Das wird wohl der schwierigste Blogeintrag, an den ich mich jemals herangewagt habe. Ich fange an zu schreiben, und bin noch nicht sicher, als was dieser Text enden wird, ich bin noch nicht mal sicher, was ich genau schreiben werde und ob ich ihn überhaupt veröffentlichen werde.
Wie ich in meinem vorletzten Eintrag berichtet habe, war ich zum Schüleraustausch in Deutschland. Ich habe diesen neuen Eintrag auch schon angedeutet, weil das Spektrum an Themen und Emotionen so groß ist, dass es sicherlich eines eigenen Eintrags bedurfte.
Was ich vorneweg dringend sagen möchte ist, dass das Thema bzw. die Themen, über die ich schreiben möchte, sehr komplex sind. Es ist nicht immer leicht, die richtigen Worte zu finden, die niemand aus keiner Perspektive falsch interpretieren könnte. Wenn euch beim Lesen Fragen kommen sollten, Sachen, die ihr nicht versteht oder die seltsam klingen, dann sprecht mich bitte an, sagt mir das, damit ich selbst darüber nachdenken und mich dazu äußern kann.
Ich lebe seit September in einem fremden Land. Ich kann mittlerweile stolz sagen, dass es mir nicht mehr ganz so fremd ist, wie es mir zu Beginn erschien. Ich habe hier Menschen kennengelernt, ich habe versucht, mich mit Politik und Geschichte zu beschäftigen und ich habe begonnen, die Sprache zu lernen. Trotzdem, so war ich mir sicher, wird dieses Land nie meine erste Heimat werden. Ich war immer gerne zu Hause und bin es noch. Ich habe die Zeit an Weihnachten sehr genossen, als ich viele mir liebe Menschen gesehen habe. Auch die Austauschzeit war trotz allen Widrigkeiten eine schöne Erholung von der ständigen Konfrontation mit Neuem. Ich liebe diese Konfrontationen, ich wachse daran, aber ich freue mich dann doch, im Supermarkt mal wieder vertraute Produkte kaufen zu können, bei denen ich die Zutatenliste nicht erst nach 2 Stunden intensiver Wörterbuchrecherche verstehe. Das ist einfach das Holz, aus dem ich geschnitzt bin. Die Welt entdecken, schön und gut, aber irgendwann möchte ich wieder zu Hause ankommen, denn dort ist es einfach schön.
Bewusst möchte ich den Aspekt der Privilegien, in denen ich leben darf, an dieser Stelle ausblenden. Der Beitrag wird sowieso kompliziert genug. Ich bin mir bewusst, dass all das, was mich beschäftigt, nie so essentiell und existenziell sein kann, wie das, was so viele andere Menschen erleiden müssen, welche Ausmaße von Schrecken sich für diese vielen Menschen zum Alltag entwickelt haben. Der Hauptgrund, warum ich mich entschieden habe, dass ich dringend etwas loswerden muss, ist aber, dass es sich im Moment essentiell und existenziell anfühlt.
Natürlich verfolge ich auch in Montenegro, was in Deutschland vor sich geht. Ich schaue Nachrichten, ich kommuniziere mit Menschen, ich lese. Und doch fällt mein Blick auf eine schwer zu beschreibende Art und Weise von außen auf die Dinge. Ich kann nicht mehr hören, was die Leute so erzählen, was sie in der Bahn von sich geben, wie sie sich auf der Straße unterhalten. Ich weiß nur, was öffentlich verbreitet wird und das führt mich zu der Quintessenz des Ganzen:
Ich verstehe mein Land nicht mehr!
Was ist mein Land? Ich hatte immer Probleme mit einer deutschen Identität. Ich habe mir immer eingeredet, dass dieser Teil meines Lebens für mich keine Rolle spielt. Ich habe dieses Land immer kritisch gesehen, wohl auch, weil mich das Konzept von Ländern und Grenzen nie überzeugen wird.
Doch seit einigen Monaten bin ich gezwungen, mich mit dieser Identität abzufinden, bzw. mich zumindest damit zu beschäftigen. Im Ausland bin ich nun mal „die Deutsche“ und Jahrhunderte von Kriegen zwischen Ländern, kultureller Unterdrückung und Propaganda haben nun mal dafür gesorgt, dass die Herkunft eine der wichtigsten Kategorien ist, in die man Menschen einteilt. Ich möchte mich da wirklich nicht ausnehmen, ich finde es immer kolossal spannend, zu erfahren, welche Nationalität meine Schüler haben und daraus irgendwelche Rückschlüsse auf was auch immer zu ziehen.
