Es war soweit, das Zwischenseminar, mal gefürchtete, mal herbeigesehnte Markierung auf meiner einjährigen Wegstrecke, stand an. Ich wusste nicht so recht, was mich erwartete. Die Infos im Vorfeld waren ziemlich dünn und ich war mehr damit beschäftigt, panisch die Anreise zu planen, als mich damit zu beschäftigen, wo ich eigentlich hinreise. Ich war von Kopf bis Fuß auf Chaos eingestellt!
Und das ging auch schon bald los: Damit ich mich auf der langen Fahrt nicht so einsam fühle, bestellte ich mir moralische Unterstützung aus Tirana. Meine liebe Kollegin Sarah wollte am Samstag anreisen, eine Nacht hier schlafen und dann gemeinsam mit mir den Bus Richtung Serbien besteigen. Der Plan war ausgefeilt, ich kannte die genaue Ankunftszeit, versicherte mich mehrmals ob das auch stimmte und stand pünktlich um 12 in Ulcinj am Busbahnhof, um sie abzuholen. Doch ich durfte feststellen, dass die Ankunftszeit recht wenig nützt, wenn man den Ankunftsort nicht kennt. Der Busfahrer war nämlich ein ziemlicher Depp, er setzte Sarah an irgendeiner Tankstelle ab… Nach viel Verwirrung, viel Hin- und Hergelaufe und teuren Handytelefonaten, fanden wir uns und traten den Heimweg an. Wir schafften es gerade noch, ein festliches Mahl zu zaubern, bevor es den nächsten obligatorischen Stromausfall gab. Voller Tatendrang gingen wir ins Bett.
Am nächsten Tag fuhren wir gegen Mittag mit dem Bus nach Podgorica. Wir waren mit Dragana verabredet, einer Französisch-Lehrerin aus Podgorica, die ich beim Video-Workshop kennengelernt habe. Sie zeigte uns ein bisschen die Stadt, wir besuchten erst eine winzige Kirche aus dem 13. Jahrhundert, bevor wir, um den Kontrast zu erhöhen, einen modernen orthodoxen Tempel aufsuchten, der uns mit seinen bunt bemalten Wänden und Kuppeln auf der Grundfarbe Gold fast erschlagen hat.
Dann gingen wir in eine Bar namens „Munchen“. Sie sollte nach der berühmten Landeshauptstadt mit dem unsympathischen roten Fußballclub benannt sein, aber für Ü-Punkte war wohl kein Geld mehr da. Das Innere der Bar überraschte mich allerdings. Ich fand eine moderne, aber trotzdem gemütliche Kneipe vor, die einzigen typischen Deutschland-Klischees, die dargestellt wurden, waren die Lederhosenschürzen der Kellner und die Bierdeckel mit deutschen Biermarken. Weil es aber sehr laut war zog es uns schnell weiter. Wir schauten uns noch einige Sachen an, ich stellte überrascht fest, dass das serbische Wort für Esskastanien exakt das pfälzische ist und ich polierte mein Französisch ordentlich auf. Nach dem Abendessen setzten Sarah und ich uns erwartungsfroh in den Bus Richtung Belgrad.
Doch leider gibt es in Montenegro nicht nur nette Menschen. Die Herrschaften vor uns stellten die Sitze trotz Beschwerden unsererseits so weit zurück, dass ich mir das erste Mal wünschte, vom Busfahren wirklich kotzen zu müssen, ich hätte der Frau nämlich direkt ins Gesicht gespuckt. Zehn Stunden saßen wir eingequetscht in einem vollen, überheizten Bus, das Highlight war die Pause nachts um 3 an einer Tankstelle irgendwo in Serbien, weil wir mal aussteigen konnten, sodass das Blut wieder in unsere Füße kam. Da es dem Mann hinter mir nicht zuzumuten war, seine Gitarre im Gepäckfach unterzubringen, konnte ich auch nicht nach hinten ausweichen, sodass wir eingerostet und vollkommen übermüdet um 7 Uhr morgens in Belgrad ankamen.
