Der Herbst im Südkaukasus
Eine Joggingstrecke! Ich habe eine Joggingstrecke gefunden. Nach mehr als einem Monat in Yerevan bietet sich die erste Gelegenheit, meine Laufschuhe und die kurze Sporthose anzuziehen. Auffälliger könnte meine Erscheinung jetzt kaum noch werden, in einer Stadt, in der gefühlte 98 Prozent aller Männer Stoffhosen und Lederschuhe tragen. Aber wenn ich wie blöde durch die immer noch sehr warme Abendsonne renne und dabei auch noch meine lächerlich entblößten, bleichen Waden zeige, brauche ich mich über verwundert starrende Blicke und misstrauisches Getuschel nicht zu wundern. Doch das ist mir jetzt egal!
Zuerst an der vielbefahrenen Straße entlang. Ein Hund verfolgt mich ein Stück und knabbert dann doch lieber an einem vielversprechend herumliegenden Blech weiter. Dann die Kaskaden hoch, an all den Ineinander-Verschlungenen vorbei. (Menschen, die glauben, Paris sei die Stadt der Liebe, sind einfach noch nie diese Treppe hinaufgestiegen.)
Langsam merke ich, dass mein Atem wieder regelmäßiger geht und meine Muskeln warm geworden sind. „Park Achdanak“ (Friedenspark) steht in kyrillischen Lettern an dem monumentalen Portal. Alles sehr sowjetisch hier, aber auch das ist jetzt nicht wichtig. Ich habe mein Ziel erreicht: Einen besseren Ort zum Joggen kann es in dieser Stadt nicht geben. Von hier sieht man auf den ganzen Moloch hinab, hier oben hört man keinen Straßenlärm und atmet keinen Baustellenstaub. Das goldgelbe Laub auf den zerbröckelnden Treppenstufen, die sonstwohin führen, schreit nach Herbstlyrik; irgendwas Romantisches über Verfall und Natur. Aber ich bin ja zum Laufen hier. Ein paar erbärmliche Jahrmarktstände säumen den Weg und aus knatternden Lautsprechern dröhnt armenischer Pop.
Zweimal um den See. Unter der kleinen geschwungenen Brücke habe ich sogar einen Schwan entdeckt. In den Ruderbötchen und auf den Parkbänken sitzen Familien, die buntes Popcorn essen; und schon wieder Verliebte, denen sicher egal ist, dass sich alle anderen Paare jeweils genau so innig in die Augen sehen wie sie. Von hier aus rauf zum Denkmal. Eine gigantische stählerne Dame, die gerade den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat und deshalb sehr ernsthaft und streng von ihrem Sockel herunter schaut. Sie hält ein langes Schwert mit beiden Händen fest, was irgendwie würdevoll aussieht, aber nur wenig mit echten Kriegen zu tun hat. Wie es sich für ein sowjetisches Kriegsdenkmal gehört, stehen rund um die Statue übriggebliebene russische Panzer und Geschütze. Es ist beruhigend, dass heute Kinder auf ihnen klettern, aber ein bisschen mulmig wird mir dennoch bei ihrem Anblick, der mich – genau so wie sie jetzt hier auf dem großen Platz stehen – an Fotos aus Berlin und Prag erinnert.
Auf dem Rückweg erschreckt mich dann eine alte Frau, die mit einer mannshohen Sense am Wegesrand herumwerkelt, und aussieht, als sei sie aus einem Horrorfilm oder einem Barockgedicht entlaufen. Ihre grüne Weste erinnert mich aber schnell daran, dass sie zu den Heerscharen von Rentnerinnen gehört, die für ein paar Dram mit kleinen Harken und gebücktem Rücken all die vielen niedlichen Blumenbeete in der Innenstadt anlegen. Unter solchen Arbeitsbedingungen würde sicher weder ein Untoter noch der Sensenmann aktiv werden. Ich bin froh, dass ich auch an ihr schnell wieder vorbei gelaufen bin.
Nach etwas mehr als einer Stunde komme ich dann – diesmal von Straßenhunden und Schaulustigen relativ unbehelligt – zurück in unsere Wohnung, wo mich überraschend Alik erwartet, um mich zum Theater abzuholen…
20.11.2010