Nach all der Zeit weiß ich kaum, wo ich beginnen soll. Ich erinnere mich kaum noch, von was ich das letzte Mal geschrieben habe, ohne nachzugucken. Ich glaube es war Mein Finnland Besuch Anfang April. Wie ich grade sehe – korrekt.
Nun habe ich also zurückzublicken auf gut 7 Wochen, die nun unmittelbar hinter mir liegen, gar nicht so einfach. Ich habe das Gefühl kaum gereist zu sein, mehr erleben hätte können und sowieso, dass die Zeit in St. Petersburg schön, aber nach fünf Monaten, Ende Juni, auch genug gewesen sein wird.
Das heißt keinesfalls, dass ich weg will, vielleicht sogar im Gegenteil, aber ich verspüre nicht mehr diese ungebrochene Begeisterung, diese (Vor-)Freude und Lebhaftigkeit in mir, wie vor und zu Beginn der Zeit hier. Ich glaube das ist normal.
Ich habe vieles zum Vergleichen, kleine Städte, große Metropolen, mittelgroße Städte, und der langfristige Anspruch an das Leben an einem Ort ist vielleicht eine Kombination aus dem besten all dieser Erfahrungen, die ich bislang gesammelt habe. Wie auch immer, es regnet grade seit 2 Tagen, in mein Zimmer scheint sowieso fast nie Sonne und meine Freundin war auch noch nicht hier, vielleicht sehe ich Dinge einfach etwas pessimistisch. Gehen wir mal davon aus.
Doch es gibt einen besonderen Grund, von dem ich ausgehe, dass er den Hauptanteil an meiner etwas gedrückten Lage hat. Das Leben eines Austauschstudenten an der St. Petersburger Universität für Wirtschaft und Finanzen macht faul. Punkt. Zugegeben, ich war in der jüngeren Vergangenheit nie der aller strebsamste Student oder Schüler, ich ließ mich gerne ablenken von spaßigeren Dingen als dem Lernen, aber hier – kaum ein Verglich. Ich versuche es möglichst objektiv zu formulieren und es zu sagen wie es ist. ‘Lassen Sie es mich Ihnen erklären’:
Von meinen zwölf Kursen, welche ich hier belegt habe, erinnere ich mich an vier bewusst, die wirklich gut waren. Sicherlich gab es weitere zwei die auch nicht schlecht waren. Aber grundsätzlich entspricht die Qualität der Lehrinhalte hier nicht dem Hochschulniveau, das Studenten in vielen Europäischen Ländern geboten wird. Nichts desto trotz sind die Vorlesungen teilweise sehr interessant, weil nicht selten das pikante zwischen den Skriptzeilen vorgetragen wird. Die Einstellung Russischer Universitätsprofessoren zur eigenen Kultur, zu fremden Kulturen, Selbstverständlichkeiten und Sichtweisen, die aus Aussagen ersichtlich werden. In dieser Hinsicht bin ich durchaus positiv überrascht. Überwiegend Meinungen die nicht von Staatschefs vorgegeben zu sein scheinen, aus deutscher Sicht offene, ja sogar selbstkritische und –ironische Sichtweisen. Für viele Deutsche dürfte das neu sein, Russen als offen Denkende. Aber kommen wir nicht vom Thema ab.
Das eigentliche Problem sind die Prüfungen. Klausuren oder Präsentationen. In der Regel besteht die Prüfungsleistung am Ende einer Vorlesungswoche (eine Woche lang dasselbe Fach, am Ende Prüfung) aus einer Gruppenpräsentation vor der Gruppe. Russische Unis lieben Präsentationen scheinbar, womit ich meine, dass in Russland viel Wert auf gute Fähigkeiten zu präsentieren gelegt wird. Evtl. gibt es Bedarf dazu, weil dies in Russischen Schulen vernachlässigt wird (im Gegensatz zu Schulen in Deutschland).
Trotzdem gibt es auch schriftliche Klausuren, welche in der Regel ohne Einsicht in die Lehrunterlagen zu absolvieren sind. In Heilbronn bereite ich mich stets widerwillig aber am Ende meist doch mehr oder weniger gewissenhaft darauf vor. Hier auch. Nicht.
Die Klausuren hier werden nicht wie in Deutschland durch den entsprechenden Dozenten, beaufsichtigt, sondern durch einen Vertreter des International Office, des Internationalen Büros. Dies ist ein junger Mann oder eine junge Dame, die nicht mit dem Fach vertraut und auch nicht interessiert ist an dem, was während der Klausur im Raum passiert. So besteht die Klausurvorbereitung nicht darin zu lernen, sondern darin sich bis Klausurbeginn die Vorlesungsmaterialien zu beschaffen, um aus diesen in der Klausur zu profitieren. Cool, oder? Mies, oder?
