Warum mache ich das eigentlich?

Tja, DAS frage ich mich schon eine ganze Weile und ab morgen gibt es kein Zurück mehr. Ich mache eine „Fahrradtour“ von Klaipėda (Litauen) nach Tallinn (Estland). 739 km insgesamt, 576 davon mit dem Rad, durchschnittlich 82 km am Tag – OHNE Training. Das grenzt schon fast an selbstbestimmtes selbstverletzendes Verhalten. Werde ich nach zehn Tagen noch sitzen können? Werde ich meine Beine noch bewegen können?
Leider kann ich euch von meinem mit Sicherheit schmerzhaften körperlichen Niedergang nicht live berichten. Ihr müsst also warten, bis ich wieder Internet habe. Das kann bis spätestens 23.7. dauern, denn nach der Fahrradkarawane – so nennt sich dieses wahnwitzige Projekt von  »kulturweit« – mache ich noch einige Tage Urlaub in Tallinn, Helsinki (Finnland), Pärnu (Estland) und beim Positivus-Festival in Salacgrīva (Lettland). Drückt mir die Daumen, dass ich heil zurück komme und Petrus Gnade mit uns hat!

Achso, warum ich das jetzt eigentlich mache, kann ich euch dann vielleicht in zwei Wochen genauer erklären… 😉

Das Mittsommerfest Jāņi

Die wohl populärsten lettischen Feiertage werden am 23. und 24. Juni begangen: Līgo bzw. Jāņi. Das bedeutet mehr oder weniger zwei oder mehr Tage Dauersaufen, wenn die zwei Tage nicht zufällig auf ein Wochenende fallen. Das ist ja leider dieses Jahr der Fall, weshalb es manche Letten vielleicht eher etwas ruhiger als sonst angehen lassen haben. Schließlich gibt es diesmal keine Puffertage, an denen man ausnüchtern könnte. Nichtsdestotrotz fand für alle in Riga gebliebenen Letten und Touristen eine riesen Party an der Daugava statt, bei der wir natürlich nicht fehlen durften. Es gab drei Bühnen mit verschiedensten Bands und DJs und dazu noch eine Fressbude neben der anderen.

Ich habe euch schonmal von den Dainas, den lettischen Volksliedern erzählt, oder?! Besonders viele von denen besingen das Mittsommerfest Jāņi und sind am charakteristischen Refrain līgo, līgo zu erkennen. Nach Überlieferungen wurde das Wort līgo vom Gott Jānis (dt. Johannes) zur Erde gebracht, um die Felder zu segnen und reiche Ernte zu bringen. Auch mein Chor hat zahlreiche līgo-Gesänge einstudiert und zusammen mit einer Band am Freitag zum Besten gegeben. Gott sei Dank durften wir die Texte ablesen, denn manche Lieder haben bis zu zehn Strophen. Ich glaube kaum, dass ich es geschafft hätte, alle auswendig zu lernen – zumal auf Lettisch. Das Konzert, Teil des Suitu-Marktes mit zahlreichen Handwerks- und Schmuckständen im Kalnciema Kvartāls, hat jedenfalls total viel Spaß gemacht, wie ihr hier sehen könnt (bitte Rechtsklick und „Link in neuem Tab öffnen“):

Līgo-Gesang

Alle Mädchen sollten/durften beim Konzert einen Blumenkranz tragen. Man kann ihn in diesen Tagen an jeder Ecke kaufen, aber eigentlich ist jede lettische Frau in der Lage ihn auch selbst binden. Ich habe meinen von Benita aus dem Chor bekommen. Es ist generell Tradition, dass sich die Frauen mit Blumenkränzen schmücken, während die Männer, die Jāņis heißen, Kränze aus Eichenlaub tragen. Jāņi ist nämlich gleichzeitig deren Namenstag. Die Kränze ahmen die Form eines Eis als Ursprung des Lebens nach. Sie sollen somit die Fruchtbarkeit der Natur widerspiegeln. Es gibt noch zahlreiche weitere Bräuche, was nach Jāņi mit dem Kranz geschehen soll, aber ich benutze ihn jetzt einfach eine Weile als Tisch- oder Raumschmuck.

Ein traditionelles Gericht des Johannesfestes ist Kümmelkäse, und dazu natürlich alus (dt. Bier). Der Höhepunkt an Jāņi sind allerdings die Johannesfeuer, welche vor Sonnenuntergang angezündet und bis zum Sonnenaufgang in Gang gehalten werden. Das Johannesfeuer wird als reinigend und für Gesundheit und Fruchtbarkeit als förderlich betrachtet. Außerdem soll es alles Übel von den durch das Feuer beleuchteten Feldern, Häusern, Menschen und Tieren vertreiben. Das ganze Johannesfest hat mich ein bisschen an die Traditionen zum Maifeuer bei uns erinnert.

Roadtrip durch Nordkurzeme

Heute wird es fast ausschließlich Fotos geben. Nur soviel: Für Samstag und Sonntag hatten Bettina, Friederike, Martin und ich ein Auto gemietet, um Nordkurzeme (dt. Nordkurland – nach dem Volk der Kuren benannt, die für ihre Beutezüge auf der Ostsee berüchtigt waren) und vor allem das Kap Kolka individuell zu erkunden. Es ist der nördlichste Punkt der Halbinsel Kurland und die Grenze zwischen Ostsee und Rigaer Bucht. Bis zum Ende der Sowjetokkupation waren große Teile von Kurzeme militärisches Sperrgebiet, weshalb die Region viele Jahre nahezu sich selbst überlassen war. Jedenfalls haben wir in den zwei Tagen vielleicht sogar mehr gesehen, als so manch ein Lette. Hier nun aber einige meiner Eindrücke vom Wochenende.