Wir gingen erstmal Geld wechseln, dann Kaffee trinken und dann spazieren, bis wir um 9 Uhr auf die Freiwilligen aus Slowenien treffen sollten, die die Nacht in Belgrad verbracht hatten. Nachdem wir uns verlaufen hatten und mit Mühe den Busbahnhof wiedergefunden hatten, frühstückten wir und stiegen dann in einen Bus nach Sremski Karlovci, wo unser Seminar stattfinden sollte. Durch eine Mischung aus Übermüdung und elendem Geschaukel im Bus wurde mir erneut so schlecht, dass ich die aus dem Flugzeug geklaute Kotztüte schon griffbereit hatte. Ich überstand alles ganz gut, doch als wir mittags im Eco-Centar ankamen, wollte ich am liebsten nur noch schlafen.
Das durfte ich aber erst nach dem Abendessen, denn vorher stand ausgiebige Wiedersehensfreude mit den anderen Freiwilligen auf dem Programm. Einige kannte ich schon vom Vorbereitungsseminar, andere lernte ich jetzt kennen. Auch unsere wunderbaren Teamer, Amelie und Nenad, standen bereit, begrüßten uns und stellten den Plan vor. Klang sehr vielversprechend, aber ich konnte mich eigentlich auf nichts konzentrieren. Ich war dankbar als der Tag vorbei war, ging um 8 Uhr ins Bett und schlief durch bis zum nächsten Morgen.
Die nächsten Tage waren vollgepackt mit Highlights. Wir beschäftigten uns zunächst mit einem Rückblick auf unsere Tätigkeiten in der Einsatzstelle, was wir bis jetzt so gemacht haben, was es vielleicht für Probleme gab. Auch für uns selbst schauten wir zurück. Sind wir zufrieden mit dem bisherigen Verlauf unseres FSJs, was läuft gut und was nicht und wie geht es mir eigentlich wirklich? Diesen ausgedehnten Raum zur Selbstreflexion fand ich schon auf dem Vorbereitungsseminar so angenehm, weil man ohne Druck ehrlich zu sich sein kann. Am Dienstagabend gab es z.B. noch die Möglichkeit, alle möglichen heiklen Themen in geschlechtergetrennten Gruppen zu besprechen.
Am Mittwoch setzten wir uns kritisch mit unserem Freiwilligenprogramm Kulturweit auseinander. An dem immer wieder aufkommenden Vorwurf des Kulturimperialismus ist eben doch mehr dran, als ich mir zunächst eingestehen wollte. Deutschland hat das Geld und auch die strukturelle Macht, seine Sprache, seine Kultur und seine Werte z.B. über die Goethe-Institute oder den Auslandsschuldienst zu verbreiten. Als Freiwillige ist man zwangsläufig Teil dieses Systems. Doch die oft gezogene Schlussfolgerung, nämlich dass man kulturweit abschaffen sollte, teile ich absolut nicht. Wir Freiwillige werden wirklich intensiv darauf vorbereitet, alles kritisch zu hinterfragen. Was ich aus meinem Freiwilligendienst mache, ist meine Sache und ich denke nicht, dass ich ohne zu hinterfragen, die Agenda des Auswärtigen Amtes übernehme und willfährig das ausführe, was sich die unglaublich wichtigen Damen und Herren des Außenministerium da so überlegt haben. Das finde ich auch ganz wichtig, denn was diese wichtigen Herr- (und Frau-)schaften sich sonst so zu Schulden kommen lassen, erfuhren wir dann am Donnerstag.
Zunächst will ich aber noch vom Mittwochnachmittag erzählen. Es stand ein Ausflug auf dem Programm. Wir fuhren nach Novi Sad und bekamen eine unkonventionelle Stadtführung von Miloš, einem politischen Aktivisten aus Serbien, der sich stark antifaschistisch engagiert und gegen den gesellschaftlich großflächig anerkannten Nationalismus in Serbien kämpft.
