Hallo Freunde,
ich bin wieder zurück in Pinsk und habe euch, wie versprochen, einiges zu erzählen:
Am Freitag, dem 10. November, stieg ich mittags mit einem vollgepackten Trekkingrucksack in die Marschrutka nach Minsk – das Zwischenseminar rief. Ich war ziemlich aufgewühlt und hatte mit durchaus gemischten Gefühlen zu kämpfen…einerseits war da natürlich die freudige Erwartung, ich würde endlich wieder andere Freiwillige treffen, und da sich als Trainer unser verehrter Homezone21-Mika angekündigt hatte, konnte es nur eine vielfältige und spannende Woche werden…andererseits waren mir meine Leute an der Einsatzstelle mittlerweile so ans Herz gewachsen, dass mich bei dem Gedanken, sie für eine Woche zurückzulassen, auch ein Anflug von Traurigkeit überkam. Aber jetzt ging es los, und es galt, einfach das Beste aus der geschenkten Zeit zu machen!
In Minsk traf ich auf meine Mitreisenden Zoe und Orscha (sorrey, Anna 😉 ), zusammen ging es erst zu Megges und dann zum Busbahnhof. Der Bus erwies sich dann als wahres Komfortwunder – extra viel Platz, superweiche Sitze, Internet und Bildschirme mit vielen Filmen, einer riesigen Musikplaylist und einigen Spielen. Ich entdeckte Inception sowie 3 Lieder in denen es um einen Roman geht; die Fahrt verging also trotz langem Stehen an der Grenze fast wie im Flug.
Morgens um 6:30 wurden wir in Kiew aus dem Bus geschmissen. Auf einmal ohne Mobilverbindung und Internet, irrten wir etwas orientierungslos herum und versuchten vergeblich, einen Eingang zur UBahn zu finden. Am Ende organisierte ich uns einen Mann mit Auto, der zwar garantiert über keine Taxilizenz verfügte, mir jedoch relativ vertrauenserweckend schien. Im Wagen wechselte der Herr uns noch schnell unsere Rubel in ukrainische Hrywnja (ich sag ja, kein echter Taxifahrer), dann ging es quer durch die Stadt zum Hostel, wo ich uns 3 einquartiert hatte. Dieses zu finden gestaltete sich nicht sehr leicht; im Endeffekt ließen der Fahrer und ich die Mädchen im Auto und machten uns zu Fuß auf die Suche. Nach 10 weiteren geschlagenen Minuten erblickten wir dann im hintersten Winkel einer verzweigten Wohnhauszufahrt ein kleines „Hostel“-Schild. Jetzt hieß es noch, der Reihe nach an allein Wohnungstüren zu klingeln, um herauszufinden, wo wir jetzt eigentlich die Rezeption anstelle von verschlafenen Einwohnern finden; anschließend wurden die Mädchen aus dem Auto geholt, dem hilfsbereiten Fahrer ein Trinkgeld in die Hand gedrückt und dann in aller Ruhe ein Tee in der Hostelküche geschlürft 🙂
Nach einem kurzen planlosen Spaziergang in der näheren Umgebung sahen wir schnell von unserem Plan ab, auf eigene Faust zu versuchen, irgendetwas sightseeingmäßig zu entdecken. Stattdessen kontaktierten wir, in einem Cafe mit Internet sitzend, die Kulturweitfreiwillige Anja, die immerhin schon ihre letzten 2 Monate in Kiew verbringen durfte. Dies stellte sich als eine sehr gute Entscheidung heraus! Anja stimmte sofort begeistert zu und holte uns auf dem zentralen Majdan-Platz ab. Hier findet sich das 63 Meter hohe Unabhängigkeitsmerkmal, in dessen Schatten im Jahr 2004 die massiven Proteste im Zuge der orangenen Revolution ausgetragen wurden, auch der Euromajdan 2013 nahm hier seinen Ursprung. Heute ist der Platz eine beliebte Anlaufstelle für Touristen, die an einem der zahlreichen Stände ukrainische Souvenirs sowie verschiedene Sticker und Stempel mit teilweise sehr antirussischen Parolen erwerben können; zwischendurch wird man bedrängt von jungen Männern die einem liebend gerne eine Taube oder einen Falken (!) auf den Arm setzen möchten, um anschließend eine Gebühr zu kassieren :D. Mit Anja ging es dann quer durch die Stadt, hoch auf die Hügel mit den besten Aussichtspunkten und wieder hinab durch die Straßenschluchten der Stadt. Kiew hat einige sehr schöne Gebäude zu bieten, jedoch musste ich feststellen, dass verglichen zu Minsk die Stadt einen wilderen und ungeordneteren Eindruck macht: Während Minsk das zentralverwaltete Wirtschaftssystem in seinem Stadtbild sehr schön wiederspiegelt und sich durch viele breite Alleen, lange, einheitliche Prunkfassaden und ein symmetrisches Straßennetz auszeichnet; treffen in in Kiew alte Hütten auf moderne Paläste, pulsierende Lebensadern finden sich im Zentrum gleich neben nackten Hügeln wieder; die Straßen sind verwinkelt und man verliert schnell die Orientierung. Mir persönlich sagt Minsk vom Stadtbild mehr zu; dies kann jedoch ein rein subjektiver Eindruck sein. Gegen Abend verabschiedeten wir uns von Anja und fielen erschöpft in unsere Betten.
