Shanghai Stories, Baby!

1. Februar 2012
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von Caroline Stelzer

Wie war Shanghai?
Anders, vertraut, lustig, wunderschön, aufreibend, anstrengend, atemberaubend, neu, noch tausend andere Dinge. Es ist schwer, das in Wort zu fassen, ich kann nur sagen, dass ich definitv wiederkommen werde.
Das sind die letzten vier Wochen hier in Nowo. Unglaublich, dass mein Abenteuer bald vorbei sein soll. Aber mir geht es gut.
Jetzt sitze ich hier, mit einem großen Stück Pomelo, einem Kopf voller Erinnerungen, einem Herz voller Sehnsucht, den Bauch voller Fernweh, bei -35°C und schreibe, was mir einfällt. Einige Geschichten werden kurz und andere lang sein. Einige werde ich richtig vermitteln können, andere werden für immer nur in den Tiefen meiner Erinnerung vorzufinden sein. Ich teile außerdem Fotos, die mehr erzählen, als ich kann.
Mein Tastatur wird danach kleben und ich werde ein Stück leichter sein und glücklich, etwas von den Momenten  festgehalten zu haben.
Was aber immer unbeschreiblich bleiben wird, ist das Gefühl.
Ja, ich muss unbedingt wiederkommen.
Los gehts.

Ankunft
Ich komme an, lande, bin da, nach so vielen Wochen, Tagen, Stunden, endlich. Ich tauche auf aus einem U-Bahngewirr, noch vorbei an einer Reihe an Klamottenläden, die mich auf guten chinesischen Geschmack schließen lassen. Ich schiebe einen Plastikvorhang zur Seite, und sehe endlich ein vertrautes Gesicht in dem Meer von Menschen. Reiner nimmt meinen Koffer in die pizzakartonfreie Hand und ich fahre auf der Rolltreppe ans Licht. Bäume, grüne Bäume und Palmen und Menschen und Wärme und oh, die Häuser! Die hohen Häuser! Wir gehen schnell und das wird das Tempo sein, das ist das Tempo, das Tempo, das mein Leben bestimmt. Ich staune. Ich kann nicht mehr denken. Nur staunen.

Das Drachenjahr beginnt
Chinesischer Silvesterabend, irgendwo in Pudong, Shanghai. Alle sind da: Oma, Opa, Schwiegertocher, der Sohn, andere Verwandte. Und wir.  Katharin, Reiner, Niyat und ich. Die Deutschen, die exotischen Ausländer, es ist irgendwie schick, uns dazuhaben. Alle sind freundlich und lachen viel. Extremebikingsport läuft im Fernseher des Schlafzimmers, in dem wir essen werden. Der Tisch wird gedeckt, bis er sich biegt. Fleisch, Meerestiere, Tofu, Pilze, Gemüse. Keine Beilagen, heute wird gefeiert, das Jahr des Drachen bricht an. Es kalt drinnen, wir behalten unsere Jacken und Mäntel an. Schade, ich trage extra meinen roten Minirock. Rot bringt Glück und die Wohnung ist entsprechend geschmückt. Aber noch viele andere Dinge bringen Glück: Das Wort „Fisch“ klingt im Chinesischen so ähnlich wie das Wort für „übrig bleiben“, also bringt Fisch Glück, damit man im neuen Jahr immer Geld übrig hat. Der letzte Rest Wein in der Flasche bringt dem Glück, der ihn trinkt. Mein roter Glücks-BH für 10 Yuan (1,25 Euro) bringt Glück, ebenso wie die roten Männershorts mit Drachenmotiv. Ein Löffel Reis zum Schluss des Essens bringt Glück. Mit Fleisch gefüllte Nudelteigtaschen bringen Glück, aber wirklich nur die mit Fleisch. Wahrscheinlich bringen auch die Neujahrssüßigkeiten, die Kungfu-Panda-Eistee-Trinkpäckchen, das Neujahrsfernsehprogramm und das Würfelspiel mit der hiesigen Großmutter Glück. Aber man kann davon ja nie genug haben.
Ich probiere alles, was mir in meine Essschale gelegt wird. Ob es fliegt, läuft, schwimmt, watschelt, ob es im Meer oder auf dem Land wohnt, am Ende des Abends habe ich es definitiv verspeist. Und die Reste ladylike auf den Tisch gespuckt wie alle anderen. Das wird das einzige Mal bleiben. Ich bin stolz auf mich, die ich normalerweise keine Gerichte mit Knochen oder Gräten drin esse. Richtig genießen konnte ich das Mahl allerdings nicht. Da ist mir ein Teller chinesischer Nudeln mit Fleisch und Pilzen tausendmal lieber. Wenn man anstößt, muss man übrigens das Glas leer trinken, also lieber nur zuprosten.
Wir gehen ins andere Zimmer und sehen das Neujahrsprogramm. Auftritte, Gesang, ein Kungfu-Film mit Jackie Chan in jungen Jahren. Die älteren Generationen spielen ein Spiel am blinkenden und sprechenden Würfeltisch. Wir bekommen Feigenbonbons angeboten, von denen wir uns später erzählen werden, wie wir sie unauffällig wieder losgeworden sind. Ich habe meinen in der Toilette versenkt, Katharin war genauso schlau. Das Badezimmer ist ein Erlebnis für sich. Die Hälfte des Fisches, die wir nicht serviert bekommen hatten (die untere), baumelt an einem Haken über der Badewanne, in der Plastikschalen mit Gemüse stehen.  Auf der Ablage links von mir Pfannen und Friteusen, daneben eine Haarbürste und eine Tube Creme.
Irgendwann bedanken wir uns und werden zur Metro gefahren, den Abend wollen wir am Bund, der Prachtstraße am Fluss beenden. In der Hoffnung auf ein großes Feuerwerk.
Lass es krachen im Jahr des Drachen! (http://www.youtube.com/watch?v=Stc4WmiJyzQ)

