Divers[c]ity

20 07 2010

Ich sitze im Flugzeug. Die Sonne geht auf. Die meisten Passagiere um mich herum lesen Zeitung oder schlafen. Ich gucke entspannt aus dem Fenster. Meinem vietnamesischen Sitznachbarn fällt gerade die Tageszeitung aus der Hand. Er schläft, den Mund weit geöffnet und den Kopf gefährlich nah an meiner Schulter. Ich lächle. Ich bin müde, aber glücklich. Genau das macht es ja auch-  neue Kulturen, neue Stadt, neues Land, neue Leute, neue Abenteuer – machen: müde aber glücklich.

Aber ich kann jetzt nicht schlafen. Dafür liebe ich diesen  Moment viel zu sehr. Den Moment zwischen den Räumen.  Zwischen Ausgangspunkt und Ziel. Oder sollte ich sagen: Zwischen Ausgangspunkt und Heimat?  Der Moment wo man nicht da ist wo man her kommt, und nicht da, wo man hin will. Man ist einfach nur sich selbst ausgesetzt.

In knapp 2 Stunden lande ich wieder in Hanoi. Nach 14 Tagen in Malaysia. Zwei Stunden Zeit für mich, in denen ich reflektieren kann was ich in den letzten Wochen erlebt habe und was ich dabei empfinde. Einen Moment für mich. Diese Augenblicke sind in den letzten 4 Monaten seltener geworden. Dabei sind sie mindestens genauso wichtig, wie die Zeit in Gesellschaft.

Kuala Lumpur. Malaysia. Was denke ich über die Stadt, frage ich mich jetzt, hier im Flugzeug, während mein Sitznachbar immer tiefer sinkt und die Füße schon komplett unter der Sitzreihe vor uns verschwunden sind. Ich gucke hinaus in die Wolken, muss schon die Augen zusammenkneifen, weil die Sonne bereits wacher ist, als ich es vermutet hätte.

Kuala Lumpur hat auf den ersten Blick alles, was Hanoi nicht hat. Diese Stadt ist einfach.  „Asia Light“ nennt man sie liebevoll im Traveller-Jargon. Hier ist es nicht so „exotisch“, nicht so „schwierig“ und herausfordernd für den Touristen aus dem Westen. 

Alle sprechen Englisch, alle sind das multikulturelle Aufeinandertreffen im Alltag gewohnt. Die Stadt hat sich als neuste südostasiatische Industrie-Metrolpole entwickelt. Schicke und unübersichtliche Einkaufsmalls reihen sich im Zentrum nebeneinander, die alles bieten was der westliche Shoppingfreak sich vorstellen kann, und eigentlich noch viel mehr. Die Petronas Twin Towers recken sich mit ihren 452 Metern weit über das Geschehen hinaus und prägen seit 11 Jahren das komplette Stadtbild. Wo immer man gerade steht, blitzen sie aus irgendeinem Winkel hervor und erinnern daran, welches Tempo sich Kuala Lumpur gesetzt hat. Im Gegensatz zu Hanoi findet man hier ganz schnell mal eine elegante Bar, teure Luxus-Hotels und öffentliche Verkehrsmittel wohin man auch guckt und geht. Der restliche Verkehr fließt auch überwiegend, es gibt Verkehrsregeln, die sogar eingehalten werden. Doch Kuala Lumpur ist nicht nur schick, neu und modern –

Kuala Lumpur ist und bleibt die Hauptstadt von Malaysia, auch wenn das schnell vergessen werden kann, wenn man sich einreiht in das urbane Alltagsgeschehen der Metropole.

Zwischen all den neuen Gebäuden und der neuentstehenden schicken Szene bleibt das Alte, bleibt das Traditionelle, bleibt das Dreckige, das Verborgene und das Chaotische – Das was Asien ja eigentlich ausmacht. Das was man in kein System und in kein Regelwerk eingliedern kann, weil es wild, gesetzlos und frei sein will.

Das multikulturelle Malaysia  wird durch die vier größten Bevölkerungsgruppen im Land mit kultureller Vielfalt versorgt: Die Malaien (50,4%), die Chinesen (23,7%), die indigenen Völker (11%) und die Inder (7,1%).

Sie alle tragen ihre eigene Religion, ihre eigene Kultur, ihre Lebensvorstellungen, Produkte und kulinarische Besonderheiten mit in das Land hinein. An jeder Ecke spürt sieht und riecht man diese drei großen unterschiedlichen Einflüsse. Das Angebot ist riesig, die kulturelle Vielfalt unüberschaubar und oft so vermischt und verzweigt, dass man aus dem Staunen nicht mehr rauskommt:

„Wie toll das ist, dass diese drei Kulturen hier so friedlich unter dem modernen Dach der Großstadt zusammenleben“,

hört man die Touristen staunen. So dachte ich auch. Bis ich mich mit Einheimischen zusammengesetzt habe und etwas sensibler für das Bild der Stadt, die Stimmung und das Miteinander wurde.

