Als ich mich für den Freiwilligendienst beworben habe, kamen bei meinen Verwandten schnell Bedenken auf. Was, wenn ich nicht mehr zurück komme? Was, wenn ich, O-Ton Mama, einen mongolischen Bergbauern heirate, oder, O-Ton Oma, mich in einen Afrikaner verliebe?
Jetzt bin ich ja weder im kalten Asien noch im heißen Afrika gelandet, sondern im wunderschönen Montenegro. Ich machte mir bisher wenig Gedanken übers Heiraten, es gab auch absolut keinen Anlass. Bis jetzt! Am Dienstag wartete ich nach dem Unterricht etwa zwei Stunden, bis mein Sprachunterricht anfangen sollte. Weil ich keine Lust hatte, nach Hause zu latschen, den Berg hoch, nur um dann vielleicht eine halbe Stunde zu Hause zu sein, und den ganzen Weg dann wieder zurück zu laufen, suchte ich mir eine nette Bank am Straßenrand und lernte meine Vokabeln. Das hatte ich nämlich mal wieder vergessen. Meine Schulzeit holt mich ein, es war eine gute, alte Tradition, dass ich die Französisch-Vokabeltests in beängstigender Regelmäßigkeit aus meinem Bewusstsein gestrichen habe und die Philosophie-Doppelstunde vorher dann mit Bulimie-Lernen zubrachte. Was soll ich sagen, es hatte immerhin für 13 Punkte im Abi gereicht.
Lange Rede, kurzer Sinn, ich saß also mit gesenktem Kopf unter einem Baum in der Sonne und nahm um mich herum nicht mehr allzu viel wahr. An mir gingen ständig Leute vorbei, aber ich beachtete sie nicht weiter. Doch dann blieb ein alter Mann plötzlich vor mir stehen. Ich hob den Kopf und schaute ihn an. Er sagte etwas auf Albanisch. Ich zuckte nur mit den Schultern und sagte ihm mit meinen drei Brocken Montenegrinisch, dass ich Deutsche bin und kein Albanisch spreche. Er antwortete dann mit einem herzlichen „Kako si?“, ich sagte „Dobro“. Dann nahm er meine Hand, gab mir einen Handkuss und ging weiter. Ich blickte ihm ungläubig nach.
Als ich mich gerade noch von diesem Erlebnis erholte, kam eine alte Frau und sagte etwas auf Montenegrinisch, das ich nicht verstand. Ihre Handbewegung deutete ich aber so, als würde sie mich fragen, ob sie sich neben mich setzen darf. Ich sagte ja und erklärte auch ihr, woher ich komme und dass ich kein Montenegrinisch spreche. Als ich nemački sagte, fingen ihre Augen an zu leuchten und sie begann, mich regelrecht zuzutexten. Sie hatte vor 50 Jahren in Deutschland als Gastarbeiterin in einer Kleidungsfabrik als Näherin gearbeitet. Die Frau war ein Phänomen, sie sah aus wie 60, war aber schon 78. Sie erzählte mir, dass sie im Sommer jeden Tag Schwimmen geht und im Winter würde sie jeden Tag 6 km durch die Gegend laufen, um sich fit zu halten. Am Anfang holperte ihr Deutsch ein bisschen, weil sie seit 50 Jahren nicht mehr in Deutschland war, aber nach und nach fand sie immer mehr zurück in diese Sprache. Und als sie nach etwa einer Viertelstunde ihren Enkel anrufen wollte und etwas mit ihrem Handy nicht klappte, saß sie so neben mir und fing an, ihr Handy auf Deutsch zu beschimpfen: „So eine Scheiße, warum geht das denn nicht? Scheißdreck!“. Wir quatschten eine ganze Weile, bzw. sie quatschte und ich hörte zu, und irgendwann schaute sie mich wie aus dem Nichts an und sagte: „Du bist sehr hübsch!“. Ich bedankte mich artig für das Kompliment und dachte mir nichts weiter dabei. Mir passiert das hier nämlich öfter, dass wildfremde Menschen mich auf der Straße ansprechen, um mir zu sagen, wie schön ich bin. Nach ein paar Minuten wiederholte sich das Schauspiel: „Du bist wirklich sehr hübsch. Am Ende vom Jahr wirst du verheiratet sein!“ Ääääääh, Moment mal, da habe ich ja vielleicht auch noch ein Wörtchen mitzureden. In unserem etwa halbstündigen Gespräch erwähnte sie etwa zehn Mal wie hübsch ich doch bin und etwas fünf Mal, dass sie sich sicher ist, dass ich hier heiraten werde. Ich wurde ein bisschen misstrauisch, als sie immer mehr von ihrem Enkel erzählte, der wohl gar nicht ihr echter Enkel ist, sondern ein bosnischer Flüchtling der Balkankrieges, den sie bei sich zu Hause aufgenommen hat. Ich ahnte die Richtung, die das Gespräch nehmen würde und verabschiedete mich artig, ich müsse jetzt gehen, weil mein Unterricht anfing. Das stimmt auch, ich kam sogar zu spät und hatte mir schon einen Spruch zurecht gelegt, mit dem ich mich entschuldigen würde („Tut mir leid, dass ich zu spät bin, aber eine Frau wollte mich mit ihrem Enkel verheiraten“), aber mein Lehrer war auch zu spät, also blieb mir die Ausrede erspart.
