Kinder des Westens sind materiell unbescheiden und daran gewöhnt immer alles und auf der Stelle haben und besorgen zu können, sollte es an irgendetwas mangeln. Wir – Kinder des Westens – aus einem Land kommend, was nicht nur alle Neuheiten auf dem Markt hat, sondern auch Neuheiten auf den Markt bringt. Ein Land was im endlosen Entwicklungsspurt der Welt sogar vorne mithalten kann, gebeugt und keuchend zwar, aber immerhin noch hechelnd in den ersten Reihen. …Kinder des Westens wissen, dass sie in ihrem Land behandelt, operiert und versorgt werden können. Sofort und gut. Kinder des Westens können dank der guten Infrastruktur aus Zeit Geld machen. Sie kennen keine Grenzen mehr und wenn – dann haben sie genug Macht, diese aufzuheben. Kennen keine Unterversorgung, keinen Mangel, keine Defizite.
Und eines von diesen Kindern des Westens bricht auf, auf nach Asien, dem größten Kontinent der Erde. Hinein nach Vietnam, ein Land was weder in den vordern Reihen läuft, noch sonst wo weiter hinten.
Vietnam läuft noch gar nicht. Aufgeregt und nervös steht es am Seitenrand und schnürt sich vorsichtig die Schuhe fest.
Ein Kind des Westens – mitten in Vietnam.
In einem Land, das hinsichtlich seiner wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung noch niedrigen Stand aufweist.
Ein Land, bei dem der Bevölkerungsanteil der über 65 jährigen bei nur 5,6 % liegt. Ein Land, was mich im komplizierten Notfall nicht ausreichend versorgen könnte.
Ein Land das in allem was wir kennen und für selbstverständlich halten, erst in den Kinderschuhen, mitten in der Entwicklung steckt, noch ganz wackelig auf den Beinen und alles andere als standfest. Der große Bruder China packt Vietnam zwar fest an der Hand, aber geht einen Tick zu schnell. Oft bleibt nur die gemeinsame sozialistische Gesinnung zurück, was beide Länder in Verbindung hält.
Ich hatte meinen westlich verhätschelten Kopf gerade daran gewöhnt, sich mit Südostasien und Vietnam nicht nur anzunähern, sondern richtig wohl zu fühlen.
Die Unsicherheit ging, die Anpassung stieg und ich ließ mich Tag für Tag mehr fallen, mehr auf diese völlig neue Lebensweise ein, auf diese Kultur, mit all ihren Unterschieden und Herausforderungen, auf dieses Land, mit all seinen Schönheiten und Wunden.
Ich hatte gerade die erste kleine Welle der „Kulturschockkurve“ überstanden, da setzte ich mich schon wieder der nächsten Spannung aus:
Ein 5 Tagestrip nach Hong Kong: Hinein in die drittgrößte Metropolregion der Volksrepublik China.
Das war wirklich wieder ein Schock. Anfangs machten wir Witze darüber. Wir kamen uns nämlich vor wie zwei Bauern aus dem letzten Ghetto, als wir staunend vor einem einfachen 7/11 shop standen: Die haben hier Cola. Sogar Cola in Flaschen! Guck mal, die haben automatisch betriebene Kassen und keine Holzschubladen mit Geld drin. Guck mal, die haben Bürgersteige auf denen man sogar gehen kann (in Vietnam sind die Bürgersteige zugestellt mit Kinderplastiktischen an denen Menschen ihre Nudelsuppe schlürfen, oder quergeparkten Motorbikes überall). Oder als uns eine Frau vom Flughafen zum Bus brachte und uns in einem perfekten Englisch Informationen mit auf den Weg gab. Oder als ich fast Tränen in die Augen bekam, als ich meine Lieblingskaugummis aus Deutschland entdeckte.
In Hanoi sucht man länger nach Produkten dieser Art.
Hier reihen sich die Shopping-Malls aneinander, ein Foodstore neben dem anderen. Angebote über Angebote.
Aber eigentlich war es viel mehr als ein paar flache Vergleiche. Wir waren sprachlos. Uns taten abends die Augen weh vom gucken. Wir waren total überfordert. Mit Hongkong ist jeder überfordert. Aber erst recht überfordert, wenn man aus Vietnam anreist. Es ist die schnellste, modernste und entwickelste Stadt, die ich (abgesehen von New York) in den letzten Jahren gesehen habe. Da können die alten Herren Europa oder Australien nicht mehr mithalten.
Und wir, grade frisch hineingeschlüpft in die vietnamesischen Kinderschuhe, sind natürlich direkt aus den Latschen gekippt….
Ohne zu wissen was wir tun, sprangen wir hinein, in die schnelle, glitzernd zugebaute und so überdimensionale Stadt, obwohl man wir doch vor 2 Stunden noch in Hanoi am kleinen Flugschalter standen.
Und dann fängt man an, sich auf das Neue einzulassen.
Quasi auf das Neue im Neuen.
Der kleine Trip im großen Trip.
Das Abenteuer im Abenteuer.
So wie ich in Hanoi viel über meine Heimat reflektiere, über Deutschland und Köln, habe ich Hongkong über Vietnam nachgedacht und verarbeitet, was ich bis dahin in Hanoi erlebt und gefühlt habe.
Erst mit dem Schritt in die Ferne kommen wir der Heimat näher, oder?
