Wusstest du schon über Nowosibirsk, dass…
… die Ernergie hier ganz nachhaltig durch das Wasserkraftwerk des Ob-Stausees erzeugt wird?
… da wo jetzt der Ob-Stausee ist, früher ein Dorf stand, dass 1957 einfach 20 km weiter nach Osten verlegt wurde?
… in Akademgorodok (meinem Bezirk) die Kriminalitätsrate viel niedriger und die Mietpreise um einiges höher sind als in der City, weil alle hier im Grünen wohnen wollen?
… die Einwohnerzahl Nowosibirsks schon an dessen 70. Geburtstag die 1-Millionen-Rate knackte (zum Vergleich: Moskau brauchte dafür 750, New York 200 und Chicago 85 Jahre), weshalb es das russische Chicago genannt wurde?
… Nowosibirsk eine junge Stadt ist, die 2013 erst 120 Jahre alt wird?
… der Unterschied zwischen der höchsten und der niedrigsten gemessenen Temperatur 88°C beträgt?
… es 13 U-Bahnstationen gibt?
… das Einkaufzentrum AURA sogar noch neuer ist als das MEGA und erst diesen Sommer eröffnet wurde?
… bis 1960 zwischen der Stadthälfte auf der rechten Seite des Ob und der Stadthälfte auf der linken Seite eine Stunde Zeitunterschied herrschte?
… auf dem Kranij Prospekt, der Hauptstraße Nowosibirsks, eine Kapelle steht, die den Längenmittelpunkt Russlands markiert?
… красный (krasniy) zwar rot heißt, früher in alt-russisch aber auch gleichbedeutend mit красивый (schön) war? Deshalb heißt die Hauptstraße nicht unbedingt „Rote Straße“, sondern „Schöne Straße“, obwohl rot natürlich besser zum Leninplatz passt.
… während des Zweiten Weltkrieges unglaubliche Mengen an Kunst und Wertvollem aus dem Westen zur Sicherheit nach Nowosibrisk gebracht und im Operntheater aufbewahrt wurden?
… es hier einen ganzen Park gibt, der dem Zweiten Weltkrieg, sowohl den Helden (343 Nowosibirsker Soldaten wurden geehrt), als auch den Gefallenen, gewidmet ist?
… hier 2 von 3 Ehen geschieden werden?
… es außerdem 300 Museen des Zweiten Weltkrieges an den Schulen Nowosibirsk gibt? Wir haben auch eine Gedankstätte in unserer Schule.
… ich hier wirklich gerne lebe?
Das alles und noch viel mehr habe ich auf meiner Exkursion erfahren, die meine Uni organisiert hat. Dazu brachen zwei Japaner, ein Chinese, eine Schweizer, ein Engländer, ein Däne und eine kleine Deutsche am Samstag im Minubus mit Fahrer auf. Erklärt wurde uns alles von einer liebe Lehrerin der Uni, die erst 23, verlobt und reisewütig war.
Mir hat gefallen, dass sie auch über die negativen Seiten Nowosibirsks und Russland gesprochen hat und überhaupt sehr offen war. „Es gibt hier eigentlich keine Sehenswürdigkeiten, weil die Stadt so jung ist. Wir fahren also nur überall rum, machen Fotos und reden über alles, was ihr wissen wollt!“
Unsere Reise begann an der Uni in Akademgorodok und führte uns nach Nowosibirsk, an die Stelle, wo neben der neuen Brücke über den Ob noch Teile der Originalbrücke stehen. Hier hatten wir auch das Glück, das erste frischvermählte Brautpaar zu sehen.
Um es nochmal klar auszudrücken: Nowosibirsk ist nicht die schönste Stadt. Es gibt kaum Historie, weil die Stadt gerade erst entstanden ist, keine Architektur. Aber als ich unter diesem grauen Himmel stand und in mir drin tiefen November fühlte, der Wind mit die Haare ins Gesicht blies, merkte ich, dass es einfach passt. Die Stadt passt zum Herbst. Der graue Stahl passt, die Wälder passen, der breite Ob passt. Jetzt muss ich nur noch passen.
Weiter ging die Exkursion zu der Kirche, die man oben im Header-Bild sehen kann. Ich bin stolz, dass ich sie nun endlich gesehen habe. Ich durfte sogar reinschauen, denn glücklicherweise trug ich einen Rock und konnte mit meinem Schal meinen Kopf bedecken. Ich mag russische Kirchen sehr, denn sie sind immer sehr bunt wegen der ganzen Ikonen und hübsch verziert.
Ansonsten haben wir noch am Leninplatz, am Zirkus und an einer weiteren, allerdings geschlossenen Kirche Halt gemacht, bevor es zum letzten Besichtigungspunkt, dem Монумент Славы, dem besagten Gedächtnispark des zweiten Weltkrieges, ging.
Dies war die beeindruckendste Sehenswürdigkeit für mich. In dem Park findet man viele Denkmäler, es empfangen einen vier reckteckige, senkrecht aufgestellte Steinplatten, jede bestimmt 8 Meter hoch. In deren Mitte steht eine ebenso hohe Staue, ein trauernder Mensch. Auf der Vorderseite sind allgemeine Inschriften zu lesen, auf der Rückseite jedoch sind die Platten dicht beschrieben, mit den Namen aller Gefallenen. Man fühlt sich sehr klein, wenn man davor steht. Es sollte nicht mein Business sein, aber trotzdem denke ich jedes Mal daran: Das war, das ist mein Land. Anderseits ist es nicht das Land, was ich Zu Hause nenne, nicht das Land, in dem ich lebe, nicht das, was man hier von Deutschland denkt. Hoffe ich zumindest, mir ist noch nichts Negatives begegnet. Ich war schon am 9. Mai, dem День Победи, in Sankt Petersburg, habe mit den Russen zusammen den Sieg über Deutschland gefeiert. Aber es sträubt sich jedes Mal etwas in mir, die Zahlen 1941 – 1945 zu lesen, sei es an einem Bus oder auf einem speziellen 10-Rubel-Stück. Für mich ist es unvorstellbar, damit etwas Positives zu verbinden. Ich konnte auch nicht recht verstehen, warum wir hier auf die zweite Hochzeitsgesellschaft des Tages trafen. Die Fröhlichkeit anlässlich der Heirat und die Erinnerung an einen so schrecklichen Krieg passen für mich nicht zusammen.
Es ist trotzdem schön zu sehen, das die Angehörigen ihre im Krieg verlorenen Familienmitglieder auch nach 70 Jahren nicht vergessen. In der Mitte der Denkmäler, wo auch die Statue steht, brennt ein ewiges Feuer, das von zwei männlichen und zwei weiblichen Soldaten bewacht wird, frische Blumen liegen dort. Die Hochzeitsgesellschaft warf Münzen ins Feuer, das soll Glück bringen, vielleicht waren sie nur deshalb dort. Die Soldaten verzogen kein Mine, als die Sektkorken knallten.
Es gibt natürlich noch andere Denkmäler im Park, zum Bespiel ein riesiges gen Himmel gerichtetes Schwert aus Sowjetzeiten oder Panzer, auf deren Schussrohren die Kinder turnten.
Auf jeden Fall für eine Menge Leute ein Ort zum Spazierengehen, obwohl mir auch in der dicksten Thermostrumpfhose, die Primark verkauft, etwas kalt war. Und mir ist wieder mal klar geworden: Auch meine Generation steckt irgendwie noch mit drin. Die Frage ist nur: Freiwillig?
