Ein mysteriöses „hello!“

18 03 2010

„Hello!“ Immer wieder und an jeder Ecke, ob auf dem Fahrrad, zu Fuß, laufend, nachts oder tagsüber. „Hello!“ rufen die jungen Vietnamesen mir zu. Erst kam ich mir vor wie ein Außerirdischer, der von den Erdbewohnern freundlich kontaktiert wird. Nun bilde ich mir ein, dass die Menschen hier jedem Weißen einfach mit der englischen Sprache verbinden und die Chance ergreifen wollen (mittweile glaube ich: sie müssen – es ist ein innerer Zwang) ihr erlerntes (meist auf „hello“ begrenztes) Englisch auszuspucken, bevor der weiße Mensch wieder außer Hörweite ist.

Ob dieses „hello!“ jetzt freundlich klingt oder irgendwie überzeugend und auffordernd, kann ich nicht sagen. Genauso wenig kann und will ich sagen, ob die Vietnamesen grundsätzlich freundlich, offen und hilfsbereit sind, oder berechnend, profitgierig und egoistisch. Jeden Tag meine ich, eines besseren belehrt zu werden und werde heraus gerüttelt aus den Schubladen, die ich grade gebastelt hatte. Zum Glück. Hier kann man eh nichts in Schubladen stecken. Aber probieren tun wir Menschen es ja doch immer wieder, als kläglichen Versuch, uns zu orientieren und an irgendeinem zusammengeklebten System festklammern zu können.

Ich weiß noch nicht wie die Vietnamesen drauf sind. Ich weiß auch immer noch nicht, was sie von uns Westlern halten. Eigentlich stehe ich ständig in einem Konflikt: Da wäre zum Einen das Bezahlen. durch den ständigen Austausch mit meinem vietnamesischen Arbeitsumfeld weiß ich mittlerweile, wie viel ich für 3 Mangos auf der Straße bezahlen muss, oder für die 10 minütige Xe Om (KICK!) Fahrt vom Goethe Institut zu meiner Wohnung.

Teil meines Zimmers

Versucht man mir den Touristentarif aufzuzwängen, wehre ich mich und fange an zu handeln. Wenn ich aus dieser Operation als Gewinner heraus gehe, bin ich stolz und fühle mich „richtig“ behandelnd, da ich ja schließlich kein Tourist hier bin, sondern Expat. Dieses euphorische Gefühl wird dann wenig später überschattet von einem schlechten Gewissen: Pia – wie kannst du es wagen in dieser Situation zu handeln? Diese 30 cent hättest du ja jetzt wohl großzügig dazugeben können.

Somit bin ich eigentlich stündlich was anderes. Mal ein Tourist, mal ein Bürger dieser Stadt, mal Zielobjekt, mal „ein guter Mensch“. Das kann sehr anstrengend sein. Weil man sich selbst doch so gern irgendwo zuordnen möchte. Manchmal habe ich das Gefühl, wir Westler können niemals Teil der vietnamesischen Kultur werden. Egal wie lange und intensiv man hier lebt. Die Sprache, das Aussehen, die Lebensweise. So viele Steine liegen auf dem Weg der Annäherung. Gestern habe ich nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag eine kleine Fahrradtour zum Westlake gemacht. Es ist der größte See in Hanoi und liegt im Norden der Stadt, mit einer Fläche von 538 Hektar – 30 km wenn man einmal rum will. Früher hatten die Könige ihre Sommerpaläste hier und heute wohnen die Schönen und Reichen an diesem riesigen See.

Westlake, erste Begegnung

Westlake, Promenade

Feriendorf-Kulisse

Es wurde langsam dunkel und ich wollte einfach nur mal eben raus und Ruhe. (vietnamesische Arbeitsatmosphäre hat einen sehr hohen Geräuschpegel!) In Hanoi kannst du aber nicht mal eben “ raus und „Ruhe“.

