Hallo Freunde,
morgen bricht buchstäblich meine letzte Woche in Pinsk an, dann geht es zurück nach Deutschland. Ich werde in den nächsten Tagen kaum Zeit finden, einen Blogeintrag zu verfassen, deshalb hier ein Update über die Erlebnisse der letzten 2 Wochen:
Am Donnerstag, den 08. Februar, lief die Frist für das begehrte DAAD-Stipendium ab. Dementsprechend war am Abend echt die Hölle los, und ich fand mich Mitten in ihr wieder…
20.00 Uhr: Ich lege meine Arbeit beiseite, mache mir Tee und pflanze mich samt Decke und Kissen aufs Sofa, um den Tag mit einem lässig-gemütlichen Filmeabend ausklingen zu lassen. Ich bin grade dabei, mich zwischen „Ziemlich beste Freunde“ und „Goodbye Lenin“ zu entscheiden, da trudelt die erste, harmlos wirkende Nachricht ein: „Roman, kannst du mir bitte diese Zertifikate übersetzen?“ Ich mache mich natürlich sofort an die Arbeit, aber während ich noch überlege, was bitte ein „regionaler Fest-Wettbewerb“ sein soll, kommt per Mail der erste Lebenslauf zur Korrektur rein, dann noch einer und wieder Zertifikate… Gleichzeitig versuche ich panisch aufkommende Fragen zu beantworten, und zwar simultan auf mehreren Leitungen…
21:00 Uhr: Die Leitungen glühen. Ich habe gleichzeitig 5 Tabs offen und versuche nebenbei, beschwichtigende Sprachmemos zu verfassen.
21.30 Uhr: Ich bin im Krieg. Zusammengekauert hocke ich im Schützengraben, um mich vor heransausenden Geschützladungen zu schützen. Die Zeit drängt, die ersten meiner Schützlinge fangen an überzureagieren, wenn ich nicht sofort antworten kann, Wartezeiten von über einer Minute werden mit einer Salve Frage-und Ausrufezeichen quittiert.
21.45 Uhr: Ich wage den Vorstoß zum Kühlschrank und überlebe wie durch ein Wunder, gestärkt stürze ich mich wieder ins Gefecht.
22.15 Uhr: Wie ausgemacht ruft meine beste Freundin aus Deutschland an, ich schalte alles ab und widme ihr meine Zeit.
23.00 Uhr: Im Posteingang türmen sich derweil Nachrichtenberge, nach 45 Minuten beende ich also schweren Herzens das Gespräch und mache mich wieder ans Antworten.
Mitternacht: Die Donnerstagsoffensive ist vorerst zum Stehen gekommen. Die Einzelkämpfer ziehen sich zurück, um sich ihre Wunden zu lecken; ich führe vereinzelt die letzten Nachbesprechungen.
Irgendwann nach Mitternacht: Ich erhalte euphorische Rückmeldungen, die Bewerbungsunterlagen wurden vollständig hochgeladen und erfolgreich eingereicht. Dann erreichen mich überschwängliche Dankesbotschaften und Erleichterungsbekundungen – ich vergesse alle Strapazen, denn die innigen Worte sind den mühevollen Einsatz mehr als nur wert . Die Schlacht ist gewonnen!
Am Samstag war es dann soweit – das Landesfinale im Wettbewerb Lesefuchs International stand an. Morgens um 4 wachte ich auf, zerbrach mir den Kopf bei der Frage, ob ein zerknittertes Hemd besser ist als gar kein Hemd, entschied mich für einen Pullover und saß um 5 Uhr zusammen mit meiner kleinen Schülerdelegation in der Marschrutka nach Minsk. Hatte ich anfangs Angst vor meiner Rolle als Moderator, ließ diese ziemlich schnell von mir ab, als es erst einmal losging – alles lief super, 2 Halbfinale und ein Finale später ging es dann auch schon zur Siegerehrung. Leider hat es aus Pinsk dieses Jahr niemand unter die Sieger geschafft – die Jury hat so entschieden, und ich möchte die Entscheidung so respektieren und nicht öffentlich kommentieren. Eines sei aber gesagt – ich bin verdammt noch mal stolz auf meine Mädchen, die in diesem Republikfinale mit tollen Beiträgen und einer enormen Portion Schlagfertigkeit geglänzt haben! Nach Ende der Veranstaltung blieben uns dann noch 4 lange Stunden in der Hauptstadt, die wir auf freundschaftliche Einladung unseres DSD-Lehrers hin in einem angesagten Lokal bei Bier (die Männer) und Eis (die Frauen) fristeten. Es wurde ein toller letzter gemeinsamer Abend in der Hauptstadt mit viel interessantem Gesprächsstoff, nur widerwillig verabschiedeten wir uns dann gegen 7 Uhr und hasteten zu unserer Mitfahrgelegenheit nach Pinsk.
