Singen verbindet

In Lettland gehört Singen zum täglichen Leben. Ich glaube, dass in kaum einem anderen Land mehr gesungen wird. Es gibt gefühlte tausend Chöre allein in Riga und mit Liedern hat die lettische Bevölkerung sogar ihre ersehnte Unabhängigkeit von den sowjetischen Okkupanten ersungen. Da ist es nur logisch, dass auch ich mir nach knapp fünf Wochen einen Chor gesucht habe. Sicherlich hatten sich einige von euch schon gefragt, wann es denn endlich so weit ist! *g*

Jetzt singe ich im Jugendchor Mūza, wobei die SängerInnen stellenweise auch über 30 sind. Jugend ist in dem Falle also ein dehnbarer Begriff. Am Mittwoch war ich zum ersten Mal bei der Probe in der Kleinen Gilde (in Riga seit dem 14. Jh. Zusammenschluss ausschließlich deutscher Handwerker) und wurde anschließend direkt dazu „aufgefordert“, beim gestrigen Konzert mitzusingen. Da konnte ich natürlich nicht nein sagen! 😉 Die Lieder waren aber auch nicht so schwe. Wir haben auch nur zwei alleine gesungen, weil noch drei andere Chöre das Konzert mitgestaltet haben. Vor dem Konzert wurden wir kostenlos mit Mittag versorgt und danach gab es noch ein geselliges Beisammensein aller Teilnehmer bei Kaffee und Kuchen – und einem Spiel, bei dem man aus Spaghetti und Marshmallows ein möglichst hohes Haus bauen sollte.

Ihr werdet euch sicherlich fragen, wie es mit der Verständigung aussieht. Im Chor ist ein Mädchen, die mal für neun Monate in Berlin gewohnt hat und daher Deutsch spricht. Ansonsten unterhalte ich mich mit den anderen auf Englisch und versuche auch manchmal einige Dinge auf Lettisch zu sagen. Wenn sich die Letten unterhalten, höre ich wiederum aufmerksam zu und versuche etwas zu verstehen. In der Probe selbst klappt das schon ganz gut, da ich zumindest die Zahlen (für Takte und Seiten) und einige andere Anweisungen wie „gerade“ schon im Sprachkurs gelernt und halbwegs verinnerlicht habe. Mal sehen, wie viel mir der Chor in den kommenden vier Monaten noch beim Lettisch lernen helfen wird…

Ich will Meer sehen

Und das geht am besten in Jūrmala, der Badewanne Rigas, zehn Kilometer nordwestlich der Hauptstadt. Mit dem Zug fuhren wir (Bettina und zwei ihrer Freunde) in die 25 km lange (!) und flächenmäßig zweitgrößte Stadt Lettlands. 1959 vereinigte man drei Städte und später noch mehrere Fischerdörfer zu Jūrmala. Im Sommer strömen scharenweise Touristen, aber auch Rigaer in den größten Kurort des Baltikums. Die Stadt ist heute außerdem einer der begehrtesten Orte für die reichen Letten geworden, die mit restaurierten Holzvillen und schicken Neubauten ihr Vermögen zur Schau stellen. Auch der lettische Präsident hat am Strand eine Residenz, kameraüberwacht und gesichert mit hohen Mauern. Wir stiegen in Majori, dem Herzstück Jūrmalas aus und liefen dann Richtung Westen nach Dubulti am Meer entlang. Leider hat es heute häufig geregnet, aber die Bilder sind trotzdem ganz schön geworden.

In dieser Woche war natürlich noch mehr los, wie ihr den letzten beiden Fotos entnehmen könnt: Am Mittwoch habe ich meine ehemalige Mitbewohnerin aus Passau getroffen, die gerade eine Freundin in Riga besucht. Die wiederum heißt natürlich auch Laura – es gibt ja keine anderen Namen – und stammt aus Riga, studiert aber in Passau dasselbe wie ich mal studiert habe. Alles klar?! Jedenfalls waren wir u.a. im Lido essen und danach Bowlen. Ich war natürlich gar nicht so schlecht. 😉

Am Donnerstag fand der erste „Tag der deutschen Sprache“ statt, ein von der Botschaft geplanter und durchgeführter Besuch in einer DSD-Schule in Talsi. Ziel war es, deutschlernenden Schülern eine Plattform für Informationen zum Studium in Deutschland zu geben und Kindern der 5. Klasse die deutsche Sprache näherzubringen, damit sie diese als 2. Fremdsprache wählen. Nur soviel zum Tag in Talsi:

Die sechs Phasen der Planung: 1. Begeisterung 2. Verwirrung 3. Ernüchterung 4. Suche nach dem Schuldigen 5. Bestrafung der Unschuldigen 6. Auszeichnung der Nichtbeteiligten.