Der schnellstmögliche Fluchtversuch ist da der Westlake. Ich bin immer weiter an dem Ufer entlang gefahren. Es ist wie eine endlos lange Promenade, die vorbei an touristischen Bistros und Märkten immer ruhiger und authentischer wird, bis man nur noch Vietnamesen sieht, die ihre heiße Kartoffel am Stand kaufen, einen Milchshake schlürfen und auf das Wasser schauen. Ich war total begeistert und wollte gar nicht mehr runter vom Rad. Mit jedem Meter mehr wurde es ruhiger und realer und sanfter. Fast wie die Kulissen eines französischen oder italienischen Urlaubsdörfchen. Schließlich erreichte ich einen Abschnitt auf der Uferstraße, wo sich heimlich die jungen vietnamesischen Pärchen zum Knutschen treffen (öffentlich ist das für Vietnamesen verboten in ihrem Land, es sei denn man ist verheiratet) und die Nachtangler ganz entspannt mit großer Ausstattung im Wasser standen. (@David, wenn du zu mir kommst: in zweifacher Hinsicht also ein Spot für uns :->) Da bin ich dann abgestiegen und habe einfach nur genossen. Und gerade in dieser friedlichen Situation kam mein Konflikt wieder hoch:

Angler im Westlake

Wieso kann ich mir jetzt nicht einfach die Jeans hochkrempeln, mein Fahrrad an die Palme lehnen und hingehen zu dem Angler im Wasser und fragen: „Hey mate, how it all going? Any big draft today?“ – Aber ich kann nicht. Er versteht mich ja nicht. Und ich ihn nicht.

The Big Draft

Ich bleibe stumm, gucke ihm von oben zu, nichts weiter als ein entfernter (weißer) Zuschauer. Dumb as an oyster, um bei der Sprache des  Anglers zu bleiben… Genau deswegen, kommt man hier an den Tellerrand und macht ganz neue Reiseerfahrungen. Grenzen. Nicht nur Grenzen der Kommunikation! Genau deswegen bin ich zurzeit (besonders in der Startphase) eigentlich sehr froh, von einem relativ stabilen, westlichen Netzwerk umgeben zu sein. Habe ich mich doch auf den Reisen davor immer fluchtartig aus dem Staub gemacht, sobald ich meine Sprache gehört habe, gibt es hier oft Momente, wo mein Landsmann das einzige ist, woran ich mich in der Fremde festhalten kann. Das sich bestimmt noch etwas stabilisieren, aber jetzt zu Beginn bin ich dankbar für die Goethe-Institut-Situation.

Tja – nun sind wir nicht viel weiter mit meinem „Hello!“, was? Ihr wartet immer noch geduldig auf eine Antwort. Ich werde euch leider in den kommenden sechs Monaten niemals sagen können, wie dieses „hello!“ gemeint ist. Freundlich? Gehässig? Gastfreundschaftlich? Rau? Es hängt nicht nur von dem Sprecher ab, sondern auch von mir, dem Empfänger: Hängt ab von meinem Konflikt, meiner Stimmung. Expat? Tourist? Backpacker? Arbeiter auf Zeit? Was bin ich hier? Wer bin ich hier? Was werde ich sein in diesem unglaublichen Land, in dieser wilden Stadt?

Aber eines aber kann ich euch sagen: Dieses „hello!“ klingt unglaublich neugierig. Und das bin ich auch. Jeden Tag aufs Neue. Na also – wieder eine Gemeinsamkeit mehr.

Ein altes vietnamesisches Sprichwort sagt: „Wer mit Schale und Essstäbchen umzugehen versteht, weiss auch mit Worten umzugehen.“ Vielleicht kommt das ja mit den Worten noch. Mit den Stäbchen klappt es jedenfalls, solange ich bei der vietnamesischen Küche bleibe. Bisher stürze ich mich jeden Tag aufs Neue hinein in die kulinarischen Höhepunkte dieses Landes. Aber der Heißhunger auf meine westlichen Lieblingsgerichte der Komfortzone kommt bestimmt noch. Bis dahin übe ich fleißig weiter –

Pho Bo, traditionellstes Gericht und Lieblingsessen in Vietnam

– mit Stäbchen, mit der Nudelsuppe zum Frühstück, mit dem Austesten meiner Grenzen, mit der Sicht über den Tellerrand hinaus, mit meinem Status in diesem Land, mit dem neugierigen „hello!“ und … mit den vietnamesischen Worten … bis der Tag kommt…

an dem ich es nicht mehr aushalte ohne mein Müsli :->


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4 Antworten

9 04 2010
Muck

also die Fotos von den Anglern sind ja mal der Wahnsinn! 🙂

22 03 2010
André

Wirklich ein paar schöne Bilder!

Und Nudelsuppe zum Frühstück… Mjam, mjam!!

20 03 2010
David

Hey Pai,

schöne Bilder! Teilweise alles etwas diesig – ist das da oft so? Sehr schön, wie du alles beschreibst!

Ich knutsch dich – auch in der Öffentlichkeit 😉

18 03 2010
Sina

„Reisen ist leben, wie Leben Reisen ist!“

Das hört man in deinen Erzählungen und sieht man in deinen Bildern – echt toll!

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