Am Sonntag hatte ich das Glück, erneut Gast bei Polinas Familie sein zu dürfen. Nach einem köstlichen Mittagessen wurde ich zu meiner Überraschung ins Auto verfrachtet – Ziel war die Datsche der Familie in einem winzigen Dorf außerhalb von Pinsk. Doch auf halber Strecke hieß es aussteigen – der Familienvater händigte mir perfekt sitzende Langlaufskier aus, beschrieb den Weg zum Zielort und brauste davon – wir waren auf uns alleine gestellt. Ich bildete kurzerhand die Spitze des Zuges und schmiss mich gehörig in den Schnee, um den nachkommenden Frauen eine Skispur zu bilden. Schnell kamen wir ins Schwitzen, doch die Erfahrung war einfach einzigartig. Dabei muss man bedenken, dass für viele Menschen hier auf dem Land dieses unkonventionelle Fortbewegungsmittel in strengen Wintern alltäglich ist, um von A nach B zu kommen, da man zu Fuß oder mit dem Auto im Tiefschnee zu versinken droht…
Als wir endlich unser Ziel erreichten, hatte Polinas Vater schon ein Feuerchen entzündet und traditionell-russischen Schaschlik hergerichtet – diesen galt es jetzt nur noch überm Feuer zu wenden. Derweil bekam ich eine Führung durch das Haus, welches der Vater (von Beruf Lehrer) ohne jegliches Vorwissen oder Anleitung über die Jahre selbst baut. Das Haus selbst steht schon, das Dach gedeckt und Fenster eingesetzt – nur innen drinnen sieht es noch etwas aus wie in der Postapokalypse. Dennoch hat mich das Gesehene tief beeindruckt – ich mit meinen zwei linken Händen bin froh, wenn ich einen Nagel in die Wand schlagen kann – ein Haus zu bauen würde mir nicht mal im Traum gelingen… Auf Nachfrage hin erfuhr ich jedoch, dass dies hier nichts besonderes ist – das slawische Volk ist eben ein wahrer Alleskönner und weiß sich bei allem zu helfen! Hut ab!
Als der Schaschlik endlich gut war, ging es schnell wieder zurück nach Pinsk, wo er bei Wein und Gurken angemessen verkostet wurde – selten habe so leckeres Fleisch gegessen! So ließ ich den Sonntag auf bestmögliche Weise ausklingen – bei Speis und Trank mit liebevollen Menschen 🙂
Am Mittwoch folgte ich einer weiteren Einladung – diesmal zu Nastyas Familie. Ohne viele Worte zu verlieren – auch hier wurde ich herzlich willkommen geheißen, auch hier gab es Wein und Essen, auch hier habe ich mich rund um wohlgefühlt – russische Gastfreundschaft ist eben nicht nur ein leeres Wort!
Donnerstagabend kam wie aus dem Nichts die Heilsbotschaft aus Deutschland – alle, wirklich alle meine Schüler bekommen das erträumte Deutsche Sprachdiplom der zweiten Stufe verliehen, viele von ihnen sogar auf C1-Niveau. Diese Nachricht schlug ein wie eine Bombe – noch nie in der Geschichte der Schule hat ein Jahrgang so dermaßen gut abgeschnitten. In diesem Moment empfand ich einfach nur aufrichtigen und unerschütterlichen Stolz, Stolz auf MEINE Leute! Natürlich ließ ich es mir nicht nehmen, meine Schützlinge als Erster per Anruf von ihrem Glück zu unterrichten. Die Reaktionen waren es wert – erst wurde mir gar nicht geglaubt und beteuert, dass ich nur spaße oder ein Fehler unterlaufen ist, dann die Wahrheit des Gesagten realisiert und schließlich hemmungslos geweint, so glücklich und innig, dass mir vor Rührung selbst beinahe Tränen aus den Augen traten. Ein überwältigendes Freudegefühl durchströmte meinen ganzen Körper – sie haben es geschafft, WIR haben es geschafft!
Da kommende Woche einige Lehrer zu Versammlungen in eine andere Stadt müssen, gab es schon letzten Freitag eine offizielle Verabschiedung, die gemütlich in einem abgeschlossenen Klassenzimmer bei Tee und selbstgemachtem Kuchen ausgetragen wurde. Der Direktor sah kurz vorbei, um mir ganz formell die Hand zu schütteln und eine Urkunde zu überreichen, anschließend verbrachten wir eine gemütliche Stunde in vertrauter Runde, während in Erinnerungen geschwelgt sowie letzte Worte gewechselt wurden. An dieser Stelle möchte ich noch einmal sagen, dass ich den Deutschlehrerinnen am Gymnasium Nr. 2 sehr dankbar bin für ihre Offenheit und Herzlichkeit mir gegenüber, waren sie doch zu einem nicht unerheblichen Teil dafür verantwortlich, dass ich mich schnell an meiner Einsatzstelle zurechtfand und bei meiner Arbeit wohl gefühlt habe!
