1 Jahr Montenegro oder "Jana, wie heißt das Land nochmal"

Wie erklärt man Blumenkohl, sodass man es sich merken kann?

Nachdem die Ferien jetzt seit gut zwei Wochen vorbei sind und die zweite Hälfte meines Freiwilligendienstes anbricht, habe ich festgestellt, dass es höchste Zeit ist, einen Blogeintrag über meine Schüler_innen zu verfassen. Es dürfte in vorangegangenen Einträgen schon einige Male aufgetaucht sein, dass ich im Großen und Ganzen ein großer Fan meiner Schüler bin. Über das erste halbe Jahr haben sich viele erzählenswerte Anekdoten ergeben, aber ich möchte hauptsächlich aus den letzten zwei Wochen erzählen, um die Dichte an tollen Erlebnissen deutlich zu machen.

Die ersten Tage nach den Ferien waren anstrengend, die Schüler, insbesondere in der Grundschule, waren noch nicht so recht im Schulalltag angekommen, sodass es permanent unruhig war und an normalen Unterricht eigentlich nicht zu denken war. Doch langsam aber sicher bemerkten sie, dass da einer vorne steht, der ihnen gerne was erzählen möchte und sie mäßigten sich wieder. Sie fingen auch wieder an zu arbeiten, erstaunlicherweise. Aber wie! Ich durfte wieder einige Male feststellen, dass in den Schulen, vermutlich nicht nur in Montenegro, sondern überall auf der Welt, so viel ungenutztes Potential schlummert, das durch einen zu strengen und engen Lehrplan nicht zur Entfaltung kommen kann. Wenn man den jungen Leuten dann aber mal die Möglichkeit gibt, zu zeigen, was sie können, wenn sie merken, dass das was sie tun auf Anerkennung bzw. Begeisterung sowohl bei Mitschülern als auch bei Lehrern trifft, dann sind sie kaum zu halten.

Da geben wir eine Hausaufgabe auf, irgendjemanden zu interviewen, was er/sie in seiner/ihrer Freizeit macht. Die meisten interviewen sich gegenseitig und schreiben einen kurzen Dialog, doch dann gibt es tatsächlich zwei Mädels, die mit dem Smartphone losziehen, Jugendliche in der ganzen Stadt und darüber hinaus auf Deutsch interviewen und dann vier Stunden zu Hause sitzen und einen Film zusammenschneiden, was man in Ulcinj denn so in seiner Freizeit macht. Ein anderes Paar nimmt ein Radiointerview auf und gibt sich ebenfalls viel mehr Mühe als erfordert war.

Das zeigt sich auch in meinem neuesten Projekt, im Deutsch-Klassenzimmer eine kleine Bibliothek anzulegen. Nächsten Montag fahren wir zum Schüleraustausch nach Deutschland und Kurt hat in seinem Bekanntenkreis Bücher sammeln lassen, damit die Stadtbücherei eine kleine deutsche Abteilung bekommt. Da die Schüler aber nicht gerne in die Bücherei gehen, haben wir entschieden, einen Teil der Bücher (30 Kisten insgesamt!!!), die wir dann mit dem Bus aus Deutschland mitbringen, in einem kleinen Regal im Deutschkabinett zu lagern, damit die Hürde für die Schüler gesenkt wird, sich einfach mal ein Buch mitzunehmen. Um die Lesemotivation zusätzlich zu steigern, habe ich von Armin die Möglichkeit bekommen, dass die Schüler sich Bücher wünschen können, die wir kaufen und die sie dann umsonst ausleihen können. Das stieß erst nicht sonderlich auf Gegenliebe, weil sie, wie ein Schüler richtig feststellte, ja gar keine deutschen Bücher kennen. Doch als sie dann merkten, dass sie mir auch sagen können, sie hätten gerne ein Buch über Autos oder über griechische Sagen oder eine romantische Tragödie, kamen nach und nach mehr Wünsche, sogar von Schülern, von denen ich das nicht so erwartet hätte. Eine traumhafte Arbeit, sich stundenlang durch Bücherlisten und Angebote zu wühlen, um das richtige Buch zu finden! Das hat wirklich Spaß gemacht und wenn es die Schüler zum Lesen bringt, kann das nur der richtige Weg sein!

