„Malen nach Zaren“ – Sankt Petersburg (Teil 1)

2. Dezember 2011
von Caroline Stelzer

Tja und dann, nach langem Warten auf dem Flughafen und vielen Stücken Pizza, war ich wieder in Sankt Petersburg, 4 1/2 Jahre nach dem ersten Besuch zum Schüleraustausch im Mai 2007. Viel zu sehen bekamen wir von der Stadt aber nicht, denn nach einer sehr kurzen Nacht im Hostel „Labyrinth“ und einem gemeinsamen Frühstück mit allen Freiwilligen beim Russisch-Deutschen-Austausch im selben Haus, fuhren wir mit zwei Maschrutkas raus nach Losewo.

Und immer wieder Seminar am See...

Dieser Ort liegt zweieinhalb Stunden von Sankt Petersburg entfernt an einem See, wir waren in einem alten Pionierlager ganz für uns untergebracht. Da kam doch ein bisschen Werbellinsee-Feeling auf. Hier würden wir für zwei Nächste bleiben und Mittwoch Morgen wieder zurück nach Sankt Petersburg fahren. Die Zeit in Losewo war für den richtigen Seminarteil gedacht, bei dem wir über unsere Einsatzstellen, Projekte, Ideen und Probleme reden und uns in aller Abgeschiedenheit ausquatschen konnten. Ich habe die Ruhe eigentlich genossen, wir warne anscheinend die einzigen auf dem Gelände und nachdem wir zusätzliche Heizlüfter in den Räumen aufgestellt hatten, fühlte ich mich ziemlich wohl.

Die GUS-Freiwilligen in Losewo am See

Das Essen war auch ziemlich gut, besonders das Frühstück. So viele Blinis wie während der 10 Tage in Moskau und Piter, wie die Russen Sankt Petersburg liebevoll nennen, habe ich in den ganzen zwei Monaten hier noch nicht gegessen. Aber sie sind auch unglaublich lecker.
Unser Seminarprogramm hatten wir im Vorhinein schon zugeschickt bekommen. Montag unterhielten wir uns über unsere persönliche Situation und die Einsatzstellen, außerdem zeichneten wir unsere „Fieberkurven“ auf. Abgesehen von meinem Krankenhausaufenthalt sah meine eigentlich ziemlich gut aus. Es war schön zu hören, dass es eigentlich fast allen sehr gut in ihren Einsatzstellen und -ländern geht. Klar, irgendein Lebensbereich lässt immer Wünsche offen, aber eigentlich war nicht richtig mies. Es hat auch geholfen, sich so viel auszutauschen und zu sehen, welche Tipps und Ratschläge die anderen für einen haben oder dass es viele mit denselben Problemen oder Stolpersteinen gibt.
Der erste Abend verlief ziemlich ruhig, ich hatte mich mit Nora zurückgezogen, was echt schön war nach all dem Flugstress und den Moskauer Sehenswürdigkeiten. Am nächsten Tag nach dem beschriebenen göttlichen Frühstück, zu dem auch Eier und Orangensaft gehörten, sprachen wir über die Situation in den Einsatzstellen, machten dann einen Spaziergang am See und nach dem Mittagessen ging es um die Projekte. Mit „weltweit lecker“ bin ich schon ziemlich gut vorbereitet, viele hatten noch keine Ideen, dem wurde allerdings Abhilfe geschaffen. Am Abend wurde Ideen für einen erfolgreicheren Unterricht gesammelt und ich habe viele Anregungen erhalten, die ich an meiner 5 i, meiner Problem- und jetzt Versuchskaninchenklasse ausprobieren will, um das Lernklima zu verbessern.

 

Seminaratmosphäre

 