Jedenfalls fühle ich mich durch meine Zeit im Ausland mehr als Deutsche, als ich es mir je hätte träumen lassen. Umso mehr fasst es mich an, zu sehen, was so vor sich geht in diesem Land.
Vor kurzem fand ich im Schrank der Grundschule beim Aufräumen ein Buch, „Der Schlund“ von Gudrun Pausewang. Wer sich mal richtig gruseln will sollte dieses Buch lesen. Es spielt Anfang der 90er Jahre, in Deutschland läuft es wirtschaftlich nicht besonders, die Zuwanderung steigt auf ein Rekordniveau und dadurch entsteht im Land eine Stimmung, wie man sie nie für möglich gehalten hätte. Neue Parteien werden gegründet, verboten und wieder gegründet, die Bundestagswahl ermöglicht schließlich eine Koalition zwischen den Republikanern und einer neuen ultrarechten Partei. Deutschland wird zur Diktatur, es werden Arbeits- und Umerziehungslager für Ausländer, politische Gegner, Aids-Kranke, Behinderte und andere störende Elemente gegründet. Das Buch erzählt die Geschichte eines Mädchens, das in einer Widerstandsfamilie aufwächst, der Vater muss emigrieren und die anderen Familienmitglieder sterben nacheinander weg. Sie entschließt sich, den Widerstand zu leisten, zu dem sie imstande ist.
Es wurde mir beim Lesen Angst und Bange. Die Zustandsbeschreibung am Anfang stellt zwar nicht eins zu eins unsere Zeit dar, lässt sich aber durch Aktualisierung der gesellschaftlichen Diskurse leicht übertragen. Das Buch beschreibt eine Entwicklung über mehrere Jahre, es war alles nicht sehr detailliert beschrieben, aber man glaubte sofort, dass es morgen genauso passieren könnte. Und das macht mir Angst.
Ich lese von brennenden Heimen und sehe dieses unsägliche Busvideo. Ich lese all die schlauen, menschlichen und wunderbaren Kommentare von Journalisten, Künstlern und ja, auch Politikern und muss sehen, wie wenig andere davon berührt werden. Ich brauche keine dramatischen Liebesfilme mehr zu kucken, zum Heulen reicht heute die Tagesschau. Die Welt geht in Flammen auf und irgendwo zünden Idioten Kreuze an und andere Häuser, in denen Menschen leben. Ich spüre physische Beeinträchtigungen durch diese Angst, ich leide.
Ich sehe die Entwicklung. Vor wenigen Jahren gab es auch Neonazis. Sie waren damals so wenig begrüßenswert wie heute auch, sie begingen genauso furchtbare Taten und terrorisierten Menschen auf ebenso perfide Art und Weise wie heute. Aber es war eine kleine Gruppe, auf die man mit dem Finger zeigen konnte, die man ausgrenzen konnte, die keinen Einfluss auf die öffentliche Meinung hatten.
Heute ist es eine große Gruppe. Es sind jetzt viel mehr, sie handeln täglich, anstatt nur dämlich auf irgendwelchen Kundgebungen ihre Fähnchen zu schwenken wie damals, in der Zeit vor… Ja, vor was eigentlich? Bevor die Kanzlerin ihre Empathie entdeckte? Bevor die von uns verursachten Kriege jetzt so viele Menschen aus ihren Ländern vertreiben, dass wir sie nicht mehr ignorieren und aussperren können? Bevor man in diesem Land wieder ernsthaft über die rechtlichen Grundlagen eines Schießbefehls an der Grenze debattieren darf? Was ist mit diesem Land passiert?