Ein weiteres Beispiel für große Motivation bei Schülern ist ein Mädchen aus der ersten Klasse (in Deutschland 10.Klasse). Sie lernt seit vielleicht vier Jahren Deutsch und hat vor kurzem einen Text geschrieben, freiwillig und ohne, dass wir sie dazu angestiftet hätten. Sie hat ihn mir zum Lesen gegeben und er war unfassbar gut. Es ging um das Thema „Teenager sein“, wie man sich in dieser Zeit fühlt, was es für Probleme gibt, usw. Natürlich machte sie ein paar kleine sprachliche Fehler, was will man erwarten im fünften Jahr Deutsch, mit einer Gruppe, mit der wir noch nie Texte schreiben geübt haben. Der Text war aber nicht einfach nur gut, er war sprachlich besonders. Ich fand es immer schon faszinierend, Bücher von Autoren zu lesen, die auf Deutsch schreiben, aber eine andere Muttersprache haben. Durch den auswärtigen Blick auf die Sprache entsteht eine neue Art von Poesie, entstehen ganz neue Metaphern, die nicht alle schon hunderte Mal verwendet wurden. Bestes Beispiel hierfür sind die Bücher von Rafik Schami (die ich allen nur wärmstens an Herz legen kann!), der vor 40 Jahren aus Syrien nach Deutschland kam und die meiner Meinung nach schönsten Romane schreibt. Man kann jetzt diesen kurzen Text nicht wirklich mit einem Roman vergleichen, aber man merkte, was da für ein Talent schlummert, weil die Schülerin nicht einfach nur sprachlich korrekt und vor allem auch außergewöhnlich komplex schreiben kann, sondern weil es auch noch schön und spannend zu lesen ist, weil sie ein Gefühl für Sprache zu haben scheint, egal ob es ihre Muttersprache oder einen Fremdsprache ist.

Normalerweise werden solche Schüler immer besonders gefördert. Es gibt einen ganzen Sack voll Programm von allen möglichen Kultur- und Bildungsinstitutionen aus Deutschland, die es Schüler_innen, die besonders begabt sind, ermöglicht, nach Deutschland zu kommen, eventuell eine Ausbildung zu machen oder zu studieren, oder einfach nur mal das Land zu besuchen. Bei uns geht das immer mit dem Schüleraustausch mit Freudenstadt los, dann gibt es für einen Schüler/eine Schülerin das Preisträgerprogramm der ZfA im Sommer, es gibt verschiedene Workshops, wir versuchen gerade eine Art Infrastruktur für Praktika an deutschen Firmen aufzubauen, das geht diesen Sommer mit erstmal zwei Drittklässlern (12.Klasse) los und soll auf jeden Fall weitergeführt, wenn möglich ausgebaut werden. Nach der Schule gibt es für die Jahrgangsbesten die Chance auf ein DAAD-Stipendium, mit dem man, in Deutschland studierend, finanziell unterstützt wird. Diese Bewerbung haben wir gerade mit zwei Schülern aus der vierten Klasse (13.Klasse) durchgeführt und hoffen auf positive Rückmeldungen.
Ich habe mir lange und oft Gedanken gemacht, was von diesen Stipendien zu halten ist. Es gibt immer wieder den absolut nicht unbegründeten Vorwurf, Deutschland würde sich die Besten der Besten abgreifen und vielen Ländern die qualifizierten Leute wegnehmen. Das stimmt auch, aber ich habe diese Meinung relativieren müssen. Ich habe meine beiden Bewerber kennengelernt und kenne aus vielen Erzählungen die wirtschaftliche Lage in Montenegro. Natürlich ist es schwierig, als Land auf die Beine zu kommen, wenn die Fachkräfte größtenteils abwandern, aber dafür müssten erstmal Voraussetzungen geschaffen werden, die es ermöglichen, auch ohne Beziehungen einen Job zu finden, der ansatzweise der Ausbildung entspricht. Das ist hier aber nicht der Fall und ich bin zu sehr Individualistin, als dass ich es für richtig halten könnte, diesen beiden speziellen Menschen auf Grund eines politischen Dogmas ihre beste Zukunftsperspektive zu versauen. Man kann und soll und muss weiterhin über eine gute und angemessen Kultur- und Bildungspolitik im Ausland diskutieren, aber ich kann meine politische Einstellung nicht über die Menschen stellen, die ich hier kennenlerne.