 

Die Skyline, die Stadt
Shanghai ist eine Stadt, die nicht nur leuchtet. Das wäre nicht genug für sie. Shanghai blinkt und glitzert, Shanghai wechselt die Farbe, Shanghai nimmt die seltsamsten Formen an. Shanghai braucht Aufmerksamkeit und die Bewunderung der Menschen. Die Skyline in Pudong auf der anderen Seite des Hangpu-Flusses wurde innerhalb der letzten 20 Jahre erbaut. Nicht nur darin ähnelt Shanghai mir.
Von wo kann man die Stadt sie am besten bewundern, wenn nicht von oben?
In 474 Metern Höhe vom World Financial Center, im 27. Stock von Niyats Wohnung aus, im 24 Stock vom MINT-Club, im 38. Stock von der Lounge des Marriot Hotels am People’s Square.
Der Fahrstuhl des World Financial Centers fährt so schnell so hoch, dass es David, Katharin und mir auf die Ohren drückt. Oben können wir uns kaum satt sehen  und tanzen für kulturweit bewegt an der höchstmöglichen Stelle.
Niyats Wohnung ist ein guter Ort, um die normalen Wohnviertel zu sehen und durchdringend zu spüren, dass nicht nur an Silvester geböllert wird, bis der letzte böse Geist definitiv reißaus genommen hat.
Das Mint spielt gute Musik, zieht die reichen Europäer und Amerikaner Shanghais an und überzeugt mich mit Haifischbecken und kerzenbeleuteten Waschräumen von seiner Coolness.
In die Lounge des Marriot Hotels dürfen eigentlich nur Gäste, was David, Katharin und mich jedoch nicht abhält. Mit kandierten Erdbeeren und einem gwinnenden Lächeln bewaffnet schreiten wir auf den Portier zu. Jetzt noch eins meiner wenigen chinesischen Wörter anbringen, „che-che“ fürs Türaufhalten, schon sind wir drin und haben einen fantastischen Ausblick über den ganzen People’s Square.

Das erste Mal…
… in einem Land die Sprache rein gar nicht verstanden
… zweifach Neujahr gefeiert
… Angst vor komischem Essen überwunden
… eingequetscht zwischen zwei Männern aufgewacht
… jeden zweiten Abend in einem neuen Club gewesen
… eine Nacht auf dem Flughafen verbracht
… in einem 24h geöffneten McDonalds nichts zu essen bekommen
… drinnen konstant gefroren
… richtig billig gelebt
… gesagt: „Oh, das ist ja soooooo chinesisch!“
… mich in einem Tempel drei Mal verbeugt
… einen Hund in Turnschuhen gesichtet (es waren kleine Chucks)
… so weit weg von zu Hause gewesen wie noch nie
… einen Affen an einer Leine gesehen, auf der Straße
… Frühlingsgefühle im Januar gehabt
… so viele Taschen- und Feuchtetücher für verschiedenste Zwecke in meiner Handtasche gehabt
… rote Sachen so geliebt
… jeden Tag Bubble Tea getrunken. Mit Pudding.
… eine Nackenstarre vom vielen Hochgucken bekommen
… in der U-Bahn so sehr gedrängelt
… alles, sogar Erdnüsse mit Stäbchen gegessen (daraus folgt)
… so viel gekleckert