Antifaschismus in Serbien lässt sich nicht vergleichen mit dem in Deutschland. Die Antifaschisten hier sind die Buhmänner. Sie müssen im Untergrund und oft in der Illegalität agieren und werden häufig auch von Staat und Polizei behindert, wenn nicht gar attackiert. Miloš zeigt uns einige wichtige Gebäude der Stadt, führte uns an der Donau entlang bis zu einem Denkmal für die Opfer der Naziverbrechen in Novi Sad.
Ich war wieder erschüttert, wie wenig man in der Schule lernt. Wir haben uns ausführlich mit Nationalsozialismus beschäftigt, auch mit den Gräueltaten, aber die einzelnen konkreten Massaker sind einem doch weitestgehend unbekannt. Die Nazis hackten im Winter Löcher in die zugefrorene Donau und trieben tausende Menschen in den entsetzlichen Tod unterm Eis. Allein die Vorstellung war so furchtbar, dass ich sehr froh war, dass es bis zum nächsten Ort unserer Führung zwei Kilometer Fußmarsch an der Donau waren, weil man sich dann mal so seine Gedanken machen konnte.
Nach diesem nachdenklichen Spaziergang kamen wir im Hauptquartier der Antifaschisten an. Das „social center“, ein ehemaliges, soweit ich das verstanden habe besetztes, Fabrikgebäude. Ziemlich runtergekommen, aber absolut authentisch.
Leider auch sehr schwer zu heizen, was wir in den folgenden Stunden bibbernd feststellen konnten. Wir durften nämlich jetzt alle möglichen Fragen stellen. Über die Unterstützung der Gruppe für die Vertriebenen aus Syrien und anderen Kriegsgebieten, die seit Monaten auf der Balkanroute unglaubliches Leid ertragen müssen, über politisches Engagement in Serbien allgemein und über die wichtigen Diskurse der serbischen Gesellschaft. Ich lernte in dieser kurzen Zeit mehr über politische und gesellschaftliche Strukturen als in meiner gesamten Zeit bisher in Montenegro, weil ich in meinem kleinen, idyllischen Ulcinj von solchen Themen eher weniger berührt werde. Einzig die Demonstrationen in Podgorica gaben mir das Gefühl, dass die Probleme und die Zerrissenheit des Balkans irgendwie näher kommen. Auch hierzu konnte Miloš mir gute Auskünfte geben. Er stammt selbst aus Montenegro und weiß deshalb genau, welcher Natur diese Demonstrationen waren. Er erklärte uns, dass Montenegro eine Art Sonderfall ist, weil die Nationalisten in Montenegro die Serben sind. Große Teile der Bevölkerung sehen sich nicht als Montenegriner, sondern als Serben, und kämpfen deshalb gegen die Ausrichtung des Landes gen Westen, weil Serbien traditionell eher an Russland orientiert ist. Miloš sagte aber auch, dass man die Proteste nicht überbewerten darf, die Leute dort hätten einfach eine Menge Böller gezündet und es so in die Tagesschau geschafft.
Nach dem langen Gespräch wollten wir noch etwas essen, es verschlug uns in ein serbisches Fast-Food-Restaurant, das wirklich nett war. Die böse Überraschung wartete auf die Mädels auf der Toilette. Die Innenseite der Tür war wirklich unkonventionell dekoriert und so durfte uns dieser sympathische Zeitgenosse beim Pinkeln zusehen.