An dieser Stelle bin ich noch nicht sicher, ob ich diesen Beitrag so veröffentlichen sollte. Aber ich gebe lediglich wieder, was ich hier erlebe. Und beschweren will ich mich eigentlich nicht. Wobei?
Der hier geschilderte Sachverhalt macht tierisch faul. Nicht nur was Vorlesungen betrifft, sondern auch allgemein. Ich denke ich bin nicht der einzige, dem es hier so geht im Moment.
Ich schreibe und schreibe und werde nicht konkret über erlebtes. Das soll sich nun ändern.
Ich war in Murmansk! (Betonung auf dem ‘U’!) Ich hatte ein wunderbarbar-erlebnisreiches langes Wochenende in der nördlichsten Groß- und Russischen Helden-Stadt der Welt, zu verdanken habe ich das Nastya, einer Freundin aus Murmansk, die in St. Petersburg studiert und vor einem Jahr ein Auslandssemester an meiner Hochschule in Heilbronn gemacht hat. Sie hat mich mitgenommen und mir eine eigene, supercoole Wohnung (die Eltern ihrer Freunde gehört) gefunden und mir alles gezeigt. Ihre Familie, die Stadt, die Geschichte der Kola-Halbinsel, das Nachtleben mit ihrem Bruder und seinen Freunden, die Sehenswürdigkeiten und dass diese unter Russen eher als öde empfundene Stadt alles andere als langweilig ist! Es ist eine bunte Industriestadt. Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg von den Nazis und ihren Verbündeten umstellt, es gelang ihnen aber nie, in sie einzudringen. Zu dieser Zeit war Murmansk mit der dort bis heute stationierten Nordmeer Flotte strategisch enorm wichtig, als einziger im Winter eisfreier Hafen und Zugang zur Barentssee – dank Ausläufen des Golfstroms. Mich faszinierte als Kind des Ruhrgebiets und Liebhaber großer, mächtiger, vor allem eiserner Bauwerke die Russische Atom Flotte und die dazugehörigen Eisbrecher. Zu Gesicht bekam ich allerdings ‘nur’ den ersten jemals gebauten und mittlerweile stillgelegten Eisbrecher „Lenin“. Beeindruckend.
In einer netten, atmosphärischen Bier Bar in der Stadt verlebten wir einen besonders interessanten Abend. Es gab ein Programm welches mit verschiedenen Spielen Gäste einbeziehend durch den Abend führte, bei welchem ich als Deutscher bei jedem Spiel mit dabei war. Jaja, es war echt richtig lustig.
Wie angekündigt, wird es in diesem Beitrag keine Bilder geben, diese werde ich aber in ein paar Tagen in einem separaten Artikel nachliefern. Die Spannung steigt. Vor allem weil es wie immer wunderschöne Fotos sind. So richtig tolle.
Meinen Geburtstag am 20. April haben wir mit vier weiteren Jubilaren der Woche mit 100 Austauschstudenten auf einem großen, gemieteten Boot auf der Neva gefeiert. Zwar wusste kaum einer von meinem Geburtstag an entsprechendem Tag, aber trotzdem war es eine nette Feier.
Neben dem nächsten großen Ereignis, dem Tag des Sieges am 9. Mai, gab es natürlich jeden Tag Erlebnisse. Geburtstage, Abende im Wohnheim mit anderen Austauschstudenten, in meiner Lieblingsbar, mit Freunden auf der Suche nach verlassenen Industrieanlagen oder ähnlichem, auch Versuche Dächer durch offene Dachböden zu besteigen und so weiter. Viel zu vieles um alles ausführlich zu schildern. Aber Fotos folgen.
Am Tag des Sieges im großen vaterländischen Krieg schließlich, dem wichtigsten Feiertag in Russland, gab es zwei Paraden. Eine Militärparade, welche recht mager war, verglichen mit der erwartungsvollen Menschenmenge, und eine Parade von Veteranen und Angehöriger vom im Krieg Gefallener. In Russland sind im 2. Weltkrieg übrigens etwa 25.000.000 (25 Mio.) Menschen ums Leben gekommen. Diese Parade war sehr beeindruckend und teilweise schien es, als wolle sie kein Ende nehmen. Kaum vorstellbar, und trotzdem musste ich daran denken, dass einer der Erinnerten vielleicht einen meiner Urgroßväter erschossen hat. Das aber nur im Hintergrund, der Respekt überwog.
Besonders interessant war ein Erlebnis, welches ich schon vor beginn meines Aufenthalts in dieser Stadt hoffte machen zu können. Ein wenig ungewöhnlich und außergewöhnlich, andere würden sagen Quatsch oder doof, jedenfalls so, wie ich es gerne mache. Nach einzigartigem streben vielleicht.