So „friedlich“ wie alles wirkt, ist es leider nicht…

Die Chinesen sind im Handel und Gewerbe am stärksten vertreten, sie haben meist eine sehr gute Ausbildung genossen und sind (statistisch gesehen) wohlhabender als die in Malaysia lebenden Inder und Malaien. Deswegen werden die Chinesen meist als „hyperehrgeizige“, „gierige Menschen“ bezeichnet, die  „money-crazy“ ihrem Leben hinterher laufen. Dieses Bild über Chinesen haben ich oft von Malaien und Inder präsentiert bekommen.

Die Chinesen dort wiederum wissen um ihren Status als Besserverdiener und fühlen sich als potentielle Opfer unter Malaien oder Indern aus unteren Schichten: “Du siehst drei  Menschen in einem Mercedes Benz. Eine Chinesen, einen Inder und einen Malaien. Obwohl das Auto nur schnell an dir vorbeirauscht, kannst du direkt erkennen, wer welchen Status  hat: Der Chinese in dem Auto ist der Boss (Taukeh), der Malaie ist sein Fahrer und der Inder auf der Rückbank ist der Täter, der jetzt beide ausrauben wird,“ heißt es in einem bekannten Witz unter den Chinesen.

Durch intensive Gespräche mit den 3 Nationalitäten habe ich gelernt, dass die meisten Chinesen den Indern am wenigsten trauen und ihnen eher kritisch und vorsichtig gegenübertreten: „Not to be trusted and relied on because they have no sense of loyality. And all these Indian Problem-Makers have an alcoholic problem. “

Durch all die negativ geladenen Meinungen voneinander, bestehen die meisten Beziehungen und Freundschaften nur innerhalb der eigenen Nationalität. Auch die Religion, die Lebensansichten und dem persönlichen Lebensstandart scheint es für die meisten einfacher, sich in „ihren Kreisen“ zu bewegen. Natürlich gibt es Ausnahmen, belehrt man mich. „Wann denn?“, möchte ich wissen.

Die Antwort kommt direkt und nüchtern, ist aber leider wahr: „When Money and struggle is not there, people tend to see beyond their colours. But once there is poverty, people tend to move their own way.”

Als zusätzliche Komplikation kommt der Islam als vorherrschende Religion der Malaien (Muslime) hinzu. Das bedeutet die Einhaltung muslimischer Vorschriften, die sich beim Essen, in der Kultur, bei Freizeitaktivitäten, der Kleidung (70% der Malaysierinnen tragen Kopftuch), oder der sozialen Rolle der Frau wiederspiegeln und sich weit von den Lebensgewohnheiten von andersgläubigen Unterscheiden und somit neuen Abstand zu den Nicht-Muslimen in Malaysia aufbauen. Unterstützt wird das von der islamisch ausgerichteten Regierung. Das alles ist natürlich nicht automatisch die Basis für einen zukünftigen Islamstaat oder Gewalt, aber diese Situation verkleinert in jedem Fall den Spielraum für demokratische (Reform-islamische) Kräfte.

Und das alles zusammen gibt Kuala Lumpur irgendwie etwas Unvereinbares:

Alt und neu,

modern und traditionell, indisch chinesisch und malaysisch. Geordnet und doch chaotisch, offen für jeden, und doch unüberschaubar und ein so großes Angebot, dass jeder zufrieden wieder nach Hause fahren könnte. Aisa Light. Und wenn ich am Anfang davon sprach, dass Kuala Lumpur alles hat, was Hanoi nicht hat, dann will ich mit dieser Auflistung eigentlich nur auf eine Sache hinaus:

Kuala Lumpur hat kein Gesicht. Städte die mir gefallen haben ein Gesicht, bestimmte Züge die ich mit nach Hause nehme, Eigenarten, Charaktereigenschaften und Besonderheiten die diese Stadt zu dieser Stadt machen. Ich habe Kuala Lumpur lange angeguckt. Lange beobachtet und tief in die Augen geschaut. Zu Beginn meiner Reise, kurz vor meinem Abflug, während des Zwischenseminars, zusammen mit anderen, alleine für mich, zusammen mit Fremden und Hand in Hand mit Einheimischen oder auf touristischen Pfaden.

