Es war klar, dass es früher oder später passiert! Ein Tag, an dem einfach alles schief geht. Ich bin fast erleichtert, dass so viel Mist an einem Tag abgearbeitet wurde, damit ich möglichst viele Tage komplett genießen kann. Aber von vorne…
Um kurz vor halb 10 sollte die Stunde, die ich geben sollte, beginnen. Das einzige, was heute tatsächlich klappte, war, dass ich nicht verschlafen habe. Ich habe überhaupt eine seltsame Phobie entwickelt. Ich habe solche Panik davor, zu verschlafen, dass ich aus reiner Angst, immer genau fünf Minuten vor meinem Wecker aufwache. Egal zu welcher Uhrzeit. Wenn ich den Wecker dann auf Schlummern stelle, um nochmal eine Viertelstunde zu dösen, schaue ich alle zwei Minuten auf die Uhr, weil ich tiefes Misstrauen gegenüber meinem Handy hege, und immer glaube, dass es mich im Stich lässt. Ich stand also auf und als die ersten Geräusche sich durch meine vom Schlaf verklebten Synapsen im Gehirn vorgearbeitet hatten, wusste ich schon, dass ich eigentlich nicht raus will. Schon wieder Regen, schon wieder Gewitter. Der Tag war mir noch wohlgesonnen, als ich nach draußen trat, die Zuversicht und der Aktionismus schon etwas gedämpft, hörte der Regen auf und ich durfte hoffen, einigermaßen trocken in der Schule anzukommen.
Das klappte auch und ich war sogar so pünktlich, dass ich früher in meinen Klassenraum kam, für den ich jetzt auch endlich einen Schlüssel besitze. Ich dachte: „Prima, dann kann ich schon mal den Film vorbereiten!“ Denkste, mir hatte nämlich keiner verraten, wo der Laptop aufbewahrt wird, wenn keiner im Raum ist. Ich ging einfach mal davon aus, dass er im Schrank ist, aber entweder bin ich vollblind oder es gibt eine geheime Schatzkammer, von der mir noch nicht berichtet wurde. Jetzt war Flexibilität und Spontaneität gefragt, denn die ersten Schüler kamen in die Klasse. Ich musste entscheiden, ob ich das ganze Thema umwerfe und einfach was spiele oder ob wir uns eben ohne Film mit Diskriminierung beschäftigen sollten. Weil mir das Thema einfach zu wichtig ist, machte ich Letzteres. Ich erzählte den Film kurz nach, damit wir trotzdem einen Aufhänger hatten, dann stellte ich einige Fragen zu Rassismus. Es waren sowieso nicht viele Schüler anwesend, und von denen arbeiteten ungefähr vier mit, die Hälfte war kurz vorm Einschlafen und die anderen unterhielten sich so laut, dass ich kurz davor war, sie hochkant rauszuschmeißen. So eine Lehrerausbildung ist glaube ich doch eine ganz nette Sache, wenn man mit sowas klarkommen muss.
Mit den vier Schülern, die mich nicht im Regen stehen ließen, kam dann aber doch eine ganz ansehnliche Diskussion zustande. Ich fragte die Schüler nach anderen Formen von Diskriminierung, außer Rassismus sammelten wir noch Sexismus, Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, Antiziganismus, Christenverfolgung und Homophobie. Ich fragte immer, ob sie glaubten, dass diese Diskriminierungen noch existieren, wenn ja, wo, ob es das in Ulcinj gibt, wie es sich äußert und wie man es verbessern könnte. Ich war anfangs entzückt von den Ideen, die wirklich nicht schlecht waren. Abbau von Vorurteilen, Integration von Sinti und Roma-Kindern, Bildung und Aufklärung. Doch das letzte Thema, Homophobie, entsetzte mich ehrlich gesagt. Jugendliche, die ich als unbeschreiblich tolerant, aufgeschlossen und offen erlebt hatte, erklärten mir, dass man Homophobie bekämpfen solle, indem man die Schwulen zum Psychiater schickt. Ich kenne diese Position, das gibt es in allen Teilen der Welt, auch in Deutschland, aber es traf mich unvorbereitet, sodass ich nicht so recht wusste, wie ich reagieren sollte. Ich versuchte, den Schülern zu erklären, dass diese Meinung auch homophob ist, aber wirklich überzeugt schienen sie nicht. Ich habe mich von der Freundlichkeit, die hier allgegenwärtig ist, ein wenig blenden lassen und die Situation verklärt. Noch deutlicher wurde es in der zweiten Stunde, in der ich dasselbe nochmal veranstaltete. Die Schüler hier waren noch ambitionierter, fast die ganze Klasse diskutierte mit. Alle Themen waren abgearbeitet, die Homophobie kam wieder zum Schluss. Ich wiederholte den Standpunkt der anderen Klasse. Hier war keiner damit einverstanden. Es war mehr Toleranz vorhanden, das spürte ich, also traute ich mich, einen Schritt weiter zu gehen. Ich fragte, was passieren würde, wenn sie zu ihren Eltern gehen würden, um ihnen zu sagen, dass sie homosexuell sind. Einhellige Meinung: „Sie würden uns totschlagen.“ Das entsetzte mich eigentlich noch mehr als die Intoleranz der anderen Klasse, weil es eine Ausweglosigkeit offenbarte, eine Art Teufelskreis, in dem sich jede Generation, und sei sie noch so ambitioniert, immer wieder verliert. Es bleibt nur die Hoffnung, dass irgendwann jemand den Mut hat, das Bestehende zu ändern.