Wir Freiwilligen (= Laufpersonal) haben schön die ersten 3-4 Phasen von obigem Zitat durchlebt. Es war sehr ernüchternd, von den Mitarbeitern der Botschaft alleingelassen und ohne richtigen Dank wieder nach Hause geschickt! Hoffentlich verlaufen die nächsten Termine besser. Zu allem Überfluss habe ich auch nicht mal etwas vom Ort gesehen. Lediglich die Fahrt nach Talsi hat sich gelohnt, weil ich zum ersten Mal das ländliche Lettland sehen konnte. Manchmal sieht man kilometerweit keine Häuser, aber Bushaltestellen mitten in der Pampa. Das erinnert mich sehr an Kaliningrad. Aber laut Statistik leben in Lettland auch nur 35 Einwohner pro Quadratkilometer.

Der Winter ist noch nicht vergangen

Jüdisches Riga

Mein Wochenende stand im Zeichen der jüdischen Vergangenheit Rigas. Nachdem das historische Speicherviertel eine kleine Enttäuschung war, erkundigten wir (Amélie, Eva von der deutschen Botschaft und ich) am Samstag kurzerhand die Moskauer Vorstadt. Die wird so genannt, weil dort früher fast ausschließlich Russen und Juden gewohnt haben und die Hauptstraße zur Landstraße nach Moskau führte. Die Gegend zählt nicht zu den attraktivsten Rigas und irgendwie ist eine etwas deprimierte Stimmung spürbar. Das Viertel ist von hoher Arbeitslosigkeit gekennzeichnet und mir wurde auch schon mehrmals geraten, dort abends nicht unbedingt alleine durch die Straßen zu gehen. Alle Gegenden, die in Riga jenseits der Bahnschienen liegen, gelten als zwielichtig. Gestern verstärkte das trübe Wetter sogar tagsüber das Gefühl, in einer unsicheren Umgebung unterwegs zu sein. Vermutlich würde das Ganze bei Sonnenschein schon wieder ganz anders aussehen. Jedenfalls gingen wir zu der Stelle, an der bis 1941 die Große Choralsynagoge stand, die größte Synagoge Rigas. Heute sind nur noch das Fundament und einige Mauerreste erhalten. Die Nazis hatten kurz nach der Okkupation 300 Juden darin eingeschlossen und das Gotteshaus angezündet – es gab keine Überlebenden. Nun erinnern eine Gedenktafel, ein Gedenkstein und ein Denkmal an dieses Verbrechen und das Schicksal der lettischen Juden.

Ruine der vormals größten Synagoge Rigas

Anschließend gingen wir dorthin, wo das Rigaer Ghetto, in das ca. 30.000 Rigaer Juden gesperrt wurden, lag. Allerdings nur für 35 Tage, denn dann wurde das Ghetto von den Nazis „geräumt“, um Platz für deutsche Juden zu schaffen (die Konzentrationslager im Reichsgebiet waren schon voll). Heute zum Sonntag haben Amélie und ich unser Wissen in der jüdischen Geschichte Lettlands mit einem Besuch im Jüdischen Museum gleich noch weiter vertieft.

Ansonsten ist die Moskauer Vorstadt vor allem für die Akademie der Wissenschaften bekannt, einem 1958 im stalinistischen Zuckerbäckerstil erbauten Hochhaus (auch „Stalins Geburtstagstorte“ genannt). Außerdem steht in dem Viertel der mit 37 m höchste klassizistische Holzbau Lettlands, die evangelisch-lutherische Jesuskirche.

