Nicht den Löffel abgeben! – Mein Krankenhausaufenthalt
Am 28. Oktober, einem Freitag, begann ganz offiziell der Winter in Nowosibirsk. Weiche, weiße Flocken fielen vom Himmel und mit dem ersten Schnee kam auch das erste Fieber.
Ich lag mit Schüttelfrost im Bett und versuchte zu leugnen, dass ich krank werden würde, denn Samstag und Sonntag wollte ich mit den Elftklässlern auf Klassenfahrt in eine Jugendherberge am Obstausee fahren, was sicherlich feucht-fröhlich geworden wäre. Außerdem gruselig, denn wir wollten Halloween feiern. Und für die Ferienwoche hatte ich auch schon einige Pläne.
Samstagmorgen ließ sich das Fieber allerdings nicht mehr leugnen. Und so verbrachte ich drei Tage lesend im Bett, während das Schneegestöber vor meinem Fenster immer dichter wurde.
Montag war das Fieber wieder sehr hoch, obwohl es Sonntag eigentlich besser war, deshalb kamen zwei Ärzte zu mir nach Hause. Ihnen erzählte ich auch von dem Durchfall, der zwar schmerzfrei, aber stetig seit Samstagabend präsent war. Wie das auch in Deutschland ist: zwei Ärzte – zwei Meinungen. Die erste meinte, ich könnte ins Krankenhaus und wollte mir noch eine Spritze gegen Fieber (?) geben. Beides lehnte ich ab. Die zweite Ärztin war der Ansicht, dass es einfach eine Grippe sei und dass mein Hals rot wäre (Ärztin Nummer 1 hingegen hatte das Gegenteil behauptet). Ich hoffte natürlich, dass ich von Husten und Schnupfen einfach verschont bleiben würde und sich die Krankheit, was auch immer sie war, mit Hausmitteln bekämpfen ließ und ich begann einfach Diät wegen des Durchfalls.
Dienstag ging es mir schon wieder richtig gut, ich war fieberfrei und ein wenig traurig, dass ich nicht durch den ersten Schnee tollen konnte und mich damit begnügen musste, in meinem Zimmer zu „Winter Wonderland“ abzutanzen.
Die Nacht zu Mittwoch war allerdings schrecklich. Ich wurde immer wieder von Bauchkrämpfen wach. Um 05:16 weckte ich schließlich Irina, die sich schon die ganze Zeit liebevoll und mütterlich um mich gekümmmert hatte. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie gemacht hätte. Sie gab mir ein Medikament gegen die Bauchschmerzen, aber wir riefen trotzdem Ludmilla und einen Krankenwagen an. Ich habe zum Glück eine Supermentorin, die morgens um halb sechs bei -10°C durch 30 cm Schnee stapft, um mir beizustehen.
Die Sanitäter kamen, untersuchten mich und wir fuhren ins chirurgische Krankenhaus hier in Akademgorodok. Ludmilla begleitete mich. Zum Glück hatte ich keine Schmerzen mehr, die Tränen allerdings hatte ich schon zu Hause nicht mehr unterdrücken können. In diesem Land in ein Krankenhaus zu kommen, das ist auch nichts, was Russen wollen. Es ist ein Land, wo es einfach nirgendwo Toilettenpapier gibt, nicht mal im Krankenhaus, wenn Durchfallpatienten eine Urinprobe abgeben sollen. Warum kann man das nicht wenigstens für die Patienten bereitstellen? Das ist doch das Mindeste. Ich denke nämlich nicht daran, eine Rolle Klopapier mitzunehmen, wenn mich die Ambulanz abholt. Zum Glück, habe ich von klein auf immer Taschentücher dabei. Danke, Mama!
Ich weinte wieder, als mir Blut von meinem Finger abgenommen wurde. Einfach, weil der Wattebausch so dreckig aussah. Ich denke, ich war fertig mit den Nerven. Es war früh, es war kalt, ich hatte nicht richtig geschlafen, ich verstand die russische Krankenschwester-Fachsprache nicht, ich hatte nicht gegessen oder getrunken und ich hoffte immer noch verzweifelt, dass man mich nicht stationär dabehalten würde.
Würde man auch nicht, jedenfalls nicht in diesem Krankenhaus. Nach einer weiteren Untersuchung und nervenaufreibendem Warten ging es weiter in einem anderen Krankenwagen in das Infektionskrankenhaus in der Stadt. Zum Glück hatte ich Ludmilla an meiner Seite.
Das Infektionskrankenhaus sah nicht aus wie ein deutsches Krankenhaus, es erinnerte mich eher an einen Tatort-Schauplatz. Gekachelte oder nackte Wände, undichte Fenster, keine Computer, Leere. Nachdem mich noch zwei Ärzte untersucht hatten, ging das Dr.-Walter-Drama los. Dr. Walter ist sozusagen unsere Versicherung und ein interner kulturweit-Scherz (WER ist eigentlich Dr. Walter?). Eigentlich ist die Versicherung die DKV. Die DKV versichert Frewillige auf der ganzen Welt. Dementsprechend ist die Versicherungspolice auf Englisch. Nicht akzeptabel für dieses Krankenhaus. Sie wollten etwas auf Russisch, denn es sprach niemand Englisch und auf der Police hätte ja sonstwas stehen können. Es brauchte Ludmilla viel Überzeugungskraft und nachdem mein „Ich glaub, ich spinne!“ von den Wänden des Krankenhauses widergehallt war und ich verärgerte Blicke der Krankenschwestern geerntet hatte, konnte ich irgendwann auf mein Zimmer. Das war gegen 12:30, also mehr als 7 Stunden, nachdem wir den Notarzt gerufen hatten.
