Heimat
Gott, ich liebe dieses Wort.
Heimat braucht nichts. Kein Satzzeichen oder Wörter um sich herum.
Keine Schnörkeleien.
Es steht für sich alleine.
Muss es auch –
Weil es von uns selbst automatisch gefüllt und beladen wird,
sobald wir es sehen.
Heimat ist in uns.
Ich habe in den letzten Monaten unendlich viel über Heimat gelesen, gesprochen, intensive Gespräche geführt und mich mit den unterschiedlichsten Lebensauffassungen der Befragten auseinandergesetzt. (An dieser Stelle auch schon mal ein herzliches Dankeschön für eure eifrige und bemühte Teilnahme an meiner Befragung. Über eure interessanten Antworten berichte ich im nächsten Artikel)
Circa 250 Menschen habe ich (bisher) befragt, wie sie Heimat definieren oder woran sie bei dem Begriff Heimat denken.
Menschen, die weit weg sind von „Zu Hause“ oder hier leben; Menschen die mir fremd sind oder vertraut. Ich habe viel mehr Antworten eingeholt, als ich für mein Vorhaben gebraucht hätte – und das Absurde daran?
– Ich kann es immer noch nicht lassen! Kann nicht aufhören.
Dieses Thema macht süchtig. Ich werde wohl mein Leben lang nachfragen.
Es ist schon erstaunlich, was dieser Heimatbegriff im Menschen freisetzt. Wie viele Verbindungen an dieses bedeutungsschwere Wort gekoppelt sind, für jeden von uns.
Heimat hat fast schon etwas Magisches.
Sobald ich beginne, mit den Menschen intensiver darüber zu sprechen, schweift ihr Blick in die Ferne, die Augen verändern sich…
Die Frage nach Heimat macht etwas mit uns, vor allem bei den Intensivinterviews habe ich das gemerkt: Keiner der Teilnehmer konnte die Frage direkt und ohne zu zögern beantworten.
Oder um es mit den Worten von Orhan Pamuk auszudrücken: „Wenigstens einmal in unserem Leben geraten wir ins Nachdenken, mit der Folge, dass wir die Umgebung, in die wir geboren sind, einem prüfenden Blick unterziehen.“
Die Stirn der Befragten legt sich in Falten, die Augen huschen umher und auf einmal verschwinden meine Gesprächspartner in einer anderen Welt: „Oh, bei der Frage muss ich jetzt kurz überlegen“, erklären sie mir. Aber sie überlegen laut; sie überlegen lange. Tauchen ein in eine Welt, die kaum zu verbalisieren oder zu vermitteln ist. Sie öffnen sich mir – einer wildfremden Person – ohne es zu merken und fangen an, ihre Lebenslinien auf den Tisch zu malen. Erst vorsichtig und zart, weil sie sich in dem Thema zurechtfinden müssen. Harmloses Gekritzel. Ich schaue zu, frage nach. Schrittweise verlässt sie ihre Zaghaftigkeit. Sie werden sich sicherer. Das Krakeln wird zum Malen, zum Zeichnen und schließlich zu einem bewussten zielgerichteten Auftragen. Hochkonzentriert. Sie verlieren sich in den Farben, in den Abzweigungen, in den (Lebens-)Linien, stützen ihren Kopf ab, so schwer ist er vom Denken geworden.
Schließlich werden die kräftigen Farben herausgeholt. Alle tun es irgendwann, räuspern sich für die letzten und ausdrucksstärksten Züge des Gesprächs. Am Schluss müssen die Befragten den Stift mit beiden Händen umgreifen, so dick meißeln sie mir ihre Biographie in den Tisch. Dick aufgetragen – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Nähe, Fremde, Reisen, zu Hause, Ferne – alles wird hervorgeholt durch dieses Heimatphänomen.
Ich höre zu, lausche, beobachte. Stunden. Sie werden heiser, verlieren ihre Stimme.