"Stalins Geburstagstorte"Akademie der WissenschaftenJesuskirche aus Holz

Hier noch weitere Eindrücke von meinem nunmehr vierten Wochenende in Riga:

"Rauchen ist tödlich." (v.a. bei dieser Zigarettengröße)Ein Cocktail am FreitagabendDer Winter ist noch nicht vergangen

Inschrift: „Für Vaterland und Freiheit“

Gedenktag der Legionäre

Der 16. März wird als Leģionāru piemiņas diena (Gedenktag der Legionäre) begangen, doch was hat es überhaupt damit auf sich? Ich möchte versuchen, es zu erklären.

Geschichte
Im Sommer 1941 eroberte die Wehrmacht das Gebiet der „Lettischen Sowjetrepublik“, wie Lettland unter der 1. Okkupation durch die UdSSR genannt wurde (s. Bericht Im Okkupationsmuseum). In vielen Städten bildete man zunächst Polizei-, Selbstschutz- und Ordnungsdienst-Bataillone als Hilfstruppen und für Polizeiaufgaben im Hinterland. Doch nach der Niederlage in der Schlacht von Stalingrad wurde beschlossen, die militärische Kapazität Lettlands zu nutzen. Im Februar 1943 befahl Hitler die Aufstellung einer lettischen SS-Freiwilligenlegion. Letten wurden aufgerufen, sich dem deutschen Krieg gegen die Sowjetunion anzuschließen und viele kamen dieser Aufforderung gern nach. Sie hatten die Hoffnung, mithilfe der Deutschen die Sowjetunion endgültig von Lettland fernzuhalten und nach dem Krieg ihre Unabhängigkeit wieder herstellen zu können und zu dürfen. Später handelte es bei den Angehörigen der Freiwilligenlegion aber nicht mehr nur um Freiwillige, denn dann unterlagen alle lettischen Männer der Wehr- und Arbeitsdienstpflicht. Zur Kennzeichnung trugen die lettischen SS-Männer ein Hakenkreuz am rechten Kragenspiegel sowie die lettische Fahne am linken Ärmel.
Insgesamt standen ca. 160.000 Letten während des Krieges in deutschen Diensten. Die meisten von ihnen gehörten zu eben dieser Freiwilligenlegion der Waffen-SS, ob freiwillig oder zwangsverpflichtet. Zwei lettische Divisionen, die 15. Waffen-Grenadier-Division der SS (lettische Nr. 1) und die 19. Waffen-Grenadier-Division der SS (lettische Nr. 2) waren am Nordflügel der Ostfront eingesetzt. Die 15. Division wurde im Juli 1944 zerschlagen, wieder neu aufgestellt und in Pommern vernichtet. Die 19. Division kapitulierte im Kurlandkessel und geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft, wo etwa 25 Prozent von ihnen umkamen. Den Überlebenden wurde nach der Strafe oder Amnestie die Rückkehr nach Lettland erlaubt, allerdings galt eine ehemalige SS-Zugehörigkeit als Makel, der einem beruflichen Aufstieg im Weg stand.
Die „Lettische Legion“ war für zahlreiche Operationen der Vernichtung der Bevölkerung auf den Territorien Lettlands, Russlands und Weißrusslands berüchtigt. Die Einheiten wurden für Massenerschießungen und zur Bewachung von Todeslagern und des Konzentrationslagers in Salaspils eingesetzt.

Gegenwart
Seit der Erneuerung der Unabhängigkeit Lettlands 1991 werden die „Legionäre“ von vielen als Freiheitskämpfer (gegen die UdSSR) angesehen und geehrt. Der 16. März, an dem 1944 die beiden lettischen Divisionen im selben Frontbereich kämpften, wird nun als Leģionāru piemiņas diena (Gedenktag der Legionäre) begangen. 1998/1999 war er sogar offizieller Gedenktag, musste aber auf Druck Russlands aufgehoben werden (man beachte schließlich die Gräueltaten der lettischen Legion gegen die russische Bevölkerung). Obwohl der 16. März kein offizieller Gedenktag mehr ist, zogen heute dennoch zahlreiche lettische Veteranen der Waffen-SS trotz internationaler Proteste durch Riga. Mit dem Marsch und einer Kranzniederlegung gedenken sie der rund 140.000 Letten, die im Zweiten Weltkrieg an der Seite Hitler-Deutschlands gegen die Sowjetunion kämpften. Erst gestern hat ein Gericht die umstrittene Kundgebung erlaubt. Damit hoben die Richter das von der Stadtverwaltung verhängte Verbot wieder auf (Zur Information: Der Bürgermeister Rigas ist Lettlandrusse.).