Ich möchte an dieser Stelle Selbstkritik üben. Diese Selbstkritik ist nicht vorgeschoben und soll keine Koketterie sein, ich meine es ernst. Als in kurzer Zeit viele Menschen auf einmal zu uns kommen mussten, haben sich viele Sorgen gemacht. Wenn ich zurückschaue, vielleicht zu Recht. Auch wenn man voll und ganz hinter der Losung „Refugees welcome“ steht, kann man nicht verleugnen, dass es eine große Aufgabe ist und viel Anstrengung erfordert. Dass Integration nicht automatisch passiert und viel Geld kostet. Dass es schwierige Zeiten geben wird, dass der Staat die Hilfe der Menschen braucht und die Zivilgesellschaft in diesem Fall als Institution anerkennen und würdigen muss. Diese Erkenntnisse ändern aber nichts daran, dass ich der Meinung bin, dass es der richtige Weg ist. Man hätte es vielen Menschen einfach nur besser erklären müssen. Die Politik hätte ihren Masterplan, sofern sie einen hat, erläutern müssen, genau aufzeigen müssen, wie es zu schaffen ist. Das ist oftmals versäumt worden und führte dann zu dem, was jetzt als besorgte Bürger schamlos hinter rechtsextremen Hetzern läuft. Das kann mit nichts entschuldigt werden, jeder ist dafür verantwortlich, die Angst nie über die Menschlichkeit zu stellen. Es ist aber der Versuch einer Erklärung. Die Masse an Menschen, die kein Problem hat, eine rechtsextreme, offen rassistische und gewalttätige Partei zu wählen, die Masse, die in Umfragen einen Schießbefehl an der Grenze begrüßen würde, die Masse, die mit unserem demokratischen System nichts mehr anfangen kann, diese Masse ist einfach zu groß geworden, um sie auszuschließen und als die paar Prozent Spinner abzutun, die eine Demokratie aushalten muss. Es sieht ganz düster aus in diesem Land, wenn wir es nicht schaffen, einen Großteil dieser Menschen zurückzuholen, sie wieder in die demokratische Gesellschaft aufzunehmen.
Ich habe immer Menschen verachtet, die stolz darauf waren, Deutsche zu sein. Dafür gab es für mich keinen Grund. Wir haben nichts dafür geleistet und politisch gesehen waren wir auch nicht wirklich integer. Doch als im letzten Sommer so viele Vertriebene auf einmal kamen und viele Deutsche ihre Herzen öffneten, da war ich stolz auf diese Leute! Sie handelten unabhängig von dem, was die Politik jeden Tag anrichtet. Sie sagt „Wir schaffen das!“ und tut nichts dafür, überlässt die Details der Zivilgesellschaft, die sich großartig geschlagen hat und immer noch schlägt. Sie sagt „Wir schaffen das!“ und hält weiter an einer Politik fest, die diese Katastrophe erst verursacht hat. Sie sagt „Wir schaffen das!“ und lässt einen Finanzminister von der Leine, dem scheinbar nur sein ausgeglichener Haushalt heilig ist. Und trotzdem bewundert man diese Frau dafür, dass sie scheinbar bereit ist, mit diesem Satz unterzugehen. Wir haben die Ansprüche an Symbolik und Wahrhaftigkeit in den letzten Jahren auf einen neuen Tiefpunkt gesenkt.
Die Frage ist, wie geht es weiter? Morgen sind Landtagswahlen und so wie es aussieht, wird die AfD in drei Landtage einziehen. Man kann immer über die Ursachen von Rassismus und antidemokratischen Strömungen diskutieren, man kann sagen, dass in Sachsen vielleicht mehr rechte Gewalttaten geschehen als anderswo, aber in meinem Rheinland-Pfalz, wo es sich so schön leben lässt, wo die Menschen schon seit Langem Lieder singen, von der Angst, dass es im Himmel nicht so schön ist, wie auf der Erde und man deshalb auf keinen Fall sterben will, dort steht diese Partei bei unsäglichen 9%. Der Geist verbreitet sich in ganz Deutschland und in ganz Europa, es nützt überhaupt nichts, einzelne Regionen herauszunehmen, solange auch überall anders die Häuser brennen. Wie oft das jetzt geschieht, ist meiner Meinung nach nebensächlich, rechter Terror ist ein gesamtdeutsches Problem und es nach Sachsen oder in den Osten abzuschieben, löst überhaupt nichts, sondern ist ein erbärmlicher Versuch, sich aus der Affäre zu ziehen! Seit mehreren Monaten erleben wir eine dauerhafte Progromnacht, die sich nur auf einzelne Nächte verteilt.