Nach unserer Rückkehr verschlug es uns mit Vlada, dem Mann vom Hotel, noch in eine Sportbar. Er versuchte verzweifelt, uns Mädels Darts beizubringen, was damit endete, dass ich oft nicht mal das Brett traf, Ann-Kathrin, die als einzige die Regeln bis zum Schluss nicht wirklich begriffen hatte, gewann und Vlada und Lena, die im Team spielten, eigentlich dauerhaft ins Zentrum trafen, die anderen Felder aber nie trafen. Naja, er hat sein Bestes gegeben und kann wirklich nichts dafür, dass es uns schlussendlich doch wieder an den Kickertisch verschlug, wo wir uns allerdings nicht wirklich besser anstellten.
Der Donnerstag war für Themen-Workshops reserviert. Nenad beschäftigte sich mit uns mit dem Thema Flucht&Asyl, und zwar nicht nur auf dem Balkan, sondern besonders auch in Deutschland. Zuerst gab es einige Zahlen und Fakten, die die zuweilen hysterische Berichterstattung der letzten Monate in einem ganz anderen Licht darstellte. So nahm Deutschland zu Zeiten des Balkan-Kriegs in den neunziger Jahren wesentlich mehr Flüchtlinge auf als heute. Und an alle die, die mit erschreckender Regelmäßigkeit den Untergang unserer Kultur und unserer Gesellschaft heraufbeschwören, sollte sich mal fragen, was für eine Kultur das ist, die Kriege verursacht, sich auf dem daraus entstehenden Wohlstand ausruht und den leidenden Menschen, denen wir mit unserer Außenpolitik die Heimat geraubt haben, dann nicht mal hilft, sondern sie den nationalistischen Strömungen in Ländern wie Serbien und Ungarn aussetzt, sie in Zelten erfrieren und verhungern lässt und glaubt, dass man, wenn man sagt, nur soundso viele dürfen kommen, das Problem löst.
Wir haben uns ausführlich mit Fluchtursachen beschäftigt und ich kann deutlich sagen: Wir sind schuld. Ich sprach oben bereits von meiner persönlichen Abgrenzung zur deutschen Außenpolitik und wenn man sich ein bisschen tiefer in die Thematik begibt, weiß man warum. Ich will dafür nicht verantwortlich sein. Unabhängig von Kriegen und Kriegsflüchtlingen, was gerade so in Afrika abgeht, ist wirklich erschütternd. Noch erschütternder ist allerdings, dass so wenig bekannt ist. Über all den (sehr berechtigten) Protest gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP haben wir nämlich übersehen, dass die EU mit fast allen afrikanischen Ländern ein solches Freihandelsabkommen hat. Die Länder, die die Unterzeichnung verweigerten, wurden mit Strafzöllen belegt, bis sie keine Wahl mehr hatten und ihre Wirtschaft noch mehr am Boden lag, als sie es ohnehin schon tat. Man muss sich mal bewusst machen, was Freihandel bedeutet. Export wird, durch die Abschaffung von Zöllen, billiger und einfacher, Import wird teurer, weil man eben die Einnahmequelle des Zolls verliert. Das mag für ein Land wie Deutschland ganz toll sein, es mehrt den Wohlstand, von dem wir glauben, dass wir ihn uns mühsam erarbeitet haben. Für die afrikanischen Länder, die kaum exportieren, sondern durch historischen und modernen Kolonialismus von Importen abhängig sind, ist das ein klares Verlustgeschäft. Die Märkte werden mit billigen europäischen Produkten geschwemmt, die einheimischen Produktionen gehen kaputt und den Menschen wird die sowieso schon dünne Lebensgrundlage entzogen. Sie haben die Wahl, sterben oder fliehen. Und obwohl das zweite mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem ersten zusammenhängt, entscheiden sich immer mehr Menschen verständlicherweise, ihrer Heimat, die sie wahrscheinlich nie verlassen wollten, den Rücken zu kehren und an unserem Wohlstand teilzuhaben.