Das Gesicht habe ich nicht entdecken können. Kuala Lumpur will einfach zu einfach zu sein, zu viel bieten, alles haben und alles können wollen und das alles unter ein Dach hauen. Es funktioniert nicht. Kuala Lumpur will genau das zu sehr, was Hanoi so irgendwie gar nicht will. Und dabei bemüht sich diese Stadt zu stark, dass sie ihren Charakter verliert, so wie das Menschen leider auch ist, die es jedem Recht machen wollen und jedem gefallen müssen.

Ich frage mich also: Was ist typisch für die Stadt? Was bleibt mir als „typisch“ in Erinnerung? Was hat mich geprägt? Die Zeit hat mich geprägt, nicht der Ort. Die Inhalte des Zwischenseminars, die interessanten tollen Menschen die ich kennenlernen durfte, die Unternehmungen mit ihnen und den Einheimischen.

Kuala Lumpur hat also auch genau das nicht, was Hanoi so sehr hat. Gesicht und Charakter.

Um das Land in all seinen Zügen kennenzulernen, wollte ich  nach dem Zwischenseminar auf Reisen gehen und habe mir mit 3 anderen Kulturweifreiwilligen die Westküste Malaysias angesehen.

Nach einer Woche Zwischenseminar und Großstadt mit Bus und Schiff hinein in den Urlaub, raus aufs Meer, hineinsetzen in den heißen Sand, einlassen in das sommerliche Nachtleben, ins WM-Fieber, und das alles mit Menschen, die mir vor einer Woche noch komplett fremd waren.

Genuss-Situationen, Haarsträubende Erlebnisse, Abenteuer und manchmal so viel gelacht, dass ich am Ende des Tages nicht mehr wusste, wo ich all diese Glücksmomente hinstecken soll. Es war aufregend, lustig und anstrengend: Wir haben alles gesehen, alles erlebt und alles mitgenommen, was das Land uns mit seinen großen offenen Händen entgegen gestreckt hat und haben dabei fast vergessen uns ab und zu mal kurz hinzulegen und zu schlafen. Ja, da ist es wieder, das Gefühl von dem ich eingangs sprach:

Müde aber glücklich.

Und am Ende des Urlaubs hab ich zwar immer noch kein Gesicht von Kuala Lumpur, aber immerhin habe ich Malaysia kennengelernt. Es hat mir überaus freundlich die Hand gereicht, feste und herzlich gedrückt! Ich werde zurückkehren.

Das Land hat mich neugierig gemacht, es gibt vieles was ich noch sehen und verstehen will. Aber jetzt brauche ich erst mal mein Vietnam zurück!

Ich gucke durch das Fenster und die Wolken hindurch nach unten.

Wir sind schon im Landeanflug.

Da unten liegt er. Mein guter alter Freund Hanoi. Ich freue mich schon wieder auf ihn. Auf seinen Charakter und sein Gesicht. Oft guckt er Fremde zu Anfang grimmig an, weil er es eben nicht jedem gefallen will. Aber wenn man ihn verstanden hat und bereit ist sich darauf einzulassen, öffnet er sich und wird warm und herzlich.

Kein „Asia Light“, sondern ein schwerer Charakter, den man sich erst zugänglich machen muss. Und je mehr man anfängt ihn zu verstehen, desto mehr beginnt man sich faszinieren zu lassen. Dadurch bleibt er so aufregend, so spannend. Hanoi lässt  nicht jeden einfach so in seine Arme. Man muss sich durchdrängeln und durchkämpfen.

Aber wenn man einmal drin ist, will man einfach nicht mehr weg.

Der schlafende Vietnamese neben mir wird vom Steward geweckt. Der Landeanflug beginnt, er muss sich aufrecht hinsetzten und anschnallen. Verwirrt wird er wach und wischt sich die Sabber vom Kinn. Guckt zu mir rüber. Verschämt lächelt er.

Ich nicke ihm zu, wir grinsen und schnallen uns an. Okay – es kann los gehen! Ich gucke nach unten und blicke auf die Stadt. Mein Lieber Freund Hanoi. Einen Monat haben wir uns noch zusammen. Ich weiß jetzt schon, wie sehr du mir fehlen wirst!


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3 Antworten

12 09 2010
Arne

Wow! Bin jetzt erst über diesen Blog gestoßen und find echt dass du schön schreibst. Werd wohl im Laufe des Tages die anderen Beiträge auch noch lesen.

lg Arne

31 07 2010
Hans Feyh

Hi Pia,

wieder sehr gut!!

Wann veröffentlichst Du endlich Deinen sozial-kritischen Reiseführer gespickt mit religiös- kulturellen Einflüssen die sich in der Zubereitung der Speisen widerspiegeln?

Ich würde ihn sofort kaufen!

Alles Liebe
Paps

31 07 2010
Tim

der Stewart? mensch, der flugbegleiter! 😀
schöner bericht mal wieder. 😉




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