Olgas Geschichte

8. Januar 2012
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von Caroline Stelzer

Wir alle glauben an die Liebe. Sagen wir. Doch wie weit gehen wir für sie? Wie unsicher sind wir noch, wenn wir uns sicher sind, sie gefunden zu haben? Wie viel riskieren wir, wie viel nehmen wir auf uns?

Das hier ist Olgas Geschichte, aber es könnte genauso gut deine oder meine sein. Sie soll uns lehren, dass nichts unmöglich ist, dass die Liebe keine Erfindung der Filmindustrie ist. Sie ist hier und dort, überall und sie kann uns jederzeit begegnen. Sie ist unüberwindbar. Wir müssen nur daran glauben.

Es begann im September vor vier Jahren. Olga war 24 und mit ihren Freundinnen in einem Nowosibirsker Nachtclub unterwegs. Zwei Männer fielen ihr ins Auge, zwei Freunde, beide älter als sie. Den einen fand sie besonders anziehend. Ihre Augen begegneten sich, er lud sie zum Tanzen ein. Erst wurde ein schnelles Lied gespielt, doch bald wechselte die Musik zu einem langsamen Song.
Igor war 36, zwölf Jahre älter als Olga. Er war in Littauen geboren und sprach deshalb perfekt Russisch. Gelebt hatte er als Seemann aber überall: in England, Irland, Dänemark. Seit zwei Jahren nun wohnte er in Magdeburg, ging einer anderen, geregelteren Arbeit nach. Für einen Monat war er zu Besuch in Nowsibirsk und traf sich von dem Abend an, als er im Nachtclub mit Olga getanzt hatte, seine restliche Zeit oft mit ihr. Es geschah nichts weiter zwischen ihnen, jedenfalls nicht körperlich, dafür aber umso mehr in ihren Herzen. Sie gingen viel spazieren, wobei ihm einmal ihre kleine Zahnlücke auffiel, das einzige, das an ihr nicht perfekt zu sein schien.
Nach seiner Abreise schrieben sie sich, sie telefonierten. Ein knappes Jahr später wollte Igor sie besuchen, musste aber aufgrund seiner Arbeit kurzzeitig absagen. Auch Olga konnte nicht weg, sie studierte noch und durfte nichts verpassen. Das war das Ende ihrer Freundschaft, so schien es. Die ständige Abwesenheit des anderen machte eine Beziehung unmöglich.
So nahm das Leben seinen Lauf. Igor heiratete, Olga find an zu arbeiten und traf sich mit einem jungen Mann. Vergessen hatte sie Igor jedoch nie. Dann, an Silvester 2010, kam eine SMS. „Ich liebe dich“, stand da. Olga bemerkte nicht die unbekannte, deutsche Nummer. Sie dachte an irgendeine alte Freundin, denn „Ich hab dich lieb“ gibt es in der russischen Sprache nicht. „Ich liebe dich auch“, schrieb sie darum einfach zurück und löschte die SMS.
Zeit verging. Im Juli arbeitete Olga gerade im Büro, ihre kleine Schwester half ihr bei Erledigungen. Plötzlich eine neue SMS: „Ich habe nie aufgehört an dich zu denken. Wie geht es dir, was macht das Leben? Igor aus Madgeburg“. Olga konnte es kaum glauben. Ihre Schwester fragte sie besorgt, was los sei, weil sie völlig verdattert auf das Handy starrte. Drei Stunden brauchte Olga in ihrem kleinen Bürozimmer, bis sie sich beruhigt hatte. Zurückzuschreiben traute sie sich nicht. Es kam weitere SMS, dann zwei Tage später der Anruf. Nein, auch sie hatte nicht aufgehört, an Igor zu denken.
Der junge Mann hatte Olga inzwischen gebeten, ihn zu heiraten. Sie waren noch nicht richtig verlobt, aber von diesem Moment wusste Olga, dass sie ihn nicht heiraten würde. Sie war nicht sein Mensch und er nicht ihrer. Sie passten nicht zusammen. Ihre Familie verstand das nicht. Es war völlig verrückt, aber der Gedanke an Igor war so präsent wie noch nie.
So trafen sie sich, auf neutralem Boden in der Türkei. Im August verbachten sie zwei Wochen in einem Haus am Meer, das Igor gemietet hatte. Igor wunderte sich, dass Olga jetzt eine feste Zahnspange trug. Sie erklärte ihm, dass sei seine Schuld. weil er sie auf die Zahnlücke aufmerksam gemacht hatte, war sie zum Zahnarzte gegangen.
Nach dem Türkeiurlaub machte Olga endgültig mit dem jungen Mann Schluss, der als einziger gewusst hatte, wo Olga ihre Ferien verbrachte. Jetzt war klar, für Olga und für Igor: Das mit ihnen war etwas ernstes.
Igor kam im Herbst für drei Wochen nach Nowosibirsk. Vormittags, wenn Olga arbeitete, besuchte er seine Bekannten und abends verbrachten sie die Zeit zusammen.
Am 25. Dezember flog Olga das erste Mal nach Deutschland und wünschte sich, sie hätte in der Schule nicht Englisch, sondern Deutsch gelernt. Sie besuchte Magdeburg, Potsdam und Berlin, feierte Neujahr nicht zu Hause, sondern mit Igor und lernte seine Freunde kennen. Ihren Freunde hatte sie gesagt, sie wäre über die Ferien zur Entspannung in Sankt Petersburg.
Ich war die erste, der sie ihre Geschichte erzählt hat. Sie musste das alles loswerden. Auf dem Petersburger Flughafen überlegte sie mit mir, ob sie nach Deutschland ziehen soll. Für immer. Igor möchte mit ihr zusammen sein, aber er möchte in Deutschland bleiben. Igor möchte Kinder, auch die hätten es besser in Deutschland, sagt Igor. Olga möchte auch Kinder, Olga möchte auch mit Igor zusammenleben. Aber ihre Familie, ihre Freunde, ihre Arbeit, ihr Leben sind hier in Nowosibirsk. Was also tun?
Vielleicht kommt Igor schon Ende Februar zu Olga Geburtstag nach Russland. Noch eineinhalb Monate Warten.
Olga weiß nicht, wie es weitergeht. Sie muss nachdenken und irgendwann eine Entscheidung fällen.  Aber sie weiß, dass sie Igor liebt.

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