Während wir so vor uns hin debattierten, tauchte auf einmal vor dem Fester eine junge Frau auf. Sie tat nichts, sie stand einfach nur da, rauchte und beobachtete uns. Es war mir höchst unheimlich, die Schüler kannten sie auch nicht, aber sie kam immer wieder. Irgendwann riss ich das Fenster auf, fragte sie auf Englisch, was sie denn will, sie sagte: „Nichts. Ich kucke nur!“. Unsouverän, wie ich in diesem Augenblick war, sagte ich nur OK und knallte ihr das Fenster vor der Nase zu. Es passierten wirklich seltsame Sachen. Plötzlich kam ein Mädchen mit einem Buch rein. Sie sagte irgendwas auf Albanisch, die Schüler antworteten, dann kam sie mit dem Buch auf mich zu und hielt es mir abwartend unter die Nase. Ich konnte nur verständnislos kucken, bis mir die Schüler liebenswürdigerweise erklärten, ich müsse da jetzt unterschreiben. Ich machte das, immer in der Gefahr, aus Versehen eine Waschmaschine zu kaufen oder ein Mordgeständnis zu unterzeichnen, aber mittlerweile war ich soweit, mich einfach in mein Schicksal zu fügen und zu tun, was man mir sagte. Ich weiß nicht, was ich unterschrieben habe, es ging um irgendein Parlament oder so, ich habe nur gesehen, dass da noch mehr Unterschriften waren, also hatte es wohl nichts mit mir zu tun.
Von dem Teilmisserfolg in meiner ersten Unterrichtserfahrung gefrustet stapfte ich nach Hause. Dort machte ich mir erstmal etwas zu essen, wieder kein Festmahl, dazu war ich einfach zu erschöpft, aber es war zumindest essbar.
Während meine Nudeln köchelten, saß ich draußen auf dem Balkon, ließ die Tür ein wenig offen, um zu lüften, was sich später am Tag als großer Fehler herausstellen sollte.
Ich arbeitete noch ein wenig vor mich hin, schrieb Berichte über das Seminar und den Videoworkshop und wertete die Evaluation des Seminars aus.
Dass der FCK verloren hat, trug nicht gerade zur Aufhellung meiner Stimmung bei. Doch während ich mich noch über den Schiedsrichter und die verpassten Chancen ärgerte, huschte in meinem Augenwinkel das Grauen über meinen Boden hinweg ins Badezimmer. Eine winzige Maus. In meinem Blog berichtete ich schon von meiner Angst vor Ziegen mit Bart, meiner Tackerphobie und oben von meiner neuen Angst vor dem Verschlafen. Erich Kästner sagte mal: „Wer keine Angst hat, hat keine Phantasie.“ Das ist scheinbar mein unfreiwilliges Lebensmotto, aber meine Phantasie reicht definitiv nicht aus, um mir auszumalen, was mir eine solche Maus Schlimmes antun könnte. Es ist eine irrationale Panik, die ich schon immer hatte und die ich auch nicht mehr in den Griff kriegen werde. Das Lüften sollte ich jetzt bitter bereuen.
Kurz und gut, mein Alptraum wurde wahr. Ich sitze alleine in einer Wohnung, keine Mausefalle und kein Papa in Sicht, der sie wegmachen könnte. Ich war auf mich alleine gestellt und musste mich tapfer dem Kampf stellen. Mangels besserer Alternativen blockierte ich mit einem Kochtopf und einem Topfdeckel bewaffnet die Tür zum Bad und versuchte, die Maus zu erspähen. Der Plan war soweit gediehen, als dass die Maus in den Topf rennen sollte, Deckel drauf und raus damit. Was ich nicht einkalkuliert hatte, war, dass die Maus ja nicht blöd ist. Warum sollte sie auch in den Topf rennen? Ich jagte sie ein paar Mal hin und her, sie erkundete meine Dusche von innen und machte mal hinter dem Mülleimer sauber. Irgendwann flutschte sie mir dann durch die Beine und rannte quer durchs Wohnzimmer ins Schlafzimmer und versteckte sich unter meinem Rollkoffer, der in der Ecke steht. Ich öffnete die Tür zum Balkon, immer auf die Gefahr hin, dass noch weitere Mäuse meine Wohnung annektierten, und baute in die eine Richtung eine Blockade, sodass die Maus nach meinen Berechnungen nur zur Tür raus rennen konnte. Unter fast unerträglichen Angstzuständen, stupste ich den Koffer mit dem Fuß an, die Maus stürzte hervor, und verschwand Gott sei Dank durch die Tür nach draußen. Puuuuh, erstmal aufatmen. Der Laden steht jetzt noch offen, aber ich schlafe lieber bei offenem Laden, als die Tür jetzt im Dunkeln nochmal zu öffnen und mich den lebensbedrohlichen Gefahren auszusetzen, die da draußen auf mich lauern. Wo sind eigentlich diese bescheuerten Katzen, wenn man sie mal braucht??? Die Miezis sammeln wahrlich keine Sympathiepunkte bei mir!
Ich hoffe, dass ich aus dieser Jagd als gestärkter Mensch hervorgehe, wenn ich es schaffe, eine Maus aus meiner Wohnung zu kriegen, dann kann ich alles schaffen! Jetzt gehe ich, beseelt von meinen Heldentaten, schlafen, und hoffe, dass ich heute Nacht nicht von einem undefinierbaren Trippeln geweckt werde, und dass ich von etwas Schönerem träume als der Jagd auf winzige Mäuse.