Es ist mal wieder mit mir durchgegangen, eigentlich wollte ich über meine schreibende Schülerin schreiben. Sie wäre also normalerweise die erste Kandidatin für alle diese Sachen, hat uns aber jetzt schon mitgeteilt, dass sie nächstes Jahr nicht mit nach Freudenstadt kommen wird, weil ihr Vater das nicht erlaubt. Ich habe schon des Öfteren festgestellt, dass ich mit einer speziellen Sache der montenegrinischen Gesellschaft schwer umgehen kann, und zwar mit der fehlenden Emanzipation der Kinder von ihren Eltern. Ich werde es nicht ändern können, es steht mir nicht mal zu, darüber zu urteilen, weil man das alles wieder relativieren und im Zusammenhang der Gegebenheit sehen muss, dass es fast unmöglich ist, einen Job zu finden, ohne die Beziehungen seiner Eltern, es ist für mich aber einfach schwer zu akzeptieren, wenn Kinder dadurch in ihrer Entwicklung und in ihrer Entfaltung behindert werden. Es tut im Herzen weh, zu sehen, dass so ein selbstbewusstes, kluges Mädchen so davon abhängig ist, was der Vater entscheidet. Ich kenne zu wenige Hintergründe, als dass ich es wirklich objektiv einwandfrei beurteilen könnte, aber auf der emotionalen Ebene macht mich das wütend. Aber trotzdem lässt sie sich davon nicht hemmen, lernt in ihrer Freizeit Fremdsprachen, schreibt weiter und wir versuchen sie jetzt in PASCH-Projekten wie der Online-Schülerzeitung unterzubringen, die sie von zu Hause machen kann, einfach um das Talent nicht ungenutzt und unbelohnt zu lassen.

Ein weiteres kleines Beispiel von freiwilliger Arbeit kommt aus der Grundschule. Ein Schüler, der nie, wirklich NIE, seine Hausaufgaben macht, kam heute zum ersten Mal seit langem mit Hausaufgaben in die Schule. Die Aufgabe war, eine Tabelle zu erstellen, mit vorgegebene Wörtern aus dem Bereich der Medien, und zwar auf Deutsch, Englisch und Albanisch/Montenegrinisch, um zu sehen, wo die Wörter herkommen und ob sie ähnlich sind. Kurt hatte letzte Stunde gewitzelt: „Ihr macht Deutsch, Englisch, Albanisch oder Montenegrinisch und Chinesisch.“ Alle lachen, Ende der Geschichte. Dachte ich, denn heute kam dieser Schüler und hatte eine feinsäuberliche Tabelle: Deutsch, Englisch, Albanisch und Chinesisch. Ich weiß nicht, ob er Chinesisch spricht oder ob er das extra gesucht hat, aber es war sehr faszinierend.

Es sind aber auch immer wieder kleine Geschichten, die mich an meinen Schülern entzücken. In der 7. Klasse, von der ich sowieso der größte Fan bin, hat Kurt letzte Woche in einfachstem Deutsch erklärt, dass man die Fenster nicht aufmacht, wenn die Heizung an ist, damit man nicht so viel Energie verbraucht. Das Umweltbewusstsein ist bei den Schülern oft nicht sehr ausgeprägt, es haben auch nicht alle verstanden, warum der Herr Schlegel da jetzt so einen Aufstand macht, weil die Fenster offen sind. Aber heute kam einer der Schüler rein, sah, dass die Fenster offen sind, ging ohne den Ranzen abzulegen sofort zur Heizung, fasste sie kurz an, um zu sehen ob sie an ist, und schloss dann sofort die Fenster, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Ich kann gar nicht rational erklären, warum mich das so begeistert, vielleicht klingt das von außen betrachtet ziemlich unspektakulär, aber es war ein besonderer Moment, in dem man merkte, dass die Schüler doch noch etwas mehr aus dem Unterricht mitnehmen als nur das reine Fachwissen.

