1 Jahr Montenegro oder "Jana, wie heißt das Land nochmal"

Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!!!

Vorsicht: Der nun folgende Text kann Spuren von Idealismus, Beschönigung und unreflektierten Schwärmens enthalten. Bitte nur mit ausreichend Hirn und Fähigkeit zum kritischen Hinterfragen konsumieren.

Was ich in den letzten Tagen erlebt habe, ist eigentlich unglaublich. Da ich die von kulturweit gesetzte Arbeitszeit von maximal 40h pro Woche im Moment sowas von überschreite (was sich aber in den kommenden Monaten mehr als ausgleichen wird, wie mir versprochen wurde), fehlt mir die Zeit zur Reflexion dessen, was hier passiert, aber das werde ich hoffentlich bald nachholen können und ich weiß ganz sicher, dass es mich maßgeblich verändern wird.
Ich habe ja schon des Öfteren festgestellt, dass sich meine Vorurteile über die Balkanregion in keinster Weise bestätigen ließen, also habe ich sie auch nach und nach abgelegt. Wie aber die letzten paar Tage mein Weltbild durcheinander gewirbelt haben, ist eigentlich schon absurd. Ich laufe durch Ulcinjs Straßen und spüre einen Anflug von Stolz, dass ich Teil dieser Stadt sein darf, obwohl ich nichts dafür geleistet habe und ja auch nur vorübergehend das Privileg habe, hier zu leben, aber dennoch geht dieses Gefühl nicht mehr weg.
Aber von Anfang an: Nachdem die deutschen Austauschschüler wieder weg waren, die mir in ihrer Verwöhntheit, ihrer negativen Einstellung und ihrem Meckern einen so miesen Kontrast geliefert haben, dass es mir noch leichter fiel, die montenegrinischen Schüler toll zu finden, begann nahtlos ein Videoworkshop mit Deutschschülern aus Berane, Podgorica und Ulcinj. Dieser Workshop ist eine der seltenen Kooperationen zwischen Goethe-Institut und ZfA. Das Thema ist: „Ulcinj als multikulturelle Stadt“.
Ich lernte Jakob vom Goethe-Institut in Belgrad und Siniša, einen professionellen Filmemacher aus Berlin kennen, die zusammen mit Kurt den Workshop leiten sollten. Einen Tag später kamen die Schüler. Der erste Tag stand ganz im Zeichen des Kennenlernens und der Einführung in die Technik. Auch erste Ideen zum Thema wurden gesammelt. Auf meine Vorfreude folgte erst mal Ernüchterung. Die Schüler konnten nicht besonders gut Deutsch und die Ideen, die sie für den Film hatten, waren mehr als langweilig. Hätten wir nach diesem ersten Konzept gearbeitet, wäre eine Art Imagefilm für Touristen herausgekommen. Meine Motivation für die folgenden Tage hielt sich in Grenzen, doch schon zum Abendessen wurde ich das erste Mal überrascht. Wir gingen zusammen ins Restaurant und ich wollte mich ganz selbstverständlich zu den Lehrern setzen. Dann kamen zwei Mädchen aus Berane und sagten, dass ich bei ihnen sitzen soll. Gesagt, getan, ich saß mit sechs montenegrinischen Mädels an einem Tisch, die hauptsächlich serbisch sprachen, ich verstand also kein Wort. Doch nach und nach wechselten sie immer öfter ins Deutsche, weil sie mich an ihrem Gespräch teilhaben lassen wollten. Es war sehr schwierig, weil einige Deutsch als dritte Fremdsprache und somit erst seit einem Jahr lernen, aber mit Händen und Füßen und einigen englischen Vokabeln, kam eine respektable Unterhaltung zustande.
Am nächsten Tag waren die Schüler morgens sehr müde. Also wurde ich so mir nichts, dir nichts, dazu verdonnert, ein Spielchen zu spielen, weil ich wohl irgendwie mal erwähnt hatte, dass wir beim Vorbereitungsseminar einige Energizer kennengelernt haben. An dieser Stelle ein fettes Danke an die Homezones, die die Listen erstellt und auf facebook geladen haben, ihr habt mich gerettet! Nach einer ausgedehnten Runde Big Buddy ging die Ideensammlung in die nächste Phase. Wir teilten Gruppen ein, die die verschiedenen Interviewpartner kontaktieren und befragen sollten. Und oh Wunder, plötzlich entstanden investigative und kritische Fragen zum Thema Multikulti und Zusammenleben der Religionen. Die stellvertretende Bürgermeisterin, die ich schon während des Austauschs kennenlernen durfte und die fließend deutsch spricht, weil sie 30 Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet hat und erst seit einem Jahr wieder in Montenegro ist, schaute vorbei und begrüßte die Schüler. Sie wusste nicht, dass die Schüler nicht so gut deutsch sprechen und hielt mal so nebenbei einen unfassbar fesselnden Vortrag über Humanismus, Toleranz und Respekt. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass ich sie hätte unterbrechen sollen, um ihr zu sagen, dass die Schüler sie nicht verstehen, aber ich war so geplättet von dem, was sie gesagt hat, dass ich niemals auf die Idee gekommen wäre, ihren Redefluss zu bremsen. Man merkte, wie sehr ihr das Thema am Herzen liegt und wie sehr sie dafür brennt, das friedliche Zusammenleben zu erhalten und zu stärken. Eine solche Frau, selbstbewusst und durchsetzungsstark, hätte ich in einer immer noch patriarchalisch geprägten Gesellschaft wie auf dem Balkan eher nicht erwartet, aber sie ist für mich innerhalb von zwei Wochen zu einem großen Vorbild geworden. Sie arbeitet viel, bewegt eine Menge in dieser Stadt, ist aber trotzdem immer ansprechbar und hat für alles ein offenes Ohr und noch ein bisschen Energie übrig. Sie ist mit dafür verantwortlich, dass mitten im ziemlich korrupten Montenegro ein Filmfestival mit dem Titel „Challenging the corrupted mind“ stattfinden kann. In allem, was sie tut, ist sie aber auch noch unheimlich mitreißend und warmherzig. Wenn jede Stadt solch eine (stellvertretende, darauf legt sie Wert) Bürgermeisterin hätte, würde sich vieles zum Besseren wenden. Wir verpflichteten sie gleich noch als Interviewpartnerin für den folgenden Tag. An diesem wurden auch die anderen Interviews, mit dem Imam, einem extrem aufgeklärten, modernen Mann, dem Priester der orthodoxen Kirche und dem Mann aus dem Touristenbüro, durchgeführt. Ich war beim Interview mit der Bürgermeisterin dabei und hatte vorher ein Erlebnis, das mir sehr nahe gegangen ist. Eine der Schülerinnen war sehr aufgeregt. Sie erzählte mir das und ich versuchte, sie zu beruhigen. Als sie erfuhr, dass ich mitgehen würde, war alle Aufregung auf einmal weg und sie sagte ernsthaft: „Wenn du dabei bist, kann ja nichts schief gehen.“ Bääm, so schnell geht der Rollenwechsel zum Lehrer. Ich war für die Mädels aus einer anderen Stadt schon die Expertin für Ulcinj, weil ich wusste wo das Rathaus ist und wie die Bürgermeisterin heißt. Genauso am Nachmittag, als wir die etwa einstündige Wanderung zu großen Strand in Angriff nahmen. Bin ich eine Woche zuvor, beim Austausch, noch selbst hinter den Lehrern hergedackelt, war ich jetzt die einzige, die den Weg kannte und musste allen alles erklären. So schnell wird man mal eben zur einheimischen Expertin. Nach dem Strandausflug besuchten wir das Filmfestival. Der Film war mäßig, es ging um Demokratiebewegungen in fünf verschiedenen Ländern, klingt spannender, als es war. Vielleicht war es für die Schüler ein Ansporn, es selbst besser zu machen, denn auch heute Morgen war die Motivation ungebrochen. Zwei Jungs aus Ulcinj, die ich schon beim Austausch kennengelernt habe, zeigten mal wieder, dass ich nicht zu Unrecht von den Schülern hier geschwärmt habe. Sie kümmerten sich um alles, nutzten ihre Kontakte, um uns alles Mögliche zu erleichtern und waren einfach zuverlässig da, wenn sie gebraucht wurden. Und nebenbei konnten sie uns noch Geschichte aus der multikulturellen Stadt Ulcinj erzählen. Benni erwähnte so nebenbei, dass er drei beste Freunde hat. Er selbst ist muslimischer Bosniake, ein Freund muslimischer Albaner, ein anderer katholischer Albaner und der dritte orthodoxer Serbe. Diese Anekdote reicht eigentlich, um die Quintessenz dessen, was wir von allen anderen Seiten auch gehört hatten, zu bestätigen. Die Bürgermeisterin sprach von Respekt und davon, dass die Ulcinjer einfach zu faul für Konflikte sind, der Mann im Tourismusbüro schaute überrascht und meinte, er hätte noch nie darüber nachgedacht, dass die Stadt multikulturell ist, das hätte ihn nie interessiert und er möchte eigentlich nur, dass alles so bleibt wie es ist, ein albanischer Passant erzählte, dass sein Sohn hauptsächlich montenegrinische Freunde hat und eine Serbin, die während des Krieges in Ulcinj lebte, fing an zu weinen, als sie vom Frieden in der Stadt erzählte.
