Che Welt,
Ich fahre hier sehr viel Zug. So viermal die Woche drei Stunden am Tag, würde ich sagen. Immer die selbe Strecke: Once – Moreno, Moreno – Once. Dabei denke ich viel nach und schaue primär aus dem Fenster. Ich sehe Mauern, Zäune, Menschen, Städte und Häuser, wunderschöne, grosse, jedoch auch alte, zerfallene und vor allem ein, noch nicht fertiggestelltes. Dieses ist eigentlich nur vier Säulen und ein Dach, aber darum ein kunstvoll halbangefertigter Zaun. Seit meiner ersten Fahrt beobachte ich jetzt schon die Szenerie, wie zwei oder drei Männer gemächlich die Bögen einer Backsteinmauer mit goldenen Spitzen um die Baustelle eines angefangen Hauses ziehen. Bogen um Bogen entsteht jeden Tag neu. Ich setze mich schon mit Absicht auf die eine Seite des Zuges, nur um einen kurzen Blick auf den Zaun zu erhaschen, der mehr oder weniger die Dauer meines Aufenthalts hier darstellt.
Alles geht hier sehr ruhig von dannen, vielleicht nicht in la Capital Buenos Aires´, dafür aber bei meinen sonstigen Beschäftigungen. Ich habe mir, glaube ich zumindest, noch nie so viel Zeit jeden Tag gegönnt, meinen Gedanken nach zu hängen. Ich schaue aus dem Fenster und es entstehen in drei Zugstunden pro Tag neue Film-, Projekt-, und Blogideen. Ich habe Zeit, Spanisch zu lernen und vor allem passierte Situationen meines Alltags zu analysieren und zu überdenken. So stosse ich neulich auf die Gedankenfragen, was fuer mein Leben hier eigentlich unentbehrlich und notwenig ist. Ich schaue also aus dem Fenster und stelle eine Liste auf: Wenn man den Ausdruck „Verloren sein“ mal wörtlich nimmt, ergeben sich automatisch meine unangefochtenen Top drei.
- Ganz klar, meine Sube Karte, auf die man Geld lädt, um Bus, U-Bahn oder Zug fahren zu können. Ohne die bin ich hier nichts!
- Zum Thema Fortbewegung: Die App der öffentlichen Verkehrsmittel „Buenos Aires como llego“, die auch anzeigt, an welchen versteckten Ecken sich die Collectivos finden lassen
- Essenziell wichtig, um von A nach B zu kommen: Das GPS, das OHNE mobile Daten auf meinem Handy funktioniert.
Jetzt wird es etwas kniffliger, sich zu entscheiden. Abwesend beobachte ich das bunte Treiben einer Haltestelle vor dem Fenster. Da legt sich mir plötzlich etwas auf meinen Schoss: Ein Milka Alfajor „Muy Rico! Solo cinco Pesos.“, schallt es durch den Zug. Ich lege den Keks auf den Sitz neben mir, doch schon wird mir das nächste Produkt unter die Nase gehalten, „Mantecol“, ein Erdnussbutterriegel. Der Zug als fahrendes Kaufhaus. Wenn man will, kann man hier alles erstehen, von Kopfhörern über Kugelschreiber bis zu Sandwiches. Doch im Moment tut es ein höfliches „No gracias“, und ich bin wieder für mich. Also den Blick wieder aus dem Fenster gerichtet und Kopfhörer in die Ohren. Ach ja, klar:
- Musik! Bei so langen Fahrten mit Bus und Zug ist genug Zeit, in den Tiefen meiner Mediathek herumzustöbern.
- Zum Thema Zeitvertreib: Ich verlasse das Haus auch nicht ohne Buch. Bei langen Wartezeiten ist es ein Segen.
Laute Stimmen lenken mich wieder für einen kurzen Moment ab und ich schaue auf. In unmittelbarer Nähe stehen zwei Männer mit einem Radio und beginnen laut Musik anzumachen, Pop-, Rock-, und Latinoklassiker. Währenddessen bekommt man gebrannte CDs in die Hand gedrückt, die man fuer einen Spottpreis von ein paar Pesos erstehen kann. Genervt mache ich meine eigene Musik lauter und wende mich wieder dem Fenster zu.
- Mal in eine andere Ecke gedacht und da zeigt sich: Wichtig zum Überleben sind Müsli, Obst, Eier, Nudeln, Pesto, Tomaten und Käse.
Das dürfte eigentlich sehr gut zusammenfassen, was ich hier jeden Tag esse. Naja, fast. Dieser Punkt wurde bei dem vielen Regen in letzter Zeit sehr präsent.
- Die Internetseite www.pedidosya.com.ar zum Bestellen von Essen.
„Proxima Estación Merlo“, reisst es mich erneut aus meinen Gedanken. Oh, gleich bin ich da und jetzt sollte bald das Haus zusehen sein. Ich beschliesse, meine Liste ein andermal fortzusetzen und löse den Blick vom Fenster, um mich ein bisschen umzuschauen. Der Platz neben mir ist jetzt besetzt und es döst dort nun friedlich eine junge Frau. Vernünftig und gut verständlich so früh am Morgen. Es gibt Fahrten, da tue ich es ihr gleich, doch jetzt nicht. Jetzt muss ich Ausschau halten. Die nächste Station wird passiert und der Zug fährt wieder los. Die bereits bekannten Gebäude ziehen vorbei und da taucht es auf: Mein Gedankenhaus. Ich stelle fest, dass ein weiterer Bogen fertig geworden ist und lächle über die Ruhe und Muße, mit der die Arbeiter Stein auf Stein setzen. Dann ist der Moment vorbei. Der Garten mit den vier Säulen, dem Dach und der Mauer verschwinden aus meinem Blickfeld und ich mache mich fertig. Gleich kommt der Zug in Moreno, der Endhaltestelle an und ich muss aussteigen. Ich seufze, zu gerne würde ich das vollendete Haus miterleben, aber dazu bin ich zu kurz hier. Dann mal Daumen drücken, dass ich wenigstens noch den fertigen Zaun sehen kann. Vielleicht ist auf der Rückfahrt wieder ein Bogen mehr entstanden…
Eure Kathi

Aufregend Dein Leben fern der Heimat, liebe Kathi. Deine Mama hat mir erzählt, daß Du wieder an einem neuen Filmprojekt bist. Ist darüber auch etwas in Deinem Blog zu erfahren ? Würde mich interessieren.
Hier ist es trist und grau und ich sehne mich nach Sonne.
Alles Liebe für Dich. Weiterhin viel Erfolg wünscht Christel