Am Ende starren wir zusammen auf das „(Lebens-)Werk“ – auf das was gesagt wurde – ihre eigene biografische Landkarte. Völlig ausgelaugt und erschöpft sitzen sie mir gegenüber. Es wird still. Die letzten Wörter stehen noch im Raum. Ich packe sie schnell ein, bevor sie mir nicht mehr greifbar sind, bedanke mich – überladen – für das Gespräch, und schalte das Aufnahmegerät aus: „Nein, ich muss mich bei dir bedanken: Danke!!!“, antworten die Interviewten, immer noch gefangen in diesem magischen Moment.
Ja, die intensive Beschäftigung mit der Heimat hat etwas Magisches.
Ein Zustand der Satisfaktion.
Welche Auffassung von Heimat mir selbst nach all diesen zahlreichen Intensivgesprächen und Kurzbefragungen geblieben ist?
Hmmm…ich dachte, die EINE Heimat gäbe es nicht; ich dachte, Heimat wäre etwas Dynamisches. Während der vielen Gespräche und Beobachtungen aber, hatte ich meine persönliche Ansicht irgendwo auf der Reise liegen gelassen – musste mich richtig zwingen, diese wiederzufinden.
Was ist Heimat? Ist es bloß eine leere Worthülse? Eine geographische Gegebenheit?
Ist sie ein abstraktes moralisches Symbol oder eine konkrete geographische und kulturelle Gegebenheit?
Ich wusste es nicht mehr, so voll war mein Kopf.
So muss Nietzsche sich also gefühlt haben, als er nach der ersten Schopenhauer Lektüre „einige Zeit wie im Rausch“ herumgetappt ist:
“Ich habe Schopenhauer gelesen, jetzt muss ich erst mal wieder davon freikommen.“
Er wusste, wie gefährlich es werden kann, wenn die Lebensansichten anderer, die über ganz unterschiedliche Erfahrungen verfügen, zwischen sich selbst und seine eigene Aufassung geraten. Mein Rausch ist zwar noch nicht vorbei, aber meine Auffassung von Heimat habe ich mir zurückerobert, nachdem ich aus der Flut von Gesprächen wieder benommen herausgetaumelt bin.
Das Thema hat mir nicht nur schwere Türen geöffnet, sondern auch geholfen, Gespräche auf eine Ebene zu bringen, die ich mit fremden Menschen so schnell nicht erreichen würde – wie eine Brücke, die mir die Befragten sauber und vorsichtig vor ihrem Selbst ausbreiten und mich einladen, hineinzukommen – einzutreten in ihre unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Ich und der Welt, ihrer Sehnsucht und Vergangenheit.
Heimat ist für mich deswegen eine sehr machtvolle und starke Kategorie der Identität und somit einer der vielen Schlüssel zum Inneren des Menschen.
Der Begriff hat meines Erachtens auch eine sehr starke imaginäre Komponente: Heimat muss man sich aneignen, im wahrsten Sinne er – f a h r e n.
Und wenn man bei dieser Einordnung bleibt, ist die Erfahrung von Heimat infolgedessen weniger an einen geografischen Raum als vielmehr an ein bestimmtes, globales Gefühl gebunden und umfasst Lebensbereiche, die im Persönlichen, wie im Gesellschaftlichen ihr greifbares Dasein übersteigen.
Ein Gefühl, das sich erst entwickeln kann,
wenn man sich selber kennt und wenn man IRGENDEINE
Form der
Entwurzelung
bereits durchlebt hat.
Grossartig, liebe Pia!
Habe mich selbst schonmal mit dem Thema befasst (befassen müssen?!) und hätte es so nicht auf „Papier“ bringen können!
Weiter so!
Katrin
Liest sich sehr schön. Ich bin gespannt auf deine Masterarbeit, die ich ja wahrscheinlich irgendwann mal lesen darf. Parallel kannst du dann ja auch eine Version für den Massenmarkt schreiben…
Hi Pia,
Ich bin ziemlich beeindruckt!
Wann kommt das alles als Buch?
HDL
Paps