Den Sonntag traten wir ziemlich demotiviert an. Irgendwie hatte man das Gefühl, alles schon gesehen zu haben; außerdem schüttete es draußen wie aus Kübeln. Nach einem langen Frühstück fuhren wir mit der Metro zu einem Kaufhaus am Rande der Stadt – hier sollte es laut Google eine Fläche zum Eislaufen geben. Als wir das riesige Gebäude betraten, verschlug es uns einfach die Sprache – an keinem Ort im Osten ist der amerikanische Konsumgedanke so allgegenwärtig wie hier: Die obere Etage zieht sich gefühlt einen Kilometer und ist vollstopft mit den verschiedensten Freizeitattrationen – neben der Eislaufbahn gibt es hier auch Bowling, einen InlinerSkates-Park, ein Kino, einen Aquapark, einen Kletterpark, eine LAN Party-Arena, einen Zoo (!) und noch vieles mehr! Wer das nötige Geld aufbringen kann, hat hier absolut alles, was sein Herz begehrt – und zwar auf engstem Raum! Wir entschieden uns, hier den immernoch anhaltenden Regen zu überstehen und verbrachten die nächsten 4-5 Stunden beim Pizzaessen, Eislaufen, rumschlendern und im 9D-Kino (fragt mich nicht woher die 9 kommt, zusammen mit zwei kreischenden Mädchen aber eine lustige Erfahrung). Gegen Abend hieß es dann langsam aufbrechen, wir spazierten zurück zum Hostel, holten unsere Sachen und liefen zum Bahnhof, wo Anja zusammen mit der Freiwilligen Lea auf uns wartete und unser Zug nach Odessa schon bereitstand 🙂
Nachtzugfahren ist eine Erfahrung für sich, die für einen Westeuropäer gänzlich unbekannt ist. Man wird mit 3 fremden Menschen in ein winziges Abteil gesteckt, wo zwischen den Betten grade Platz für eine stehende Person ist. Die unteren Betten werden kurz hochgeklappt, damit man seine Sachen darunter platzieren kann, dann macht man sie wieder runter und wer im Voraus nicht alles wichtige aus seiner Tasche rausgeholt hat, hat jetzt leider Pech 🙂 Dann kraxelt jeder irgendwie auf sein Bett und fängt an, es zu beziehen, wobei bei die geübten Ukrainer in 2 Minuten fertig sind, während der unerfahrene Deutsche erstmal 15 Minuten braucht, um zu verstehen, dass es sich bei dem gerollten rechteckigen Sack nicht um die Decke sondern um die Matratze handelt… Dann kann man nochmal das Bad aufsuchen (welches übrigens sauberer ist als bei der Deutschen Bahn), und schließlich bleibt mir aufgrund des enormen Platzmangels bzw. fehlender Fläche für weitere Aufenthalte nichts anderes übrig, als mich im Bett zusammenzurollen und so schnell es geht einzuschlafen, bevor der Mann unter mir nicht angefangen hat zu schnarchen 🙂 Morgens dann wird man vom Schaffner geweckt und befindet sich schon am Zielreiseort. Von der Fahrt an sich bekommt man nichts mit, stattdessen ist man ausgeschlafen und energiegeladen – ziemlich praktisch. Und da die Fahrten ausschließlich nachts stattfinden brauche ich ehrlich gesagt auch nix weiteres außer ein halbwegs bequemes Bett, in dem ich in einer gesunden und entspannten Haltung schlafen kann!
