Zeitreisen

Wer sich mit dem Kaukasus beschäftigt, wird unausweichlich mit dem Begriff der politischen Sezession konfrontiert. In keinem anderem Teil der Erde finden sich auf so kleinem Raum derartig viele separatistische Bewegungen, die mehrere gewalttätige Konflikte zur Folge hatten. Interessante kulturelle Einblicke sind auf diesem Terrain undenkbar. Das georgische Tuschetien belehrt Besucher jedoch eines Besseren.

Lada Niva vor zerklüfteter Kulisse

Lada Niva vor zerklüfteter Kulisse

„Mindestens 200 Lari, also über 80 Euro, kostet die Fahrt nach oben. Die Straßen sind vom Schmelzwasser beschädigt und mit Schlaglöchern übersät. Ohne Allradantrieb kommt man da nicht weit,“ erklärt der sonst sehr wortkarge Wascha, Fahrer eines bekannten sowjetischen Allradfahrzeuges namens Lada Niva. Nicht viel für die Strecke, doch zu viel für uns. Als Alternative bleibt nur die Ladefläche eines der wöchentlichen Versorgungsfahrzeuge am Folgetag. Doch Wascha muss herauf, denn sobald die kurze 3-monatige Saison der tuschetischen Schafhirten beginnt, zählt jeder Tag. Das drückt den Preis.

Das Dorf Omalo in Tuschetien

Das Dorf Omalo in Tuschetien

Nur von Ende Juni bis Anfang September ist der 2950 m hohe Gebirgspass befahrbar. Dazwischen versinkt der zu Sowjetzeiten errichtete Verbindungsweg zwischen dem Winterlager Alwani und dem größten tuschetischen Dorf Omalo unter einer meterhohen Schneedecke. Eindrucksvoll offenbart sich schon nach wenigen Kilometern, warum der Kaukasus Jahrhunderte als Hort von Sagen und Mythen galt: Steile und spitze Felswände, durchzogen von hunderten Wasserfällen, bewachsen mit einer dichten Vegetation dominieren die Landschaft so stark, dass eine Erkundung des Gebietes nahezu unmöglich erscheint. Geschweige denn eine Besiedlung.

Kirche in Tuschetien

Kirche in Tuschetien

Doch die Besiedlung der entlegensten Bergregionen hatte für die Tuschen um 330 n. Chr. religiöse Gründe, denn sie konnten auf diese Weise kurzfristig einer Zwangschristianisierung durch die georgischen Könige entfliehen. Langfristig mussten sie jedoch trotzdem zum Christentum konvertierten und wurden so Teil eines georgischen Staates, zu dem die Region bis heute gehört. Ganz im Nordosten Georgiens, wo das Land an die russischen Teilrepubliken Dagestan und Tschetschenien grenzt, findet sich eine interessante Mischung aus georgischer und nordkaukasischer Kultur. Es wird z.B. sowohl die Sprache des Mutterlandes als auch das Batsische, eine nachische, also eine dem Inguschischen oder Tschetschenischen verwandte Sprache gesprochen. Bei genauem Hinschauen finden sich typische Charakteristika nordkaukasischer Völker: vereinzelte muslimische Siedlungen gehören genauso zur Region wie der Erhalt heidnischer Bräuche. So lassen sich in Tuschetien Steintürme mit einem Kristall auf der Spitze beobachten, die in ihrer Heiligkeit auf vorchristliche Religionen hindeuten. Gleichzeitig gibt es jedoch auch eindeutige Unterscheidungsmerkmale: Die Region ist im Gegensatz zu seinen nördlichen Nachbarn von Kirchen geprägt und, zu unserem Glück, befriedet.

