fragen und antworten

15. Oktober 2011
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von Caroline Stelzer

Es ist noch immer warm, als ich mich mit Dasha um 18:30 Uhr an der Schule treffe. Der Herbst in Nowosibirsk hält an, heute waren es 18 Grad und strahlender Sonnenschein zu wolkenlosem Himmel.
Jetzt, als die hochgewachsene Dasha wie immer mit langen Schritten und nach vorn verrutscher Brille auf mich zugeht, wird es langsam kühler. Wir machen uns auf den Weg ins Fitnessstudio.

„Dasha“, frage ich, als wir über die zwei Bahngleise steigen und die Sonne langsam untergeht, „findest du, Sibirien ist arm?“
Die Antwort kommt prompt und bestimmt. „Arm? Nein.“
„Aber eure Häuser sind nicht so schick, eure Straßen sind…“, ich zeichne mit der Hand eine Schlangenlinie in die Luft. „Du weißt, es gefällt mir hier. Aber…“, mein Russisch reicht nicht mehr aus und ich wechsle ins Englische, „you know, many people in Germany have prejudices. Sogar meine Freunde haben mich gefragt, was ich in Sibirien will.“
Dasha antwortet auf Russisch. So ist es ausgemacht.
„Du weißt doch, dass sie direkt neben der Schule das neue Schwimmbad bauen? Und die Poliklinik an der Uliza Dermakova? Die hat auch erst dieses Jahr eröffnet. In Russland hat dieser Prozess viel später angefangen, als in Deutschland oder Frankreich. Aber es gibt so viele Projekte, es wird viel getan. Wir leben in einem riesigen Land, das Klima ist extrem, natürlich kann nicht alles sofort gemacht werden, natürlich sind nicht alle Straßen neu. Aber es ist schön hier.“
„Und wenn du irgendwo leben könntest, irgendwo, wo du möchtest. Wo wäre das?
„Eigentlich würde ich lieber an einem wärmeren Ort wohnen. Ich war in Slowenien zum Schüleraustausch. Aber es war irgendwie langweilig. Wir Russen, wir rennen oft.“, sie lacht. „Wir haben gern viele Sachen zu tun, wir sind aktiv und haben immer zu viel vor. In Slowenien waren sie an der Supermarktkasse sooo langsam und wir sind immer früh ins Bett gegangen. Ich weiß nicht, das hat mir nicht gefallen. Ich weiß noch nicht, wo ich studieren oder leben möchte. Aber nicht in Moskau, da man muss für alles bezahlen, es ist sehr teuer. Ich möchte gerne mal nach Spanien, nach Malta, nach England und nach Australien. Ich muss erst reisen, bevor ich wissen kann, welche Ort mir gefallen.“

Unsere Trainerin ist heute nicht da, sagt das Mädchen an der Anmeldung. Wir haben noch eine Stunde Zeit, bevor Club Dance Mix mit Natascha beginnt. Dasha schlägt vor, spazieren zu gehen. Also gehen wir. Es ist inzwischen dunkel. Wir schlendern die Uliza Dermakova, eine der belebten Hauptstraßen entlang. An einem der vielen Supermärkte treffen wir Jana. Sie ist noch im T-Shirt unterwegs, ihre Jacke hängt lose über dem Arm, an dem sie auch ihre große Handtasche trägt. Ich erkläre, worüber Dasha und ich gerade sprechen.

„Jana, was denkst du?“
„Sibirien ist nicht arm. Wir haben alles, was du willst zum Leben. Wir haben eine gute Schule, gute Lehrerinnen, gute Kinder, ein gutes Design. Bei uns ist es gemütlich, lustig. Siehst du? Alles. Und es ist nicht wie in Amerika. Unser Matheunterricht ist gut.“
„Aber gibt es auch arme Leute?“
„Ja, gibt es, auch an unserer Schule, aber ich weiß nicht, wer.“
„Wie kann man denn Armut bekämpfen?“ Ich verstehe Janas russische Antwort nicht und Dasha schaltet sich als Übersetzerin ein. Beide sind derselben Meinung.
„Armut können nur die armen Leute selbst bekämpfen. Wenn sie in der Schule und an der Uni nicht gut lernen wollten, haben sie keine gute Ausbildung. Es ist ihre eigene Schuld, der Staat muss da nicht helfen.“

Während die Babuschkas hinter uns selbstgeerntete Kartoffeln, Kräuter und mit silbernem Zellophan umwickelte Bulmesträuße verkaufen, während der Vollmond über den Hochhäsern steht und während Menschen geschäftig an uns vorbeiziéhen, beschließen wir, ein paar Fotos zu schießen und schmeißen uns abwechselnd in Pose.
Gleich werden Dasha und ich zum Fitness gehen und uns eine Stunde lang nur auf unsere Körper und die großen Spiegel im Saal konzentrieren. Danach werde ich nach Hause laufen, dabei Musik hören und die Treppen in den achten Stock hinaufsteigen.
Was ich noch nicht weiß, ist, dass ich glücklich sein werde. So glücklich, dass ich diese Sprache spreche, so glücklich, dass ich den Menschen Fragen stellen kann.
Ich habe so viele.

2 Kommentare
  1. Profilbild
    16. Oktober 2011

    mein absoluter lieblingsartikel bis jetzt!!!! <3

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