Dann standen wir am frühen Morgen endlich am Bahnhof in Odessa und atmeten die reine Schwarzmeerluft ein, die sich zwar null von der regulären Luft unterscheidet, jedoch um 5 Grad wärmer ausfällt als in Kiew. Nachdem wir die Sachen im Hotel gelassen hatten, ging es ersteinmal auf einen Spaziergang zum Meer, wo wir die berüchtigte Arcadia-Strandpromenade hinunterschlenderten. Das Meer in seiner natürlichen Form war wunderschön, der Strand jedoch leider komplett verdreckt vom Touri-Müll aus der Sommersaison und die Promenade vollgebaut mit altsowjetischen Betonklötzen… Das raubte dem Ort leider die strahlende Erhabenheit, die ihm eigentlich zustehen würde. Wir machten wieder kehrt und vertrödelten die folgenden Stunden in menschenleeren HighSociety-Einkaufshäusern, die vergeblich auf kaufstarke Kunden warteten. Wir kauften nix.
Gegen Mittag zurück im Hotel, checkten wir ein und schlossen die eintreffenden Freiwilligen sowie unsere legendären Kulturweit-Trainer Mika und Matze in die Arme. Nach Odessa waren alle Freiwilligen aus den Ländern Belarus (wir), Estland, Lettland, Litauen und natürlich der Ukraine gekommen. Ich war übrigens wiedereinmal der Hahn im Korb, aber das sind wir ja schon gewohnt und die Mädchen sind echt alle voll lieb und symphatisch. In chilliger Runde ging es die nächsten Tage also darum, die anderen Freiwilligen besser kennenzulernen, mehr über deren Einsatzstellen und Tätigkeiten in Erfahrung zu bringen sowie gemeinsam an eventuellen Problemen und Baustellen zu feilen. Im Vergleich kann ich sagen, dass es mir an meiner Einsatzstelle überdurchschnittlich gut geht, durch meine nahezu perfekten Sprachkenntnisse habe ich mit viel weniger Schwierigkeiten zu kämpfen. An meiner Schule werde ich täglich in den verschiedensten Tätigkeitsbereichen eingesetzt, bekomme ein hohes Maß an Verantwortung zugesprochen und habe einfach das Gefühl, dass ich mich zu einem unersetzbaren Teil der Einsatzstelle entwickelt habe – das alles spornt mich zusätzlich an und sorgt dafür, dass meine Motivation und Ehrgeiz nie ausgehen. Auch um meine Freizeit steht es gut, da mein Russisch den Schlüssel zu den Jugendlichen hier darstellt und ich ein hervorragendes Verhältnis zu vielen von Ihnen pflege! Besonders schön fand ich es, als mir Mika in einer Pause den Brief übergab, den ich am letzten Tag des Vorbereitungsseminares in Berlin an mein zukünftiges Ich geschrieben hatte. In ihm fand sich neben meinen Sorgen und Ängsten eine Liste mit Hoffnungen, die ich an die ersten Monate des Freiwilligenjahres gestellt hatte. Von meinem jetzigen Standpunkt aus konnte ich zu meiner großen Freude nahezu alle Punkte abhaken, und bei dem letzten, unerfüllten besteht vielleicht noch berechtigte Hoffnung für die kommende Zeit ;). Jedenfalls war das Zwischenseminar für mich persönlich ein Erfolg, denn auch wenn ich nichts Neues mehr für mich mitnehmen konnte, so hat es mir in Sachen Selbstreflexion außerordentlich geholfen!