 

Auf nach Rēzekne

Gestern habe ich bewiesen, dass ich auch mal spontan sein kann. Früh gegen viertel neun entschied ich, für zwei Tage nach Rēzekne zu fahren und dort die »kulturweit«-Freiwillige Christiane zu besuchen. Zwei Stunden später saß ich im Zug!

Rēzekne ist eine kleine Stadt mit knapp 35.000 Einwohnern – die Mehrheit davon sind ethnische Russen – im Herzen von Latgale (Lettgallen) im Südosten Lettlands, fast vier Stunden von Rīga entfernt. Der Ort hat nicht sehr viel zu bieten und in anderthalb Stunden hat man eigentlich alles Wichtige gesehen. Rēzekne ist ein verträumtes Provinzstädtchen mit Charme. Leider wurde im Zweiten Weltkrieg ein Großteil der historischen Gebäude zerstört. Die auffälligste Sehenswürdigkeit ist der Alte Burgberg mit Resten der Ordensburg aus dem 13. Jahrhundert. Von dort hat man einen tollen Ausblick auf das recht sowjetisch anmutende Rēzekne, v.a. auf die katholische Herz-Jesu-Kirche (Latgale ist im Gegensatz zum restlichen Lettland nicht evangelisch). Das Wahrzeichen der Stadt ist die Freiheitsstatue „Latgales Māra“, ein Symbol für die Unabhängigkeit. Direkt im Ort befindet sich au0erdem der Kovšu-See, der momentan allerdings noch gefroren ist. Im Sommer möchte ich nochmal zu Christiane fahren, weil es im Umland Rēzeknes noch ganz viele andere Seen und eine tolle Landschaft gibt…

Bei Christiane habe ich jetzt auch endlich mal den legendären bittersüßen Rīgas Melnais Balzams (kurz nur Balzsams) probiert, einen traditionellen lettischen Magenbitter mit 45 % Alkoholgehalt. Pur schmeckt er echt gewöhnungsbedürftig, aber die Einheimischen trinken ihn oft mit Johannisbeer- oder Grapefruitsaft. Das haben wir gestern dann auch getan, aber Balzams wird trotzdem nicht zu meinem Lieblingsgetränk werden.

Heute waren wir bei Ginta, der Mentorin von Christiane und Deutschlehrerin an ihrer Schule, zum Ostereierfärben eingeladen. Wir haben die Eier erst mit Blättern, Blüten, Fäden oder Wachs verziert und sie anschließend im Zwiebelschalensud gefärbt. Jetzt habe auch ich also, obwohl „allein“ in Lettland, wenigstens ein paar hübsche Ostereier zum Frühstück. In diesem Sinne: Priecīgas Lieldienas! (Frohe Ostern!)

 

Singen verbindet

In Lettland gehört Singen zum täglichen Leben. Ich glaube, dass in kaum einem anderen Land mehr gesungen wird. Es gibt gefühlte tausend Chöre allein in Riga und mit Liedern hat die lettische Bevölkerung sogar ihre ersehnte Unabhängigkeit von den sowjetischen Okkupanten ersungen. Da ist es nur logisch, dass auch ich mir nach knapp fünf Wochen einen Chor gesucht habe. Sicherlich hatten sich einige von euch schon gefragt, wann es denn endlich so weit ist! *g*

Jetzt singe ich im Jugendchor Mūza, wobei die SängerInnen stellenweise auch über 30 sind. Jugend ist in dem Falle also ein dehnbarer Begriff. Am Mittwoch war ich zum ersten Mal bei der Probe in der Kleinen Gilde (in Riga seit dem 14. Jh. Zusammenschluss ausschließlich deutscher Handwerker) und wurde anschließend direkt dazu „aufgefordert“, beim gestrigen Konzert mitzusingen. Da konnte ich natürlich nicht nein sagen! 😉 Die Lieder waren aber auch nicht so schwe. Wir haben auch nur zwei alleine gesungen, weil noch drei andere Chöre das Konzert mitgestaltet haben. Vor dem Konzert wurden wir kostenlos mit Mittag versorgt und danach gab es noch ein geselliges Beisammensein aller Teilnehmer bei Kaffee und Kuchen – und einem Spiel, bei dem man aus Spaghetti und Marshmallows ein möglichst hohes Haus bauen sollte.

Ihr werdet euch sicherlich fragen, wie es mit der Verständigung aussieht. Im Chor ist ein Mädchen, die mal für neun Monate in Berlin gewohnt hat und daher Deutsch spricht. Ansonsten unterhalte ich mich mit den anderen auf Englisch und versuche auch manchmal einige Dinge auf Lettisch zu sagen. Wenn sich die Letten unterhalten, höre ich wiederum aufmerksam zu und versuche etwas zu verstehen. In der Probe selbst klappt das schon ganz gut, da ich zumindest die Zahlen (für Takte und Seiten) und einige andere Anweisungen wie „gerade“ schon im Sprachkurs gelernt und halbwegs verinnerlicht habe. Mal sehen, wie viel mir der Chor in den kommenden vier Monaten noch beim Lettisch lernen helfen wird…