Ich möchte versuchen, zu erklären, warum ich in diesem Blog, der sich ja mit meinem Auslandsaufenthalt beschäftigt, so ausführlich über dieses Thema berichte. Zuallererst beschäftigt es mich natürlich auch außerhalb von Deutschland als Mensch, wenn andere Menschen auf meine Kosten so leiden müssen. Ich nehme mich von der Kritik nicht aus, auch ich profitiere tagtäglich vom Wohlstand unserer Gesellschaft. Außerdem bin ich mir durch kulturweit meiner Privilegien sehr bewusst geworden. Ich bin innerhalb der deutschen Gesellschaft privilegiert, weil so ein Auslandsaufenthalt natürlich nicht für alle erschwinglich ist. Meine Eltern können es sich leisten, mich zu unterstützen. Ich stelle hier dann natürlich fest, dass jeder Deutsche im Vergleich zu den Menschen in Montenegro privilegiert ist. Wir haben Zukunftsperspektiven, Bildung hilft uns, soziale Gräben zu überspringen und wenn wir scheitern, fängt uns ein soziales Netz auf. All das haben die Menschen hier nicht und sie sind trotzdem so wunderbar. Das macht mich demütig, denn es zeigt, dass Glück nicht mit Geld zu tun hat und Freundlichkeit schon gar nicht. Es bereichert mich zu sehen, mit wie wenig man zufrieden sein kann.
Das kann aber trotzdem nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich dringend etwas ändern sollte, denn in der bewegten Geschichte des Balkans hatte Deutschland auch gehörig seine Finger im Spiel, was mich zu unserem zweiten Workshop bringt. Antiziganismus, klingt erstmal nicht wie unser dringendstes Problem. Jeder weiß, man soll nicht mehr Zigeuner sagen, es heißt jetzt Sinti und Roma. Das war’s dann aber in den meisten Fällen auch schon mit unserer Auseinandersetzung mit diesem Thema. Auch hier nehme ich mich nicht aus, ich habe mich auch nie intensiv damit beschäftigt und war dementsprechend gespannt, was mich erwartete. Und das war erschreckend. Wir beschäftigten uns mit der Geschichte der Roma, was macht diese Gruppe aus, was sind das eigentlich für Leute. Dazu lasen wir Lexikonartikel aus verschiedenen Jahrhunderten und stellten fest, dass sich die Situation nicht wirklich gebessert hat. Die Diskriminierung wird nur nicht mehr so offen zur Schau gestellt, sondern offenbart sich in Vorwürfen, wie z.B. dass die Roma unser Sozialsystem ausnutzen würden. Dieser Standpunkt, von gewissen bayerischen Parteien immer wieder erfolgreich vertreten, ist genauso haltlos wie diskriminierend. Doch auch große, eigentlich für seriös gehaltene Medien wie der Spiegel gingen dem auf den Leim, wie ein Spiegel-TV-Beitrag aus dem Jahr 2011 zeigt. Offen wird behauptet, Roma kämen nur in unser Land, um Sozialhilfe zu kassieren. Sie würden alle Gewerbe anmelden, um in Deutschland bleiben zu dürfen und alle ihre Kinder zum Betteln schicken. Diese Vorurteile treffen vielleicht teilweise auf die Roma zu, die man auf der Straße an ihrer Kleidung erkennt, weil man, aus welchem Grund auch immer, ja anscheinend genau weiß, wie Roma auszusehen haben, davon abgesehen, dass die bettelnden Roma das ja auch nicht freiwillig machen, sondern weil sie einfach von keinem Arbeitgeber eingestellt werden und in der Arbeitswelt so strukturell benachteiligt sind, dass Integration kaum möglich ist. Dass viele aber integriert sind, ein ganz normales Leben leben, arbeiten und Geld verdienen, nehmen wir nicht war, weil sie nicht unserem Stereotyp von Roma entsprechen. Und so breiten sich diese Anschauungen immer weiter aus und werden in der Politik hoffähig und zum Wahlkampfthema. Dieser Sachverhalt erscheint uns vielleicht nicht so schlimm und dringend, aber für die betroffenen Personen muss es der Horror sein. Viele verheimlichen ihre Identität, weil sie Benachteiligung fürchten und allein diese Tatsache sollte uns zu denken geben.
