, oder die Kadetten – keine zwölf Jahre alt -, denen ich in der Metro begegne. Ob Mantel und Fellmütze gegen die Kälte beim Wachestehen vor ewigen Feuern und schwer vergitterten Toren schützen? Und während ich mir ausmale, vor was auch ein Mantel die jungen Soldaten nicht schützen kann, rattern schon Vororte an meinem Fenster vorbei.
Bei Elchen
Ein Pionierlager bei St. Petersburg: Wieder Birken, ein See, der Gedanke an Finnland. Und was in Seminarräumen nicht gesagt werden kann, wird spätestens in der Banja besprochen. Losewo ist 70 km und gleichzeitig unendlich weit von der Millionenstadt an der Ostsee entfernt.
Санкт-Петербург
Dann endlich: Sankt Petersburg! In Städten, von denen es Ansichtskarten und Reiseführer zu kaufen gibt, ist man als Besucher zunächst geneigt, staunend und ehrfurchtsvoll alle Häuserfassaden anzustarren, bis man nach einigen Tagen den Blick zurück auf die vierspurigen Straßen richten kann. Ich freue mich über Winterpalast und Blutkirche, über die Neva-Brücken und den Blick auf die Peter-und-Paul-Festung. Aber weil „kulturweit“ ja auch einen Bildungsauftrag verfolgt, ermöglicht man uns dann noch einen anderen Blick auf die Stadt. – Das heißt zunächst ein Besuch in der lutherischen Kirche, die die Kommunisten in ein Schwimmbad umgebaut hatten. Dann eine Diskussionsrunde mit Vertretern einer engagierten studentischen Initiative. Schließlich Ballett-Vorstellung im Konservatorium.
Dass die Eremitage allen Wartens und Schlangestehens zum Trotz ein Höhepunkt der Reise sein würde, versteht sich von selbst. Ich staune über große Sarkophage aus Ägypten und viel römischen Marmor. Deutsche, flämische, italienische Maler – schon die Namen versetzen mich in Verzückung. Und noch bevor ich zu Matisse und Picasso komme, bleibe ich in der prachtvollen Innenausstattung des Winterpalastes hängen. Das Museum ist vollkommen überladen, nur vage sortiert und konzipiert, mehr zusammengerafft und -geklaut als gesammelt, und dennoch ein beeindruckender Ort.
Russlandreisend II.
Ausgedehnte Zugreisen gehören in der russischen Literatur zur Grundausstattung eines standesgemäßen Romans. Und tatsächlich sind zehn Stunden im Liegewagen „platzkartniy“ ein ganz eigenes Erlebnis. Die ungewollt intime Erfahrung der vollen Körperlichkeit von mindestens sechs Mitreisenden gegen die Gemütlichkeit eines vom Schaffner selbst gekochten und servierten Tees (grün oder schwarz) für nur ein paar Rubel.
Москва
Die russische Hauptstadt hat über zehn Millionen Einwohner und ich gerade einmal zwei Tage, sie alle kennen zu lernen. Ich fange bei meinem Couchsurfing-Gastgeber an, der mit seiner Frau, ihrer Mutter und – immer wieder wechselnden – Gästen aus aller Welt auf wenigen Quadratmetern in einer Plattenbauwohnung wohnt. Von Anfang an fühle ich mich willkommen und am zweiten Abend koche ich – zum Zeichen der Freundschaft – Pfannkuchen mit Apfelmus, die ich fleißig als deutsche Spezialität anpreise.
Sicher ist Moskau nicht die einzige Metropole, die von ihrem U-Bahn-Netz am Leben gehalten wird wie ein Organismus von seinem Blutkreislauf; aber bestimmt ist die Metro nirgendwo so schön wie hier. Falscher Stuck und Mosaike sozialistischer Helden haben einen ganz eigenen Charme.
Nach dem obligatorischen Besuchsprogramm (roter Platz und Kreml), habe ich am zweiten Tag Zeit für eine Kuriosität: Das Museum des Großen Vaterländischen Krieges! Die Ausstellung sieht aus, als habe seit 1991 niemand mehr abgestaubt: Überall Siege der Sowjetunion und des russischen Volkes. Aber trotz aller bildgewaltigen und – zumindest aus westlicher Perspektive – ungewöhnlichen Geschichtsinterpretation beherbergt das Museum auch einige spannende Ausstellungsstücke: „An diesem Tisch saßen sich also Churchill und Stalin in Teheran gegenüber. Das sieht doch noch sehr geschäftsmäßig aus.“
Russlandreisend III.
Unter mir die endlosen Gipfel des Kaukasus-Gebirges. Schneebedeckte Felsen bis zum Horizont. Für Minuten ziehen dort Berg um Berg, Schlucht um Schlucht vorbei. Von der komfortablen Kabine eines Flugzeuges sieht das alles aus wie die friedliche Phantasie eines Modellbauers. Keine Grenze trennt Abchasen von Georgiern und Russen von Tschetschenen; nur die menschenleere Idylle einer unberührten Weite zweitausend Meter unter meinem – in Plastikfolie eingeschweißten – Mittagessen.