Ebenfalls außerordentlich entzückend sind die kreativen Worterklärungen meiner Schüler. Unser Unterricht ist komplett auf Deutsch, und wenn jemand ein Wort nicht versteht, dann sollen die anderen es möglichst auch auf Deutsch erklären. Das klappt natürlich nicht immer, es wird auch viel übersetzt, aber manchmal kommt es doch zu sehr lustigen Situationen. Wenn einer eine Wolke als Regenmaschine bezeichnet, ist das noch nachvollziehbar, aber die Erklärung für Blumenkohl war wirklich einmalig. Der Schüler war sich nicht ganz sicher, ob er wirklich weiß, was das ist und versicherte sich mit einer Nachfrage: „Blumenkohl, das ist doch Albino-Brokkoli, oder?“
Je länger ich darüber nachgedacht habe, desto toller fand ich den Gedankengang. Da muss man erstmal drauf kommen! Müsste ich das Wort neu lernen, ich würde es danach nie mehr vergessen!

Man sieht also, meine Schüler sind lustig, motiviert, klug und kreativ. Natürlich nicht alle und nicht immer, aber es gefällt mir immer wieder, die einzelnen Charaktere kennenzulernen und es macht mich auf eine gewisse Art und Weise stolz, dass ich ein winziger Teil ihrer Entwicklung sein darf. Ich freue mich jedes Mal festzustellen, dass sie nicht nur im Unterricht gute und kluge Sachen machen, sondern auch so einfach sympathische Leute sind.
Da ist ein Schüler, der in den Weihnachtsferien in New York war, große, weite Welt, für Ulcinj ein Riesending. Er hält ein Referat darüber und fragt am Ende, was wir denn glauben, wie sein Eindruck war. Alle glauben, dass er es ganz toll fand, er hat ja auch vorher viel erzählt, von Sehenswürdigkeiten und Starbucks, von amerikanischen Hochzeiten und McDonalds, aber er sagte nur: „Mein Eindruck war nicht so toll, die Leute sind viel kälter dort, sie müssen so viel arbeiten und haben nie Zeit, das Leben zu genießen. Ein Freund wollte mich eigentlich sehen als ich dort war, aber er hatte dann keine Zeit, weil er arbeiten musste. Das war enttäuschend.“ Das muss man sich mal vorstellen, da fliegt so ein junger Mensch aus einer bescheidenen Welt nach Amerika, in das Paradies für Überfluss und Konsum, aber fühlt sich dort nicht wohl und kehrt gerne in seine kleine Welt zurück. Diese Größe muss man mit 16 Jahren erstmal haben.

Auch weil ich oft Freude daran finden kann, schwierige Schüler zu beobachten und vielleicht zu erkennen, mit welchem Thema, mit welcher Arbeitsweise man sie aus ihrem Panzer locken kann, tendiere ich im Moment wieder dazu, Lehrerin zu werden. Ich werde immer öfter und in immer kürzeren Abständen von allen möglichen Leute gefragt, ob ich mich dann jetzt schon entschieden hätte und was und wie und warum und so weiter…
Nein, ich habe mich noch nicht entscheiden!

Ein bisschen Zeit ist ja auch noch. Jetzt bringe ich erstmal den Schüleraustausch hinter mich, der zwar bestimmt spaßig, aber sicherlich auch anstrengend wird und dessen Vorbereitung mich schon einige Nerven gekostet hat, wenn ein Schüler zwei Wochen vorher feststellt, dass er ja gar keinen Reisepass besitzt, dann lerne ich weiter Montenegrinisch, die Sprache, die ich eigentlich wirklich gern mag, die mich aber manchmal doch zur Verzweiflung treibt, wenn ich z.B. erfahre, dass es ein Wort für Onkel mütterlicherseits und eins für Onkel väterlicherseits gibt, weil das ja zwei grundverschiedene Dinge zu sein scheinen, und wenn ich dann damit fertig bin, dann weiß ich vielleicht auch endlich, ob der Lehrerberuf das Richtige für mich ist.

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