Hier kommen wir auch wieder auf die unrühmliche Rolle des deutschen Staats zu sprechen. Als im Kosovo nach dem Zerfall Jugoslawiens Unabhängigkeitsbestrebungen aufkeimten, wurden diese von Deutschland unterstützt. Wir erkannten den Kosovo auch sofort als eigenen Staat an, als die Loslösung von Serbien offiziell wurde. In einem Atemzug damit schlossen wir dann sofort ein Rückführungsabkommen, nach dem Motto, wir haben euch anerkannt und unterstützt, jetzt tut auch mal was für uns, was es Deutschland erlaubt, Vertriebene des Krieges, darunter viele Roma, in den Kosovo zurückzuschicken, wo sie immer noch schlimmsten Schikanen ausgesetzt sind. Diese Art von Politik, aus dem Auge, aus dem Sinn, ist so furchtbar und hat so viele schreckliche Folgen, dass ich mit aller Kraft versuchen muss, mich ideologisch von meinem „Arbeitgeber“ zu entfernen und zu zeigen, dass Deutschland mehr ist als diese imperialistische Machtpolitik.
Die Berichte über die Workshops sind ein bisschen ausgeufert, das tut mir leid, Glückwunsch, wer bis hier durchgehalten hat, aber man sieht, wie mich diese Themen beschäftigen und wütend machen. Ich war ziemlich aggressiv, nachdem wir so viel Themeninput bekommen hatten, und ich will versuchen, diesen Zorn in etwas Konstruktives umzuwandeln, um die Welt zu verbessern. Ich glaube nämlich nach wie vor fest daran, dass das geht, und das Wundervollste an unserem Seminar war, dass keiner, weder Teamer noch Teilnehmer, versucht haben, mir meinen Idealismus kaputt zu machen. Oft wurde ich noch bestärkt und das ist meiner Meinung nach der richtige Weg, denn der naive Idealismus der kommenden Generation ist unsere letzte Hoffnung, das Ruder noch rumzureißen und die Welt zu retten. Man darf ruhig ein bisschen spinnen und träumen, vielleicht ist das das beste Klima für tolle Ideen.
Diese tollen Ideen brauchten wir auch, als es darum ging, unsere Freiwilligenprojekte zu planen. Eine große Brainstormoffensive half, sich zu überlegen, was möglich ist, und was Spaß macht. Hier mal kompakt die Ergebnisse: Ich möchte die Fußballszene auf dem Balkan kennenlernen, verschiedenen Stadien und Mannschaften besuchen und Fanschals sammeln. Ich bin gespannt, inwiefern sich das verwirklichen lässt, kostet das doch schon eine Menge Zeit und Geld, doch ich bin hochmotiviert und auf akutem Betze-Entzug. Das muss ich irgendwie kompensieren und so sammele ich gerade Infos über alle mögliche Ligen und Vereine und werde mich hoffentlich bald auf mein erstes Abenteuer begeben können.
Des Weiteren schreibe ich auch weiterhin Gedichte, die eigentlich ganz gut widerspiegeln, was ich so erlebe und wie es mir geht, das wäre also auch eine Möglichkeit.
Auch mit den Schülern kann ich mir einiges vorstellen. Es dürfte in früheren Artikeln bereits durchgesickert sein, dass ich ein großer Fan meiner Schüler bin. Ich würde sie z.B. gerne zu verschiedenen Themen Aufsätze schreiben lassen, um zu sehen, wie sie z.B. Themen wie Frieden, Freiheit oder Liebe definieren. All das steckt noch in den Startlöchern, aber ich werde weiterhin fleißig berichten.