Eigentlich ist dieser Aussage keine Poetik, dieser Satz ist einfach nur WAHR! Das merke ich hier jeden Tag mehr. Und so wurde aus unseren anfänglichen Ghetto-Kulturschock-Witzen über Hanoi eine tiefe Reflektion und intensive Verarbeitung mit unserer vietnamesischen Lebenssituation für die kommenden Monate.
Wir waren in Hongkong non-stop unterwegs, haben diese Wertmetropole aufgesaugt, genossen und uns nervös hineinfallen lassen, in dieses neue paar Schuhe, was wir für fünf Tage tragen durften. Im Gegensatz zu Vietnam hat Hongkong natürlich keine Altstadt, keine historisch wertvollen Sehenswürdigkeiten. Ohne Karte und Verstand haben wir uns treiben gelassen, waren shoppen und essen, haben die Menschen beobachtet und versucht die Stadt zu berühren und in diesem schnellen Lebensfluss ein paar Bahnen zu schwimmen. Nach ein paar Zügen waren wir erschöpft von dem ungewohnten Glanz und dem Glämmer.
Wir haben daraufhin die Chance genutzt und haben Tagesausflug auf die Insel Lamma gemacht.
Einen Bootstrip entfernt wartet Strand, Palmen und das Meer auf uns. Wie mir das gefehlt hatte: Ein unverbauter, unberührter Blick, den man weder in Hanoi noch Hongkong haben kann.
Blauer Himmel, ohne Smok und Schmutz. Trekkingwege durch Wälder, barfußlaufen im Sand, immer weiter, bis man völlig erschöpft an einem Fischrestaurant direkt am Ufer endet und die letzten Sonnenstrahlen genießen kann. Das war eine aufregende Mischung.
An unserem letzten Tag haben wir Chinas Sonderverwaltungszone Hongkong verlassen und uns auf Macau erneut einen Stempel in den Pass drücken lassen.
Macau – ist eine in der Nähe von Hongkong gelegene ehemalige portugiesische Kolonie und wurde vor ca. 10 Jahren als zweite Sonderverwaltungszone in die Volksrepublik China integriert.
Alle Asiaten lieben Macau. Und entsprechend voll war es auch.
Macau ist ein einziges Kontrastprogramm.
Auf der einen Seite so simpel süß und portugiesisch, so dass man sich direkt ein wenig heimisch fühlt, wenn man durch die südeuropäisch wirkenden Gässchen schlendert und sich vor Sehenswürdigkeiten aus der Kolonialzeit fotografieren lässt.
Auf der anderen Seite wird Macau aber auch das „Las Vegas des Ostens“ genannt. Ein großer Teil der Insel ist zugebaut mit Kasinos, Hotels, Wettbuden und Vergnügungscenters, wodurch das Land sogar seinen größten Anteil des Bruttoinlandprodukts schöpft. Da stand eine Parallelwelt der anderen gegenüber. Sehr aufregend, sehr interessant, schön, neu und anstrengend.
Bevor wir uns an unserem letzten Tag in Hongkong Stadt wieder auf den Weg zu Flughafen gemacht haben, haben wir uns nach eingedeckt mit Leckereien und Kosmetik, die wir in Hanoi nicht bekommen können. Aber die Witze über uns – „zwei Bauernkinder in der Weltmetropole“ – wurden leiser. Im Flugzeug sind sie dann verstummt. Wir hatten richtig Vorfreude wieder in Hanoi zu landen, zurück nach Vietnam, zurück in die Kinderschuhe, zurück in die Stadt mit Bürgersteigen die keiner benutzen kann, in die Stadt wo oft nichts funktioniert, wo kaum einer Englisch spricht und die Menschen einen großen Teil ihrer Lebenszeit damit verbringen, hupend im Smok und Stau zu stehen. Zurück in die Stadt mit dem 100 Seen und den vielen Rückzugsmöglichkeiten. Zurück in das wilde, rauhe, unkontrollierbare Hanoi, was so anders ist, als alles was der Europäer kennt. Und so aufregend.
Zurück zum Goethe Institut, wo wir es so gut angetroffen haben, wo wir uns so wohl fühlen. Zurück zu den kulinarischen, kostbaren Genüssen der vietnamesischen Küche,
zurück zu freundlich neugierigen Menschen, zurück zu den Bretterbuden, wo man doch eigentlich alles bekommt was man zum Leben braucht, sobald man den westlichen Wohlstandsoptimismus abgelegt hat. Das was immer nur funktioniert, ist schließlich kein Abenteuer, keine Herausforderung mehr, oder?
Auf dem Rückflug ist mir bewusst geworden, wie sehr ich Hanoi lieb gewonnen habe. Und das ich sogar Sätze gebildet habe wie: „Boar freu ich mich gleich auf zu Hause und meine Bude!“ –
Vielleicht ist das Reisen oft nur ein Fort sein. Und aus dem Dasein wird ein Dort sein?
Dieser Trip war unglaublich. Und sehr wichtig. Oona und ich haben viel darüber gesprochen, wie wir uns fühlen in Hanoi, haben reflektiert, philosophiert und Vietnam neu verstanden. Gleichzeitig haben wir einen aufregenden Geschmack probieren dürfen. Denn Hongkong schmeckt ganz anders als der Rest von Südostasien. Schmeckt modern und neu und schnell und berauschend. Voller Kontraste.
Und was ist mit dem Geschmack der Heimat, fragt ihr euch jetzt.
– Tja, – der schmeckt wahrscheinlich immer dann am Besten, wenn man von der Fremde kosten darf!!!









Toller Artikel, Liebes!
Bützje aus der Heimat nach Hanoi!