Weil mich diese ständigen Komplimente ein bisschen verunsicherten, versuchte ich bei meinen Mit-Balkan-Freiwilligen Sarah und Christina zu erfahren, ob es ihnen auch passiert, aber sie antworteten beide, dass das wohl was mit mir zu tun haben muss. Ich scheine hier irgendein sehr seltsames Schönheitsideal zu erfüllen. Sehr mysteriös…
In der Schule ist gerade eine sehr stressige Zeit zu Ende gegangen. Weil das Noten eintragen so Spaß macht, darf man es gleich doppelt, online und in den Klassenbüchern, und auch gleich dreimal im Jahr machen. Elend nervig! Bis ich das serbische Computerprogramm verstanden hatte, und das auch nur mit Hilfe der Liste von Übersetzungen, die mein Vorgänger angefertigt hat (Danke!), vergingen viele Stunden. Die Klassenbücher delegierte ich einfach mal gleich an die Schüler und kontrollierte nur, dass sie sich nicht alle eine 5 eintragen. Und ganz wichtig, die schriftliche Note in Blau, die mündliche in Rot und die Endnote auf jeden Fall mit Bleistift! Warum erschließt sich mir nicht ganz, aber ich habe aufgehört, nachzufragen. Zusätzlich dazu durfte ich noch eine ganze Menge Tests korrigieren. Jetzt weiß ich auch, warum alle Lehrer das Korrigieren hassen. Am Anfang kann man sich noch mega wichtig fühlen mit seinem Rotstift, aber die Spannung lässt sehr schnell nach und man beginnt, die Schüler zu schätzen, die Lücken freilassen, wenn sie sie nicht wissen und nicht auf gut Glück irgendwas reinschreiben, das ich dann wieder korrigieren muss. Aber das ist Gott sei Dank erst mal geschafft, wobei meine Kollegen meine Euphorie gleich dämpften und mir begreiflich machen wollten: „Nach dem Zeugnis ist vor dem Zeugnis!“. Egal, jetzt genieße ich erstmal die zwei Ausgleichstage am Montag und Dienstag, an denen der Unterricht ausfällt, weil die Lehrerkonferenz, zu der wir gar nicht hinmüssen, heute am Samstag stattfindet.
Die Zeit muss ich nutzen, um umzuziehen. Meine Vermieter haben gerade irgendwelche Bauarbeiten und stellten mir in Aussicht, dass es einen Monat elend laut sein wird. Sie boten mir an, in das andere Haus gegenüber zu ziehen, das ihnen auch gehört. So bin ich jetzt gerade am Koffer packen, was sich irgendwie seltsam anfühlt, weil ich ja noch bleibe und nicht nach Hause fahre. Das andere Apartment ist zwar größer, ich verliere aber meinen hammergeilen Meerblick. Deshalb hoffe ich, dass ich in einem Monat wieder zurück darf.
Der Meerblick lohnt sich nach wie vor total, das Wetter ist nämlich nach einer kurzen Regenphase wieder wundervoll. Es ist über 20°C, die Sonne scheint und im Laufe der nächsten Woche werde ich mich auf jeden Fall nochmal zum Schwimmen aufraffen, nur damit ich sagen kann, ich war im November im Meer schwimmen. Das Wasser ist angeblich noch warm genug, ich lasse ich überraschen!
Ich habe überrascht festgestellt, dass das Zwischenseminar ja gar nicht mehr lange hin ist. Ich bin schon knapp zwei Monate hier und habe immer noch nicht das Gefühl, dass Normalität eingekehrt ist. Eigentlich ist das ganz cool, weil es dann auf keinen Fall langweilig wird. Ich bin gespannt, was die nächsten Monate so bringen werden, was in der Schule passiert und was sonst so los ist. Es gab die Idee, dass ich z.B. für schlechtere Schüler irgendeine Art von Förderunterricht geben könnte. Das ist bedingt durch ein wiederum unglaubliches Erlebnis, das ich mit einer Schülerin hatte. Wir wollten in der ersten Klasse anhand der Zeugnisnoten ein bisschen sortieren. Einige Schüler sind in der Deutschklasse, in der ja nur die besten unterrichtet werden sollten, eindeutig falsch, weil sie nichts verstehen. Diese Schüler sollen lieber wieder in ihre eigentlich Klasse zu einem montenegrinischen Deutschlehrer gehen, damit sie nicht bei uns durch die vom höheren Niveau bedingten, schlechteren Noten demotiviert werden. Wir sagten es den betreffenden Schülern und sie waren größtenteils enttäuscht. Natürlich würden sie lieber bleiben und bettelten auch ein bisschen, aber die meisten sahen es dann ein, dass es so besser ist. Nur ein Mädchen kam nach der Stunde nochmal. Sie erklärte uns, dass ihr die Noten egal sind, sie will einfach Deutsch lernen. Und wenn sie bei uns eine 2 kriegt, wäre das vielleicht bei einem anderen Lehrer eine 4, aber sie will lieber mehr lernen als für nichts gute Noten zu bekommen. Diese Denkweise hat mich persönlich beeindruckt, dass eine 15-jährige in diesen Dimensionen denkt und so entscheidet. Sie durfte bleiben, weil sie sich bewusst ist, dass sie viel arbeiten muss und wir ihr das auch zutrauen, auch wenn die Noten schlecht bleiben werden, weil sie in der Verhältnismäßigkeit mit anderen, die z.T. perfekt Deutsch sprechen, einfach nicht mithalten kann. Für diese Schülerin und auch andere, bei denen es knapp ist, wäre so ein Förderunterricht natürlich hilfreich, mal sehen ob es zustande kommt.
So, dann werde ich noch ein bisschen vor mich hin packen, mein Orchester, das gerade auf Orchesterfreizeit ist, vermissen (Gruß!) und mich freuen, dass ich hier sein darf!