Eine gezeichnete Stadt

Noch über 20 Jahre nach dem schweren Erdbeben von Spitak sind die Auswirkungen auf den armenischen Norden unverkennbar. Ein Besuch in der gezeichneten Stadt Gjumri offenbarte das schwere Erbe des Unglücks und was Deutschland damit zu tun hat.

Die im Norden Armeniens gelegene, zweitgrößte Stadt des Landes mit dem Namen Gjumri ist von Yerevan mit dem Auto in etwa 2 Stunden zu erreichen. Die Fahrt beweiste ebenso die Eigenarten der hiesigen Straßenverkehrsordnung wie die Translation des armenischen Eigennamens „Hayastan“: das Land der Steine. Die ganze Fahrt zeichnen sich die kargen, steinigen Landschaften der nach dem höchsten Berg Armeniens benannten Provinz „Aragazotn“ vor dem Fenster ab. Dem Reiz, den Gipfel des 4090 m hohen Namensgebers zu erklimmen, lässt sich ab Juli Genüge leisten.

die zerstörte Erlöserkirche

die zerstörte Erlöserkirche

Gjumri dient den Eingeweihten als erstes Beispiel einer blockunabhängigen Zusammenarbeit. Nachdem der Erdstoß am 7. Dezember 1988 einen großen Teil der Stadt in Schutt und Asche legte, wurde erstmalig in der Geschichte der Sowjetunion eine umfangreiche humanitäre Hilfe von Staaten außerhalb des Warschauer Pakts zugelassen. Mit großem ausländischen Engagement sind so viele neue Wohnhäuser oder gar ganze Stadtteile nach polnischem, österreichischem oder schweizerischem Vorbild erbaut worden.

"Zum Gedenken an die Opfer des Erdbebens"

"Zum Gedenken an die Opfer des Erdbebens"

Auch Deutschland beteiligte sich am Wiederaufbau der zerstörten Stadt, z.B. finanzierte ein Zusammenschluss unterschiedlicher Hilfsorganisationen West-Berlins das Gästehaus „Berlin“ direkt an der Hauptstraße Gjumris. Der ehemalige stationäre Teil einer Poliklinik wird bis heute vom Deutschen Roten Kreuz e.V. betrieben. Obwohl dieser Fakt vor dem Ausflug bekannt war, geht das plötzliche Auftauchen von allzu Bekanntem schon mit einem merkwürdigen Gefühl einher. Gleichzeitig sollte das nicht das letzte Stück Heimat in Gjumri bleiben.

Die Seltenheit von Touristen in diesem Teil der Welt hat einen sehr positiven Effekt: Es führt zu einem regen Interesse und einer für europäische Verhältnisse fast suspekten Kontaktfreudigkeit. Kaum die Hauptstraße verlassen, wird man sogleich in gebrochenem Englisch oder weniger gebrochenem Russisch angesprochen, woher man denn sei, was man in Gjumri mache und wie man Armenien so finde. Auf diese Weise lernt man Arman kennen: einen Mann überaus sympathischen Mann, der 5 Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht hat und sich sogleich mehrere Stunden Zeit nimmt, uns mit Hilfe eines poetischen Deutschs die Eigentümlichkeiten der Stadt zu präsentieren und anschließend auf Rührei und Kaffee einzuladen.

Eine interessante Erfahrung, im Norden Armeniens etwas über die Vergangenheit zu lernen. Von 1988 bis 1990 ist Arman als Soldat der Roten Armee in Bernau bei Berlin stationiert. Ihm gefällt es in Deutschland. Doch währenddessen fällt in Gjumri das Haus seiner Familie dem Erdbeben zum Opfer. Er will zurückkehren, um zu helfen und zu retten, was es noch zu retten gibt. Seine Eltern wohnen in der Zwischenzeit in einem der Container, die bis heute zum Stadtbild Gjumris gehören. Er baut Häuser, für andere, und für sich selbst. Doch das Geld reicht nicht.

aus dem Fotoalbum des Gastgebers

aus dem Fotoalbum des Gastgebers

Somit fällt er die Entscheidung, nach Deutschland zurückzukehren, um Geld zu sparen. Drei Jahre arbeitet er in unterschiedlichen Jobs, lernt deutsches Bier schätzen, erhält eine Sozialversicherung, kann sich eine Wohnung leisten und auch kommunizieren, doch entscheidet sich, in die Heimat zurückzukehren. Der Freunde und Familie wegen. Je länger wir sprechen, desto mehr seiner Erinnerungen werden geweckt. Richtig lebendig wird das Gespräch allerdings erst, sobald Arman seine Fotoalben aus dem Schrank holt. Für den Kaffee jedoch, muss er Wasser im Nachbarhaus holen. Sein Container hat in den letzten 22 Jahren keinen Anschluss erhalten.

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Eine Antwort zu Eine gezeichnete Stadt

  1. Alfred sagt:

    Lieber Felix,

    ich habe gerade Deinen Artikel über Gjumri gefunden. Nach Deinen Schilderungen gehe ich davon aus, dass es Dir in dem östlichen Teil Europas gut geht. Zu Hause weiß man viel zu wenig über die Sorgen und Nöte dieser Menschen. Ich wünsche Dir unvergessliche Erlebnisse, dass Dein Hilfsangebot auf fruchtbaren Boden fällt und dass Du weiter mit offenen Augen durch die Welt gehst.

    Herzliche Grüße aus der Heimat,
    Alfred

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