Ich frage mich gerade, was das eigentlich alles mit meinem Freiwilligendienst zu tun hat, was es ist, das rechtfertigt, dass ich dieses Medium nutze, um meine Ansichten zu verbreiten. Aber es hängt schon damit zusammen. Dieser Blog soll ja nicht nur von meinen Erlebnissen berichten, sondern auch von meinem Innenleben. Und das wird maßgeblich von der Situation in Deutschland beeinflusst. Ich habe hier oft von Ulcinj, meiner Stadt, geschwärmt. Wie Menschen aller Religionen und Nationalitäten friedlich zusammenleben. Es klingt wie eine alte Leier, die ihr vielleicht nicht mehr hören könnte, aber diese Stadt liefert mir einen so starken Kontrast, dass es die ganze Situation für mich noch verschärft. Ich bin der Meinung, ich erlebe hier Menschen im Urzustand. Die keinen Grund sehen, jemanden für eine Andersartigkeit zu hassen. Es zerreißt mir das Herz zu sehen, dass es möglich ist, zusammenzuleben, dass Krieg und Gewalt nicht in der Natur des Menschen liegen. Wir können in Deutschland zwar nette Maschinen bauen, wir rühmen uns unserer Fortschrittlichkeit, aber was das Zusammenleben angeht, sind wir Entwicklungsland und können von solchen Pipifax-Staaten wie Montenegro wirklich etwas lernen.
Ich lese in diesen Tagen viele Kommentare auf Facebook. Viele sagen mir, das dürfe man ja auch nicht machen, da treiben sich doch eh nur dumme Leute rum. Aber diese Leute gibt es doch trotzdem?! Was man dort an Verwünschungen, Gewaltandrohungen, Rassismus, Sexismus, Hass und Hetze lesen kann, übersteigt alle Kategorien des Unmenschlichen. Ohne moralisch zu urteilen, ohne zu werten, kann es mir bitte einfach jemand erklären? Warum wird man so? Warum wird man so, obwohl man mit allen bekannten Einschränkungen dennoch ein privilegiertes Leben und sicheres Leben führen kann? Es übersteigt meine Fähigkeit, mich in Menschen hineinzuversetzen. Ich wollte immer verstehen. Werten und Urteilen kann ich später, aber ich will verstehen, was Leute antreibt, weil man nur dann wirklich wirksame Maßnahmen treffen kann und sich von der Ebene der Symbolpolitik verabschiedet. Doch ich bin nicht mehr dazu in der Lage. Wenn ich es mal geschafft habe, den Ekel abzustellen und mich tatsächlich mit den Inhalten zu beschäftigen, bleibe ich ratlos zurück. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich so weit weg bin.
Ich höre jetzt auf, obwohl es noch so viel zu sagen gäbe, unendliche Ebenen und Dimensionen all dessen, was passiert, blieben unberührt, doch ich habe schon lange genug gelabert und gratuliere all jenen, die bis hierher durchgehalten haben. Ich entschuldige mich, ich mute euch immer ganz schön viel zu, aber ich werde bei diesem Thema emotional und dann kann ich mich noch weniger kurzfassen als sonst.
Ich möchte nur noch sagen, dass ich die Situation natürlich nicht gut beurteilen kann. Es kann sein, dass alles halb so wild ist und ich das dramatisiere, weil nur die Extremen der Berichterstattung bis zu mir durchdringen. Ich bekomme natürlich auch etwas vom Engagement mit, von kreativem Protest, von Spenden und von Warmherzigkeit, das kam in diesem Beitrag sowieso viel zu kurz. Vielleicht, und ich hoffe, dass es so ist, ist nicht die Stimmung, sondern nur die Berichterstattung gekippt. All die bewundernswerten Menschen verteilen weiterhin Klamotten und warmes Essen, schreiben weiter wie die Verrückten gegen diesen Irrsinn an, ringen weiter um kleine und große politische Lösungen. Es kann aber auch sein, dass alles noch viel schlimmer ist und ich die Ausmaße nicht so mitbekomme. Weil ich aber im Moment absolut keinen Einfluss auf nichts nehmen kann, wollte ich zumindest mal meine Gedanken loswerden, um nicht in dem Gefühl zu versinken, gar nicht getan zu haben, sollte es wirklich so schlimm stehen.