Neben unseren persönlichen Erfahrungen beinhaltete das Zwischenseminar auch viele tolle politische Diskussionen (hätte noch mehr sein können, gelle Mika?) und interessantes psychologisches Impro-Theater (danke Matze!). Der Mittwoch war außerdem der Stadt Odessa gewidmet, die sich nach einer abwechslungsreichen Stadtführung als ziemlich interessant und vielfältig entpuppte. Am letzten Abend ging es dann in geschlossener Gruppe in die City zum Feiern, was sich an einem Donnerstagabend als schwierig herausstellte. Irgendwann fanden wir dann einen Club, in dem zwar ein Live-DJ furchtbare Technomusik spielte, aber besser als gar nix. Ziemlich angeheitert und mit vollgedröhnten Ohren verließen wir die Bude dann gegen 3 Uhr und machten uns auf Richtung Hotel – an mir war es, unterwegs zwei schmierigen Typen auf russisch zu erklären, dass ich nicht vorhabe, ein paar der Mädchen „abzugeben“, sowie am Bahnhof drei Taxis aufzutreiben, die unsere gesamten Gruppe zurück zu unseren Betten bugsieren würden. Gegen 4 Uhr schloss ich dann endlich die Augen…
…um sie 4 Stunden später beim lauten Rufen meines Weckers wieder aufzureißen – die Abreise stand bevor, vor Seminarbeginn musste noch ordentlich gepackt und das Zimmer geräumt werden. Mit dröhnendem Kopf torkelte ich ins Badezimmer und drehte die Dusche auf – das eiskalte Wasser war jetzt nur willkommen. Anschließend bekam ich irgendwie meine 7 Sachen zusammen, frühstückte eine Gurke und gesellte mich zu dem Rest in den Seminarraum. Was ich als leichten Kater von gestern Nacht abstempelte, entpuppte sich in den nächsten Stunden als waschechtes Fieber – ich war krank. Aber was sollte ich machen? Nach der emotionalen Verbaschiedung sowie einem letzten Mittagessen durfte ich nicht mehr zurück ins Zimmer – einzig unsere Sachen durften wir im Hotelkeller parken. Zu Hause wäre ich erst am Sonntagnachmittag – davor galt es, 8 Stunden in Odessa auf den Nachtzug nach Kiew zu warten und dort dann nochmal 12 Stunden zu verbringen bevor dann Samstag abend der Bus ins heimatliche Belarus abfuhr. Ich musste also starkbleiben! Fix 5 Stühle im Seminarraum zusammengestellt, und schon hatte ich einen provisorischen Schlafplatz für die nächste Stunde. Etwas gestärkt, ließ ich mich von den Mädchen bereitwillig mit Ibuprofen abfüllen und folgte ihnen auf einen letzten Spaziergang in die Innenstadt. „Nur keine Panik, alles wird gut, genieß einfach deine Zeit“ – das war ungefähr die mentale Dauerschleife, die ich die nächsten Stunden gedanklich durchlief. Doch die Panik überkam mich dennoch, als wir die letzten beiden Stunden vor Abfahrt in einem Cafe nahe des Bahnhofs fristeten und ich trotz Winterjacke und Handschuhen von Frostattacken geschüttelt wurde. Mit zittrigen Fingern verband ich mich mit dem 1 Balken-starken Internethotspot und schrieb voller Verzweiflung meiner Mutter – vielleicht, um ein paar Abschiedsworte an sie zu richten, denn den morgigen Tag würde ich nicht überleben…
Was soll ich sagen-meine Mutter ist einfach die Beste! Das Einatzheadset aufgesetzt, leitete sie die Operation „Rettet meinen armen kranken Sohn vor dem Sterben“ ein. Während ich also die letzten 30 Minuten vor meiner Fahrt ins internetlose Verderben mit letzter Anstrengung an meinem schwarzen Tee nippte, setzte sie alle Hebel in Bewegung, um die vermeintliche Katastrophe doch noch abzuwenden. Und siehe da – nach einer schrecklich – schwitzigen und stickigen Nacht im Zug wurde ich am Kiewer Bahnsteig von einer Freundin von der Freundin meiner Mutter in Empfang genommen. Es stellte sich raus, dass sie so ganz nebenbei Kiews führende Innendesignerin ist; in einem SUV fuhr sie mich zu ihrem Haus, wo ich duschen, frühstücken und dann in völliger Erschöpfung auf dem Sofa einschlafen konnte. Den restlichen Tag verbrachte ich mit dösen, rumliegen und essen. Meine Retterin pflegte mich erfolgreich, sodass ich mich abends wieder etwas fitter fühlte und zum Busbahnhof gefahren wurde, wo ich ihr überschwänglich dankte und mich dann zu den anderen Freiwilligen begab. Zusammen fristeten wir die Nacht im Bus samt dreistündigem Aufenthalt an der Grenze; in Minsk angekommen, wurde sich schnell verabschiedet bevor jeder Freiwillige seinen eigenen Weg zum Einsatzort einschlug. Ich selbst war überglücklich über meine erneute Ankunft in Belarus, hier fühlt sich alles schon so vertraut und gewohnt an (man ey, was hab ich die Rubelwährung vermisst, mit ukrainischen Hrywnja hat man echt nur Stress). Als dann die Marschrutka 4 Stunden später in Pinsk einfuhr und mich an der Haltestelle rausschmiss, hatte ich das Gefühl, wieder zu Hause zu sein…
Jetzt bin ich mittlerweile auch wieder vollkommen gesund und einsatzfähig; und ich habe das Glück, sagen zu können, dass meine Schule mich braucht und ich mich auf die Arbeit freue!
Machts gut und habt euch lieb, Leute!
Euer Mr. Romantic