Was ich heute und in den letzten Tagen hauptsächlich mitbekommen habe, ist die Tatsache, dass dieser Gedenktag die lettische Bevölkerung spaltet. So waren auch heute entlang des Gedenkmarsches vom Dom zum Freiheitsdenkmal unzählige Gegendemonstranten mit teilweise sogar recht fragwürdigen Symbolen und Fahnen. Ein riesiges Polizeiaufgebot schützte beide Seiten voreinander. Doch ich hatte das Gefühl, dass die meisten Rigaer auch nur von außen das Geschehen beobachteten, so wie ich mit Kamera bewaffnet.

Interessant zu diesem Thema ist ein Artikel aus der Lettischen Presseschau.

Russisch-orthodoxe Christi-Geburt-Kathedrale

Im Okkupationsmuseum

Obwohl der Sonntag zunächst verregnet war, wollte ich natürlich nicht tatenlos zu Hause rumsitzen. Also beschlossen Amélie und ich, ins Okkupationsmuseum zu gehen. In unseren Plan eingeweiht, schloss sich auch Bettina mit zwei deutschen und zwei lettischen Freunden an. Das Okkupationsmuseum informiert über die Besatzung Lettlands durch die Nationalsozialisten sowie die Sowjetunion von 1940 bis 1991. Es dokumentiert damit die systematische Verhinderung der nationalen Eigenständigkeit des Landes und die Verbrechen am lettischen Volk während dieser Zeit. Die Ausstellungen sind sehr interessant, allerdings  sogar für meinen Geschmack zu umfangreich bzw. zu schwere Kost. Da das Museum aber keinen Eintritt verlangt, werde ich irgendwann nochmal hingehen um mir den Rest anzuschauen. Interessant ist, dass das Okkupationsmuseum Teil des diplomatischen Protokolls in Lettland ist. So wird es häufig von ausländischen Staatsgästen besucht, wie z.B. von Horst Köhler und Angela Merkel.

Auch "Schwarzer Sarg" genannt - Das Okkupationsmuseum (r.)Denkmal der lettischen Schützen vor dem Museum

Gestern Nachmittag und Abend war ich mal auf der anderen Flussseite unterwegs, denn Amélie wohnt im Stadtteil Āgenskalns. Dort stehen noch viele alte Holzhäuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert, wegen derer Riga auch zum UNESCO-Welterbe ernannt wurde. Allerdings habe ich sie nicht fotografiert, weil es geregnet hat. Ihr müsst euch also noch etwas gedulden!

Am Freitag war ich das erste Mal in der deutschen Botschaft hier in Riga, weil ich gemeinsam mit anderen Freiwilligen von »kulturweit« oder dem Europäischen Freiwilligendienst an den von der Botschaft ins Leben gerufenen Tagen der deutschen Sprache teilnehmen werde. Wir (Botschaft, DAAD, evtl. Goethe-Institut, Zentrum für Auslandsschulwesen etc.) werden in verschiedene Städte Lettlands fahren und dort quasi Werbung für Deutschland bzw. Deutsch als Fremdsprache machen. Das bedeutet also, dass ich demnächst öfter mal auf Dienstreise sein werde, denn fünf Termine sind schon fix. Ich freu mich drauf und werde euch dann fein berichten. Los geht es am 22. März in Talsi, also in anderthalb Wochen.

Hier noch einige Fotos vom heutigen Sonntag:

Die Bremer Stadtmusikanten, gestiftet von Rigas Partnerstadt BremenPetrikirche und Roland-Statue - Symbol einer Freien HansestadtRussisch-orthodoxe Christi-Geburt-Kathedrale

Auf dem Rückweg aus der Stadt bin ich noch meine ab morgen wahrscheinlich reguläre Fahrradstrecke abgelaufen. Und siehe da, es gibt tatsächlich in Riga EINEN Fahrradweg – rot und auf der Straße aufgemalt, mit eigenen Schildern und Ampeln. Wenn ich den benutze, ist es zwar ein kleiner Umweg, andererseits ist das bestimmt sicherer als auf der Straße und nicht so nervig wie eine Slalomfahrt zwischen den Fußgängern.