Ich hatte zum Glück ein Einzelzimmer mit eigenem Bad, normalerweise sind 6er-Zimmer und eine Toilette pro Flur Standard. Trotzdem waren die nächste 5 Tage mit die schrecklichsten, die ich bisher erlebt habe. Ich lag noch nie in Deutschland im Krankenhaus, aber ich glaube, es gibt viele Unterschiede. Erstmal muss man natürlich sein eigenes Toilettenpapier und seine eigene Seife mitbringen. Es gab morgens und abends Brei, mittags immer Kartoffelbrei und Gemüsesuppe und immer das gleiche Graubrot, nur morgens mit Butter. Man bekam nur einen Löffel, den man die ganze Zeit behielt. „Nicht den Löffel abgeben!“, sagte deshalb meine Mutter am Telefon zu mir, als ich ihr davon erzählte. Das war das erste Mal, dass ich im Krankenhaus gelacht habe. Später bekam ich mittags auch Fleisch oder Fisch zu dem Kartoffelbrei. Wie bitte soll man ein Stück Fisch, an dem noch Schppen. Flossen, Gräten dran sind, mit einem Löffel essen???
Ich versuchte auch deutlich zu machen, dass ich Lactoseintoleranz habe und deshalb nicht so viel Brei essen sollte. Lactose ist das gleiche Wort auf Russisch, aber die Krankenschwestern taten so, als würden sie es nicht verstehen.
Ich durfte mein Zimmer nicht verlassen, ich konnte nur rumliegen und lesen. Ich versuchte mit mir selbst den Schütteltanz zu tanzen, um mich zu bewegen (mir ging es nämlich wieder gut, seit ich eingeliefert wurde), aber es war zu frustrierend. Abends sang ich mir „Lemon Tree“ vor, was mich wenigstens ein bisschen aufheiterte. Da das Krankenhaus in der Stadt lag, konnte mich Ludmilla nicht besuchen, denn sie musste viel arbeiten, aber sie und Irina riefen mich oft an. Genau wie die Versicherung, denn im Krankenhaus selbst wurde das Telefon einfach aufgelegt, wenn die Versicherungsmitarbeiter aus Englisch redeten. Also musste ich mich auch noch darum kümmern.
Ich fühle mich sehr einsam und wollte nichts wie nach Hause oder in den nächsten FastFood-Laden. Da war er also, der Kulturschock, zum ungünstigsten aller Zeitpunkte. Da musste ich durch. Hier vielen Dank an Mina, die mich mit Essen und Büchern versorgt hat, ohne dich wäre ich versumpft.
Ich habe die Minuten gezählt und mich nach Hause gewünscht, habe das Blut auf dem Bettzeug mit den bunten Fischen, dass nicht mein Blut war, ausgeblendet, genauso wie den Floh, der mich ab der dritten Nacht täglich besucht hat und 50 nette Andenken alias Stiche auf meinem Bein hinterlassen hat.
Die Ärzte waren kompetent und ich denke, der Krankenhausaufenthalt hat mir durch den Tropf und die Medikamente geholfen, gesund zu werden. Aber ich habe hier noch nie so viel geweint. Es war ätzend, ich musste da raus. Freitag war Feiertag, Samstag und Sonntag tote Hose, auf meine Fragen, wann ich entlassen würde, wurde erst Sonntagabend ohne Fragezeichen mit Montag geantwortet. Ich war so froh. Die Ursache meiner Erkrankung wurde allerdings noch nicht eindeutig geklärt. Irgendein fieses Bakterium war schuld, wahrscheinlich vom Essen aus unserer Schulmensa, nach dem es Ludmilla und noch einer Kollegin auch nicht gut ging. Ich meide die Cafeteria jetzt.
Ich möchte nicht, dass mein Russlandbild und das Russlandbild aller, die diesen Blog lesen, unter diesen Erfahrungen leidet. Ich möchte den „Ich hab es doch gewusst!“-Effekt vermeiden. Der Staat pumpt kein Geld in die Krankenhäuser, deshalb sieht alles noch aus wie nach dem Krieg. Obwohl die Ärzte qualifiziert sind, wirken die Einrichtungen nicht so. Irina und Ludmilla und allen anderen war es peinlich, wie dieses Krankenhaus aussah und alle waren schockiert von meinem flohdurchstochenen Bein.
Ich denke, es war eine Erfahrung und ich kann jetzt das Leben und den Schnee hier jetzt noch mehr genießen. Ich weiß, dass ich mich auf Ludmilla und Irina verlassen kann. Mein Lieblingssatz von Irina ist: „Weine nicht, meine Sonne, alles wird gut!“ Und das ist es jetzt wieder.
Das wichtigste ist, dass ich erfahren habe, wie sich richtiges Heimweh anfühlt. Deshalb fliege ich Weihnachten nach Hause. Dort, wo es am schönsten ist und ich auch mal den Löffel abgeben und mich zurücklehnen kann.
Kulturschock? Überwunden. Hoffentlich.

Gut, dass du zu Weihnachten herkommst!
Ich bewundere Dich, ich wäre umgekommen in dem Krankenhaus, du kennst mich ja!
Daumen hoch :)