Quelle: http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/ha/hannes-kerber/text/regular/340319.jpg

Schamil Bassajew

Dennoch finden sich auch in Tuschetien Auswirkungen der sicherheitspolitisch schwierigen Lage in Tschetschenien und Inguschetien. Nachdem die russische Armee 1999 zum zweiten Mal eine militärische Intervention zur Unterbindung der Unabhängigkeitsbestrebungen und zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus in Tschetschenien startete, mussten mehrere Tausend Flüchtlinge in die umliegenden Gebiete fliehen. Während die meisten Zivilisten nach Westen und Osten flohen, boten die südlichen Grenzregionen zu Georgien besonderen Schutz, den vor allem Rebellen in Anspruch nahmen. Unerreichbar mit militärischem Gerät konnten von dort Militäraktionen und Terroranschläge geplant werden. Somit liegt es nicht fern, dass der russische Inlandsgeheimdienst FSB sowohl den Terroristen und meist gesuchten Mann Russlands Schamil Bassajew als auch eine Reihe ausländischer, islamistischer Mudschaheddin dort vermutete. Als bekanntester unter den „Gotteskriegern“ soll sogar Osama bin Laden im großen Kaukasus Unterschlupf gesucht haben.

Quelle: http://www.abchaseti.de/Bilder/Pankisi-Tal.JPG

Die Lage des Pankisi-Tals

Das im Süden Tuschetiens gelegene Pankisi-Schlucht ist dabei zum Streitpunkt zwischen Georgien und Russland geworden. Wladimir Putin bezichtigte die georgische Regierung den tschetschenischen Rebellen in der Region Unterschlupf zu gewähren und sie von dem dort ansässigen Volksstamm der muslimischen Kisten gesund pflegen zu lassen. Während der Kriege flohen schätzungsweise 7000 Tschetschenen in die Pankisi-Schlucht, die sich wegen der unübersichtlichen Situation in kurzer Zeit zu einem neuen Transitweg für Drogen und Waffen jeglicher Art entwickelte. Als Folge darauf stellte Putin der georgischen Regierung ein Ultimatum zur sicherheitspolitischen Klärung der Lage vor Ort und drohte bei Nichterfüllung mit einer militärischen Aktion. Der georgische Präsident Eduard Schewardnadse hatte sich jedoch bereits der USA angenähert, um im Angesicht der vielen kriminellen Aktivitäten und Sezessionskonflikte auf georgischem Territorium Militärhilfe für die jahrelang vernachlässigte Staatsarmee zu erhalten. Als Teil des Anti-Terror-Kampfes genehmigte die Bush-Administration 2002 unter der Bedingung einer „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber terroristischen Rückzugsgebieten eine sofortige Finanzspritze von 64 Mio. US-Dollar für die Ausbildung und Ausrüstung georgischer Streitkräfte. Der pro-westliche Präsident Micheil Saakaschwili behielt diesen Kurs bei und kooperiert militärisch sowohl mit der EU wie auch der NATO.

Traditionelle Schäferhütte in Darklo (Im Hintergrund die Berge Dagestans)

Traditionelle Schäferhütte in Darklo (Im Hintergrund die Berge Dagestans)

Somit finden sich bis heute etwa 40 OSZE-Beobachter im tuschetischen Dorf Omalo um von dort das Pankisi-Tal mit Fußpatrouillen und Helikoptern zu überwachen. Trotz dieser militärischen Bedeutung ist das 1985 zerstörte Stromnetz bis heute nicht instand gesetzt worden. Es gibt zwar Solarzellen, die in den Häusern elektrisches Licht ermöglichen, doch ansonsten bleibt es dunkel in Tuschetien. Die raren Feldwege sind nur mit Geländewagen befahrbar und selbst Einheimische bleiben auf Distanz zu kaukasischen Schäferhunden, die schon seit Jahrhunderten die Herden vor potenziellen Feinden bewachen. Da Tuschetien jedoch gerade auf Grund dieser unangetasteten Einzigartigkeit an Attraktivität gewinnt, kann es als Reiseziel für wandersüchtige Alternativtouristen bedenkenlos empfohlen werden. Man sollte sich bloß nicht verlaufen, denn sowohl Wanderrouten wie auch Grenzen verzichten oft auf Kennzeichnung.

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