Shanghai Nights
Shanghais Nächte sind wunderschön, mit guten Freunden erst recht. Shanghais Clubkutur kann sich sehen lassen. Ich habe das Gefühl, in der Szene nach den zwei Wochen schon richtig mitreden zu können. Der Eintritt ist meist kostenfrei, irgendwo sind immer Ladysnights mit irgendwelchen free drinks oder sonstigem Schnickschnack. Einige Clubs waren extravagant wie das MINT, andere normal wie das M2, andere berlinerisch abgewrackt wie das Dada.
Auch meine neue Kultur konnte ich anbringen, meine Freunde können jetzt alle richtig Woska trinken. Brot nicht vergessen, ihr Lieben.
Und wenn um halb zwei Uhr nachts ein fünfjähriger Junge umjubelt von Verwandten und Freunden im Windows Underground eine megakrasse Tanzshow hinlegt, kann man nur in China sein.
„No drugs, no gambling, no prostitution in Club. If we notice, we call the Police 110!“
http://youtu.be/HVykvC9wlJM

das ist das tempo
keine zeit für ganze sätze. keine zeit für großbuchstaben. ein wirbel aus erinnerungen, wenn ich nicht zugreife, ihn festhalte, ihn einfange, wird er verschwinden und nie nie wieder kommen. erinnerungen sind ein löchriges gebilde. feuerwerk die ganze nacht, jede nacht, 5 tage lang, am stärksten am 26. februar, dem letzten tag der neujahrswoche. ich bin draußen, renne von einem feuerwerk zum nächsten mit meinen beiden lieblingsjungs. wir rennen und rennen, finden eine schusslustige gruppe nach der anderen. ich schaue hoch und höher, die ohren dröhnen, die stille im haus nacher wird betörend sein. das ist krieg, sagt niyat und befördert  reiner und mich als soldaten abwechseld nach hause (woauchimmerdasseinmag) und zurück. batterien so groß wie umzugskartons, zündschnüre so kurz wie mein kleiner finger. die reste der pappe fallen vom himmel und treffen mich. wir lachen und die jungs überlegen wie immer, wie weit der nächste mcdonalds weg ist. oh diese jungs, sie kabbeln sich, sie duellieren sich, sie hassen sich, sie liebe sich. ich mittendrin, es ist wie früher. dafür bin ich hergekommen, das ist das silvester, das ist der neuanfang, den ich brauchte. nur sekt und der countdown fehlen. rush hour zum abschluss dieses tages ist perfekt. der asiate, der schwarze und ich. ich muss lachen. und auch wenn ich morgen davon geweckt werde, dass sich in dem bett, in dem ich liege, zwei jungs prügeln, wars das wert. erwachsen? was heißt das schon?


„Eine Amerikanerin!“
Ich falle natürlich auf in China, auch in Shanghai. Ich kann nicht untertauchen wie in Russland. Mein europäisches Aussehen verrät mich immer wieder. Blicke in der U-Bahn, die ich meistens mit einem breiten Grinsen beantwortete und im Tausch ein zaghaftes Lächeln erhielt, gehörten sowieso dazu. Aber auch, dass Fotos von und mit uns gemacht werden wollten oder ohne zu fragen geschossen wurden. Wie von dem niedlichen kleinen Mädchen in der Toilettenschlange hinter uns, das uns fragte, woher wir seien. Dann machte sie mit ihrem Handy Fotos von Katharin und mir und plapperte uns hüpfend alles nach. So hab ich gemerkt, dass ich viel zu viele Schimpfwörter gebrauche. „Eierkuchen“ hat die Kleine natürlich nicht nachgesprochen.
Da gab es außerdem die Gruppe von jungen Leuten, die mich an meinem ersten Tag auf meine schöne helle Haut, meine schönen Haare und meinen schönen Nagellack ansprachen. Wer hört sowas nicht gerne?
Wie ich trotzdem von mehreren Leuten für eine Chinesin gehalten werden konnte, bleibt mir ein Rätsel, war aber irgendwie schön. Außerdem wechselte ich meine Nationalität noch zu Russin, Französin, Engländerin und natürlich Amerikanerin. Ich war schließlich mit Leuten unterwegs, die verstehen, wenn fremde Leute auf mich zeigen und aufgeregt rufen: „Guck mal, eine….!“

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