Diese Nacht
Eine Überschrift, so heißt es, kann man erst über einen Text setzten, wenn dieser Text fertig ist oder man zumindest genau weiß, was er beinhalten wird, wenn man die Gesamtkomposition kennt.
Da ich weder das eine noch das andere behaupten kann, bleibt diese Überschrift leer.
Das Schreiben hat es mir angetan. Ich schreibe gerne, schreibe Briefe, schreibe Emails, Postkarten, Tagebuch, To-Do-Listen, Einkaufszettel, Artikel, fülle Blöcke, Seiten, Hefte, Bücher, Dateien, Köpfe.
Das Schreiben beginnt im Kopf. Das Schreiben endet im Kopf. Hoffentlich.
Das Rattern der S-Bahn, schwarze Tiefen im Fenster.
Neujahrsmorgen in Shanghai, kurz vor 2 Uhr. In einer Bar treffen vier Deutsche und zwei Russen aufeinander. Wir stoßen an. Ein Witz soll den russischen Humor verdeutlichen.
„Ein Russe, ein Amerikaner und ein Deutscher werden jeder alleine in ein Zimmer gesperrt. In diesem Zimmer gibt es nichts, nur vier leere Wände, den Fußboden, die Decke und eine Tür, fast unsichtbar in die Wand eingelassen. Ihnen werden zwei runde, schwere Kugeln aus Platin gegeben. Wer das beste Kunststück vorführt, wird freigelassen. Die Prüfer besuchen zuerst den Deutschen. Er wirft die Kugeln an die Wände, fängt sie wieder auf, rollt sie durchs Zimmer, nichts besonders Spektakuläres. Sie gehen zum Amerikaner. Der jongliert mit den Kugeln und veranstaltet eine Zirkus-Show. Schon besser, weiter zum Russen. Die Tür wird geöffnet, der Russe steht ein wenig schuldbewusst im Zimmer, Die eine Kugel hat er kaputt gemacht, die andere verloren.“
Es ist diese Kunst, etwas Unmögliches zu tun, etwas falsches noch dazu und trotzdem darüber zu lachen. Und zu wissen, dass es weiter geht. Ich habe viel über diesen Witz, der mehr ein Gleichnis ist, nachgedacht. Es ist diese Art von Dingen, die nicht mehr bei mir sind und es sein sollten.
Es ist dieser Humor, der mit einer leichten Traurigkeit einhergeht, einer Melancholie, in der alles höchstens normal, aber niemals gut ist.
Ich sehe es anders. Gut ist eben der Normalzustand, habe ich mir immer gesagt und den gespielten Pessimismus auf gewisse Weise lieb gewonnen.
Eine Nacht in Köpenick.
Wonach klingt sie? Nach dem Rascheln der Kleidung, wenn Menschen vorbeilaufen, dem Geschnatter von zwei Freundinnen, dem Rattern der Straßenbahn auf der Betonbrücke, dem Vorbeirauschen von Fahrradspeichen, dem Dröhnen von Flugzeugen, dem Rauschen des Windes, dem Klappern eines Plastikdeckels auf dem Asphalt, dem Klackern der Absätze.
Wonach riecht sie? Nach dem feuchten Boden und dem Gras, nach Rauch, nach der Kälte und nach dem Sommer, tiefblau und klar riecht sie nach einem Versprechen.
Wonach schmeckt sie? Nach Vergangenem, nach Vertrautem, nach etwas, das man loswerden will.
Wonach fühlt sie sich an? Nach der Weite und nach der Enge, nach der grenzenlosen Freiheit und nach Aufbruch, nach Alltag und nach Fernweh.
Wieso gehe ich nicht weg? Warum nehme ich nicht mein Geld von meinem Konto oder das Konto eben mit und gehe auf die Suche nach etwas, das Ankunft ruft? Was war richtig und wann beginnt das Leben, wie man es sich vorstellt? Warum reise ich nicht kreuz und quer, arbeite, wenn ich Geld brauche, bin umgeben von Dingen, die ich mag, lerne kennen, wer mir gefällt?
Weil ich hoffe, etwas zu finden, möglichst nah an dem, was ich schon gefunden habe. An denen, die ich schon gefunden habe. Es ist nicht viel, aber es ist genug und ich liebe jedes bisschen davon. Und alle.
Manches habe ich nicht gefunden, manches ist passiert. Auch davon will ich nicht weg.
Ich sollte alles verkaufen. Doch wo fange ich an? In allem steckt Erinnerung. Soll ich meine Erinnerung verkaufen? Oder versuchen, sie einzufangen, so klein wie möglich zu konservieren? Durch Schreiben?
Manche Erinnerungen möchte ich gerne verschenken. Aber das geht nicht und wenn es gehen würde, würde ich sie vielleicht irgendwann zurückhaben wollen. Das hoffe ich.
„Wir sehen uns in Ungarn.“
Jetzt habe ich die Überschrift. In den Texten geht es um diese Nacht. Und was ich denke, wie immer. Das war noch nie so wie in dieser Nacht. Das schreibe ich jetzt hin.
Ich habe deinen Blog von Anfang an gelesen und danke dir für jedes Wort, dass du mit den dir bekannten und unbekannten Lesern teils/geteilt hast. Deine Texte sind schön zu lesen – man konsumiert nicht nur, sondern denkt mit, da man dem Gang der Gedanken gut folgen kann.
Als du im September aufgebrochen bist, wusste ich gerade von meinem „KulturweitGlück“ und kurz nachdem ich hier in St. Petersburg angekommen war, war deine Zeit schon vorbei. So vergeht die Zeit und so geht es weiter.
Deine Texte und deine Art zu schreiben beeindrucken mich und inspirieren mich auch ein bisschen…
Bleibt nur noch zu sagen: Спасибо большое!