Mein Vorhaben war gewesen, mit einem Russisch Muttersprachler in ein russisches Altenheim zu gehen, dort Senioren solch fortgeschrittenen Alters zu suchen, dass ich mich mit ihnen über die Zeit der Besetzung Leningrads unterhalten kann. Das fand ich doch sehr interessant, von einer solch langen, harten und unvorstellbaren Zeit berichtet zu bekommen. Fernsehen und Berichten konnte man zwar Informationen abgewinnen, so richtig überzeugte mich das aber nicht.
Eines Tages offenbarte ich mein Anliegen Nastya, die mich recht schnell aufklärte und meinem Bestreben Ernüchterung folgen lies. Solche Altenheime gebe es hier gar nicht. Veteranen würden vom Staat unterstützt und lebten in eigenen Wohnungen. Wir diskutierten lange.
Aber dann, als wir Pläne für den Tag des Sieges machten, sagte sie mir, dass es oft in den Tagen vor dem 9. Mai sogenannte Veteranentreffen gebe, bei denen die Überlebenden aus der Zeit der Belagerung berichteten. Sie fragte, ob ich mitkommen wolle, und ich sagte natürlich sofort zu.
Einige Tage vergingen bis Nastya mir schrieb und sagte, dass sie bald zu einem Veteranentreffen gingen. Ich kam dann zum Treffpunkt, beteiligte mich an einer Präsenttüte und folgte einer kleinen Gruppe Russischer Studenten durch den St. Petersburger Regen, unwissend, wohin genau. Was würde mich erwarten? Welche Form hätte solch ein Treffen? War ich willkommen? Erleichtert war ich, als mir empfohlen wurde besser kein deutsch zu sprechen, nicht besonders. Ich war ja nicht Schuld an dem was passiert ist in der Geschichte. Wieso sollte ich meine Herkunft verbergen? Gemischte Gefühle.
Auf dem Weg stellte sich heraus, dass die Gruppe Russischer Studenten (mit mir 5), Teil einer Art Geschichts-AG waren und in der Zeit vor dem Tag des Sieges Veteranen in ihren Privatwohnungen besuchten um ihnen Gesellschaft zu leisten, ihren Geschichten zu lauschen und besser zu verstehen, was Geschichtsbücher eben nicht vermitteln können. So war es auch an diesem Tag. Nach einigen Versuchen fanden wir das Richtige Wohnhaus in dem die Wohnung des Dame war, die wir besuchten.
Eine sehr alte und überwältigte Dame öffnete uns die Tür, und begann nach der Übergabe der Präsenttüte sofort an zu erzählen, unter Tränen. So standen wir etwa 15 Minuten zu fünft im Eingangsbereich und lauschten. Ich verstand einiges, anderes wurde mir später von Nastya übersetzt. Es war ein einzigartiges Erlebnis. Es hat mir viel gegeben, mehr als die vielen Dokumentationen und Berichte im Fernsehen, es war so viel echter. Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Chance bekommen habe.
Ich sagte übrigens gar nichts, fast wie alle anderen, außer „Guten Tag“ und „Vielen Dank und alles Gute“ auf Russisch.
Am Tag nach dem 9. Mai war ich mit einem guten Freund aus Ungarn im ca. eine Stunde entfernten Pavlovsk, einer Stadt in welcher ein großer Zarenpalast und ein noch viel größerer enormer Park zu finden ist. Nach Tagen in der Großstadt fällt der frische Duft des Waldes und der Wiesen besonders gut auf.
Zu einer Entdeckung, die ich mit dem gleichen Freund und zwei Freundinnen aus Murmansk machte, welche mich besonders begeistert, gehört die Sky Bar im obersten Stockwerk einer St. Petersburger Hotels. Ein atemberaubender Blick auf die Stadt, den Hafen, den Sonnenuntergang und all das zu erschwinglichen Preisen. Perfekt.
In einer freien Woche, war ich bin vor vier Tage in Deutschland. Erst ein paar Tage in München bei meiner Freundin, dann zum 50. Geburtstag meiner Mutter in Mülheim und wiederum anschließend noch einen Tag (Wandern) in (bei) München. Hier war besonders das Wiedersehen mit meinen Eltern, gefolgt von einem feuchtfröhlichen Grillabend bei meinen Großeltern, gefolgt von einem feuchtfröhlichen Wiedersehen mit einem meiner besten Freunde in Dortmund, gefolgt von einem verspäteten späten Frühstück bei meinen anderen Großeltern ein Highlight. Und der Geburtstag an sich natürlich.
Nun sitze ich wieder hier in St. Petersburg in meinem Wohnheimzimmer, es Regnet seit zwei Tagen und ich habe Lust auf Sommer, WM, meine vielen Gäste die ich im Juni hier erwarte, Dario! Eltern! the hammer! und auch Deutschland, wenn mein Visum am 30.06. abläuft. Und jetzt erstmal auf Schlaf.
Grüße aus Russland und beste Motivation an alle Leser!
Philipp Palm