Wir stellten immer wieder die Frage, warum es in Ulcinj funktioniert und an anderen Orten auf der Welt nicht. Überall schlagen sich Menschen die Köpfe ein, wegen Nationalität, wegen Religion oder wegen anderem Scheiß, und hier leben die Menschen zusammen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die Anderen vielleicht anders sind, etwas Anderes glauben oder denken. Keiner konnte erklären, warum es so ist, es ist einfach so! Ich bitte inständig die ganze Welt darum: Schickt Sozialwissenschaftler, Kulturwissenschaftler, Religionswissenschaftler nach Ulcinj, lasst sie das Geheimnis ergründen und es in die ganze Welt tragen! Es macht mich glücklich, zu sehen, dass es scheinbar doch eine Alternative zu Hass und Krieg gibt. Durch Zufall habe ich sie gefunden und ich möchte schwören, dass ich niemals aufhören werde, davon zu berichten. Liebe Leute, nicht verzagen, Frieden ist möglich, mein Idealismus wird hier neu entfacht und zu einer hoffentlich ewigen Flamme ausgebaut! (An dieser Stelle wird vielleicht auch deutlich, warum ich dem Text einen solchen Warnhinweis vorangestellt habe.)
Der Film ist noch nicht fertig, die Schüler sind noch fleißig am Basteln und Schneiden. Man kann natürlich nicht sagen, ob das Endprodukt dann wirklich ein Erfolg wird, aber der Prozess hat bei allen Teilnehmern unheimlich viel in Gang gebracht:
Die Schüler haben deutsch-mäßig extrem viel dazugelernt. Sie können nach ein paar Tagen schon viel besser sprechen als am Anfang. Sie sind von schüchternen 15-jährigen zu selbstbewussten, kritischen Reportern geworden. Außerdem haben sie jetzt Freunde aus ganz Montenegro gefunden, viele zum ersten Mal auch Freunde anderer Religionen. Die Begleitlehrerin aus Podgorica, die eigentlich Französischlehrerin ist und kein Wort Deutsch gesprochen hat, hat aus dem Stegreif angefangen, Deutsch zu lernen und hat sich schon ein beeindruckendes Vokabular erarbeitet. Und mir wurde mal eben mein gesamtes, mittlerweile leider oftmals pessimistisches Weltbild um die Ohren geschlagen. Ich wandle mich bezüglich des Weltfriedens gerade wieder zur Optimistin. Ich habe erfahren, dass der Lehrerberuf, den ich hier zumindest ansatzweise ausgeführt habe, neben all den Nachteilen, die es unbestreitbar gibt, auch etwas Wunderbares hat. Die Arbeit mit den Schülern, ihnen etwas beizubringen und für sie Ansprechperson sein zu können, ist eine ganz tolle Erfahrung für mich. Nebenbei konnte ich mein ein bisschen eingestaubtes Französisch bei der Lehrerin aus Podgorica mal wieder auspacken. Am Tisch beim Abendessen herrschte ein bunte Chaos aus vier Sprachen, Deutsch, Englisch, Französisch und Montenegrinisch, was aber auch wieder inspirierend war.

Ich habe keine Ahnung, ob dieser Blogeintrag für Leute, die nicht dabei waren, nicht tödlich langweilig ist. Ich bin wie immer unzufrieden, weil ich es nicht schaffe, die Vielfalt meiner Gefühlswelt zu Papier (oder zum Blog) zu bringen und mir nach dem Veröffentlichen wieder tausend Sachen einfallen werden, die ich eigentlich noch hätte erwähnen müssen. Aber wenn nur ein Funke von dem, was ich hier erlebt habe, auf euch alle überspringt, dann habe ich schon gewonnen.

In diesem Sinne, liebste Grüße aus dem friedlichen Ulcinj in die Welt hinaus!

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