 
Die Nacht wurden dann zur bunten GUS-Nacht, zu der alle Fotos und Geschichten aus ihren Gastländern mitgebracht hatten und wir uns an einem reichen Büffet aus unserer Region die Bäuche vollschlagen konnten. Ziemlich geil, besonders, als Georgien feststellte, dass es eigentlich verboten ist, ihr salziges Heilwasser nach Russland einzuführen.
Am nächsten Tag ging es wie gesagt schon nach Sankt Petersburg, zurück in unser Hostel. Wir lernten russische NGOs kennen, die sich natürlich auch im selben haus wie das Hostel und der Deutsch-Russische-Austausch befanden. Wir hatten übrigens in einem Café in auch diesem Haus zu Mittag gegessen, das Haus ist echt der Wahnsinn (ein 24h geöffneter Kofe Chaus befindet sich natürlich auch dort!). Nora, Kristina und ich sprachen mit Yuri Vdovin von der Menschenrechtsorganisation „Citizens‘ Watch“ über Politik, die am 4. Dezember anstehenden Wahlen, Korruption und seinen Traum, nach Europa oder Amerika auszuwandern, den er hatte, als er jung war. Jetzt ist Yuri 72 und hat das Gefühl, das ändern zu wollen, wovon er dachte, er würde sich mit dem Zerfall der Sowjetunion automatisch ändern. Er hofft, dass das wirtschaftliche System Russlands bald zusammenkrachen wird. Angst hat Yuri keine. Er ist alt, sagt er, was soll ihm schon passieren. Uns alle drei, aber besonders Kristina, die in Kasachstan geboren ist, berührten und schockierten, was hinter der Fassade zum Vorschein kommt. Ich fühle mich nicht in der Lage, über die politische Situation zu urteilen, denn verglichen mit Belarus zu Beispiel sieht die Situation nicht schlecht aus. Allerdings auch nicht gut, es wird diese Tage auch hier in meiner Schule, wo schon die Wahlkabinen herumstehen viel über Manipulation geredet. Jedinaja Rossija (Einiges Russland), die größte Partei, soll wohl laut Umfragen knapp über die Hälfte der Stimmen bekommen. An der Richtigkeit der Wahl zweifeln viele. Neulich haben Kinder diesen Witz erzählt:
„Der Präsident ist wie die Eltern. Man kann ihn nicht wählen.“
Dass Putin Präsident wird, scheint mehr als klar zu sein, in Moskau, in Sankt Petersburg, hier.
Es war schön und erleichternd zu sehen, dass es Menschen gibt, die noch an Veränderungen glauben, die im Kleinen anfangen, die nicht aufgeben, denen es nicht egal ist. Viele dieser Menschen haben wir getroffen, viele wie Yuri. Menschen mit Ideen und Visionen, so wie die Initiatoren des Projektes „Спасибо“ (Danke), die mit 1000 Euro Budget von Freunden und Familien vor einem Jahr einen der wenigen Second-Hand-Shops in Piter aufbauten. Verdient haben sie bis jetzt nichts, nur massig Klamotten gespendet und verkauft, in diesem Dezember eröffnet aber schon die zweite Filiale. Das Second-Hand-Geschäft haben Nora, Lisa, Daniil und ich am Donnerstag angeschaut. Während wir dem Projekt nach einem Gespräch mit Shopping halfen, sprachen die anderen von uns mit der liberalen Partein „Яблоко“ (Apfel), der Gegenpartei zu Edinaja Rossiya.
Danach sprachen wir mit Nadja, einer Juristin, die an Schulen und Universitäten Olympiaden und Projekttage veranstaltet, um die jungen Leute über ihre Rechte aufzuklären.

Fortsetzung folgt…

[Anmerkung: Die Partei Einiges Russland hat fast 50% der Stimmen erhalten und damit die Mehrheit. Auf die Partei entfallen laut der Zentralen Wahlkommission 238 der insgesamt 450 Mandate in der Duma, dem russischen Parlament. Zweitstärkste Kraft wurden die Kommunisten, gefolgt von der linksgerichteten Partei Gerechtes Russland und den Liberaldemokraten des Nationalisten Wladimir Schirinowski. Alle anderen Parteien verpassten den Einzug in die Duma.
Zur Zeit finden in Moskau und Sankt Petersburg große Demonstrationen statt, den Behörden wird Wahlbetrug vorgeworfen. Es wird von bis zu 6000 Teilnehmern gesprochen. Der Wahlkampf sei durch „begrenzten politischen Wettbewerb und einen Mangel an Fairness“ geprägt gewesen, sagten die Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats.
Die Organisation Reporter ohne Grenzen schrieb in einer Mitteilung von „massiver Online-Zensur und Repressionen gegen kritische Journalisten und Aktivisten vor und während der Parlamentswahl“. Am Wahltag waren zahlreiche Kreml-kritische Internetseiten offenbar durch eine massive Cyberattacke lahmgelegt worden.

Quelle: http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-12/russland-demonstration-wahl, 06. Dezember 2011]

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