Um vor meiner Abfahrt noch einmal zusammen ein waschechtes Abenteuer zu erleben, habe ich am Abend darauf meine engsten Freunde in einen Escape-Room eingeladen. Schon als ich zum ersten Mal mit Erstaunen hörte, dass es in der kleinen Provinzstadt Pinsk ein solches Angebot gibt, nahm ich mir vor, dies unbedingt in einem eingeschweißten Team auszuprobieren – nun war es soweit. Diese Erfahrung war einfach unglaublich! Wir wurden in die Rolle eines Gangster Squads versetzt, welches Ärger mit dem Boss einer gefürchteten Verbrecherorganisation bekommen hat und sich schleunigst absetzen muss. Am Anfang der Quest finden wir uns in einem Verlies wieder – durch Gitterstäbe von einander getrennt, Hände und Füße mit Handschellen fixiert, Säcke über die Köpfe gestülpt. Der Countdown läuft, uns bleiben 60 Minuten, um uns aus unserer misslichen Lage zu befreien und die Anlage samt beute zu verlassen, bevor die Stunde der Abrechnung anläuft. Was darauf folgte war eine Ladung an Atmosphäre, Spannung und Emotionen – zusammen knackten wir Schlösser, öffneten Safes, manipulierten Drogenplantagen und erkundeten geheime Räume, bis uns nach 58 (!) Minuten schließlich der Ausbruch in die Freiheit gelang! Selten habe ich etwas so intensives erlebt – wir sind ein tolles Team!
Samstag stieg bei mir zu Hause eine große Abschlussparty – zwar sehe ich die Meisten noch kommende Woche, doch mein letztes Wochende wollte ich nicht ungenutzt lassen! Da mir meine belorussischen Freunde in den letzten 6 Monaten wirklich sehr ans Herz gewachsen sind, war mir der Gedanke, mich durch eine kurze Umarmung zu verabschieden, wohl wissend, dass wir uns vielleicht nie wieder sehen, einfach zuwider. Stattdessen gab es gleich zu Beginn der Party eine schön-kitschige Verabschiedungszeremonie: Zuerst ein gemeinsamer Rückblick bis zum Beginn meines Freiwilligendienstes, gefolgt von einer emotionale Zeitreise anhand vieler-vieler Fotos, selbsterstellter Memes und Screenshots; Perfektionist der ich bin natürlich in Form einer hochpolierten Powerpointpräsentation mit musikalischer Untermalung 😉 Dann wurde jedem noch ein einzigartiges, symbolisches Abschiedsgeschenk und ein Brief mich persönlichen letzten Worten und Wünschen überreicht – erst danach hatte ich das Gefühl, meinen Freunden die Anerkennung und Dankbarkeit für all die wunderschönen Momente gezollt zu haben, die sie verdienen! Jetzt wurde bis spät in die Nacht gespielt, gesungen und gefeiert – ein denkwürdiger Abend! Doch als die letzten Gäste die Tür hinter sich schlossen, überkam mich plötzlich ein bitterer Schmerz bei der Erkenntnis, dass dies mein letzter richtiger Abend mit diesen wundervollen Menschen war! Die sentimentalen Gedanken begleiteten mich tief in den Schlaf, und ich gebe zu, dass ich einfach furchtbare Angst vor dem nahenden Abschied habe…
Ein weiterer Abschied stand mir schon heute bevor, der Club „Pinsk spricht Deutsch“ veranstaltete zu meinen Ehren ein Abschiedstreffen in der Bibliothek, bei dem ich mit vielen lieben Wünschen für die kommende Zeit ausgestattet wurde. Auch diese Leute werden mir in Deutschland sehr fehlen, ich hoffe von ganzem Herzen, dass es ihnen gelingt, diesen tollen Club weiterhin aufrecht zu erhalten und bei vielen Menschen das freiwillige Interesse für die Deutsche Sprache zu wecken!
Ja, liebe Freunde, jetzt steht mir eine sehr anstrengende Woche bevor. Meine Sachen müssen gepackt, unvollendete Aufgaben zum Ende gebracht und jeden Tag emotionale Abschiede durchgestanden werden – wenn ich mich am Freitag in den Bus nach Berlin setze, werde ich zu hundert Prozent fix und fertig sein! Doch dann ist da ja noch das Nachbereitungsseminar, viele Begegnungen mit alten und vielleicht auch wieder neue Bekanntschaften, eine ausführliche Reflektion der letzten 6 Monate, und dann… tja, dann bin ich wieder da.
Machts gut und habt euch lieb – ich melde mich!
Euer Mister Romantic