Das Seminar war alles in allem sehr anstrengend, aber wirklich bereichernd. Es hat mir für meine verbleibende Zeit noch einige Anstöße gegeben, ohne alles in Frage zu stellen, was ich bisher gut fand. Der Austausch mit meinen Mitfreiwilligen war auch sehr hilfreich, man konnte reflektieren und auch kleinere Probleme schnell lösen.
Da wir uns neben allem anderen auch wirklich gut verstanden haben, verbrachten fast alle das Wochenende noch gemeinsam in Novi Sad. Wir schauten uns einiges an, quatschten viel und hatten einfach Spaß. Es war toll, mal wieder Zeit mit Gleichaltrigen zu verbringen, denn das fehlt mir schon ein bisschen. Wir waren einfach eine tolle Truppe und es hat sehr viel Spaß mit euch gemacht!!! Wiederholung dringend erforderlich!
Am Sonntag hieß es dann aber Abschied nehmen. Da unser Zug morgens in Belgrad abfuhr, mussten wir um halb 5 aufstehen, um rechtzeitig mit dem Bus da zu sein. Der Zug überraschte uns positiv. Er war sehr komfortabel, nur ein bisschen überheizt. Die 11 Stunden-Fahrt durch hohe Berge und tiefe Täler ließ sich aber wirklich gut ertragen. Der Ausblick war spektakulär bis atemberaubend, der Zug pünktlich (!) und der Schaffner freundlich. Sieh hin, Deutsche
Bahn, und lerne!
Nur die Fenster dürften mal wieder geputzt werden… 😀
Ziemlich übermüdet kamen Sarah und ich etwa um 10 Uhr abends in Ulcinj an. Wir stiegen aus und wurden vom milden Wetter überrascht. Es war zwar auch kalt, aber wirklich erträglich im Vergleich zu Serbien. Mir war nicht klar, wie sehr ich Ulcinj vermisst hatte. Ich ahnte es schon, da ich die ganze Woche in der Mittagspause, wenn andere ein Schläfchen hielten, spazieren ging, weil mir das Laufen fehlte. Aber als wir die große Straße entlang gingen, wurde es mir plötzlich sehr deutlich, denn eine Frau kam uns entgegen. Ich kannten sie nicht, hörte nur, wie sie uns ansprach. Da ich mittlerweile ein absoluter Serbisch-Profi bin, brauchte ich nur einige Minuten, bis ich verstand, was sie von uns wollte. Sie fragte, ob wir denn schon einen Schlafplatz hätten, weil wir so spät mit viel Gepäck durch die Straßen liefen und sie machte sich Sorgen um uns. Das ist Ulcinj pur! Und als ich am nächsten Morgen von der Oma meiner Vermieterfamilie zwei riesige Killerzitronen geschenkt bekam, einfach so und ohne großen Kommentar, war es vollends um mich geschehen.
Ich bin wieder angekommen, ich rieche das Meer und höre den Muezzin und fühle mich zu Hause.
Zum Schluss eine sehr gute Nachricht: Der Film, der in unserem Videoworkshop entstanden ist, ist endlich hochgeladen und ist hier zu sehen.
PASCH-Video-Workshop: Montenegro als multikultureller Staat
Wie funktioniert das Leben in einem multikulturellen Staat? Dieser Frage sind 18 PASCH-Schülerinnen und -Schüler aus verschiedenen Regionen Montenegros nachgegangen. Das Video entstand im Rahmen eines interkulturellen deutschsprachigen Video-Workshops in der multiethnischen Stadt Ulcinj.
Posted by PASCH-net on Freitag, 20. November 2015
Ich kann jedem nur empfehlen, ihn sich anzuschauen. Er gibt neue Hoffnung in die Menschheit, die Menschlichkeit und die Jugend. Und vielleicht versteht ihr ein bisschen besser, warum ich immer so euphorisch werde, wenn es um diese meine Stadt geht. Teilen ist ausdrücklich erwünscht, damit unsere Botschaft noch mehr Menschen erreicht 🙂