Größe ist relativ

Heute feier ich mein „Siebenwöchiges“ und in anderhalb Wochen steht mein Zwischenseminar an, was so gut wie „Bergfest“ heißt. Oder Halbzeit? Oder Countdown? Die Zeit verfliegt und von „angekommen sein“ kann ich immer noch nicht reden. Trotzdem habe ich letztes Osterwochenende die Gelegenheit genutzt und bin nach Suzhou fahren, wo Johanna – eine weitere Freiwillige – an einer Foreing Language School assistiert.

Wer eine Reise macht…

Es war meine erste Reise, eine Woche zuvor habe ich zusammen mit der chinesischen Praktikantin Zhile (chinesisch für „Glück“) ein Zugticket nach Suzhou gekauft – die bekommt man hier nämlich grundsätzlich nur maximal zehn Tage vor Abreise, manchmal auch nur fünf Tage bevor es los geht. Außerdem kann man die Fahrkarten nur bei dafür zulässigen Agencies oder direkt am Bahnhof kaufen und muss mindestens die Reisepassnummer parat haben. Klingt kompliziert, ist es aber eigentlich nicht. Man muss eben nur wissen, mit welchem Zug man fahren will (welche Klasse, nicht welche Zeit) und je nachdem bekommt man ein Ticket mit Abfahrtszeit, Zugnummer, Zugwagon und Sitzplatz. Weil ich nun unbedingt China live erfahren wollte, bestand ich auf ein Ticket für den langsamsten Zugtyp „K“. Das klingt jetzt schlimm, war es aber gar nicht: Suzhou ist so nah, dass ich mit dem langsamsten nur eine Stunde dahin brauch und umgerechnet weniger als zwei Euro dafür zahle. Mit dem „G“-Zug spar ich zwar 40 Minuten, zahle aber mehr als zehn Euro. Da spar ich gern, schließlich hab ich Zeit!

Zugfahren ist ja auch in Deutschland immer ein großartiges Thema, wenn man nicht weiß, worüber man reden soll. Jeder hat mindestens ein Mal ein furchtbares DB-Erlebnis gehabt und kann sich gediegen echauffieren. Lustigerweise habe ich auf dem kurzen Trip nach Suzhou auch gleich zwei total verschiedene Erfahrungen mit der chinesischen Bahn gemacht: Hinzu fuhr der Zug in Shanghai los (Fun Fact: In chinesischen Städten gibt es oft keine „Central Station“, sondern einfach viele verschiedene „Railway Stations“. So hab ich von Zhile erfahren, dass der „Hauptbahnhof“ nur drei Stationen von mir zu Hause entfernt ist… Doch keine so schlechte Lage?^^) und der Wagon war wunderbar sauber und ordentlich. Links des Gangs saßen jeweils zwei Leute sich gegenüber, auf der anderen Seite drei. Die Sitze waren gepolstert (blau) und hatten weiße Deckchen über den Kopflehnen. Hier habe ich allerdings sofort gemerkt, dass der „normale“ Chinese eben doch kleiner gebaut ist – ohne Armlehne auf einer Doppelbank kann es für zwei gut gebaute Europäer eng werden. Zum Glück saß neben mir nur ein älterer Mann, der sogar noch seine Aktentasche zwischen uns stellte. Auf der Hinfahrt konnte ich auch einwandfrei meinen Sitzplatz finden, ich war eine der ersten im Zug. Überhaupt ist im Vergleich zu Deutschland das Zugfahren hier effizienter durchorganisiert, weil der Bahnhof wie ein Flughafen funktioniert. Das bedeutet auch, dass man das Gebäude an sich nur mit gültigem Fahrschein (den man am Eingang nebendran kaufen kann) betreten darf und direkt am Eingang durch einen Sicherheitscheck muss. Dahinter steht dann eine große Abfahrtstafel, ähnlich wie in französischen Bahnhöfen, auf der sämtliche Züge (hier ist die Zugnummer entscheidend!) aufgelistet werden. Ich war wirklich erstaunt, dass sogar in Suzhou diese Tafel neben chinesisch auch englisch beschriftet war. Jedem Zug wird ein Gleis zugordnet, dass aber eher wie ein „Gate“ funktioniert. Denn man darf nicht sofort auf das Gleis, sondern muss erst im Wartebereich (lange Sitzreihen wie auf dem Flughafen) auf das „Boarding“ warten. Dann wird das Ticket kontrolliert und weil ja schon per Kauf auch die Reservierung klar ist, gibt es keinen Stress, wo der entsprechende Wagon hält und überhaupt. Mein Zug hatte zum Beispiel 20 Wagons und von Wagen 1 bis 10 musste man zum Warteraum 8a und die restlichen mussten zu Warteraum 8b. Beginnt das Boarding entsteht eine mehr oder weniger zivilisierte Schlange, man wird auf das Gleis zugelassen, wo der Zug bereits wartet oder innerhalb der nächsten Minuten einfährt. Am Wagon wartet dann der nächste Schaffner und sieht nach, ob man auch wirklich in den Zug darf/soll.

„Hilfe“ gibt es in jeder Sprache

Schließlich fuhr der Zug los und aus der andauernden klassischen Klaviermusik, die auch im Bahnhof zur Beruhigung der Passagiere dienen sollte (?), wurde langsam klassisch chinesische Harfen- und Violenenmussik. Eigentlich wollte ich die Stunde zum Rekapitulieren und Schreiben nutzen, nach einer halben Stunde überwand sich dann aber mein neugieriger Gegenüber mich anzusprechen (er sowie alle anderen direkten Sitznachbarn beobachteten mich ununterbrochen, wie ich mit Füller in mein Tagebuch schrieb). Allerdings auf Chinesisch und ich war total „lost“, was mir widerum sehr peinlich war und ich jegliches Vokabular vergessen hatte. Zum Glück hatte ich mein Chinesisch-Buch dabei und las stupide die aus dem Chinesisch-Unterricht notierten Sätze vor. Die restliche Zeit war so schnell vergangen und ich habe mindestens den halben Zug amüsiert, denn alle sperrten Augen und Ohren auf wie die blonde Ausländerin versuchte, ihre Sprache zu… artikulieren. Als ich ihnen dann auch zu verstehen gab, dass ich nicht wüsste, wo die Taxis in Suzhou abfahren (zum Glück hatte mir Johanna die Adresse vorher geschickt und ich zeigte ihnen, wo ich eigentlich hinmusste), nickte mein älterer Sitznachbar vehement mit dem Kopf. Er kannte die Schule? Er weiß, wo die Taxis abfahren? Er muss auch in Suzhou aussteigen? Ich verstand rein gar nichts, aber offensichtlich musste er auch nach 50 Minuten Zugfahrt aussteigen und nahm mich am Arm. Na, dann lass ich mich mal führen. Natürlich kann man jetzt sagen: Ist das Mädel denn total naiv? Da hätte ja sonst etwas passieren können! Aber in solchen Situationen hab ich die Erfahrung gemacht, dass man auf seinen Bauch hören muss – sonst ist man verloren. Der Vertrauensvorschuss zahlte sich auch aus, weil der Mann mich durch den Bahnhof zu den Bussen führte und schließlich zu den Taxis, mich vor dummen Verlautbarungen chinesischer Jugendlicher „schützte“ und bis zu Johannas Schule brachte (er stieg mit mir aus dem Taxi aus und führte mich am Arm über die große Straße in Johannas Arme, xiéxie!).

Suzhou zum Verlieben

In Suzhou angekommen, war ich erst ein Mal erstaunt, weil es doch irgendwie (vom Taxifenster aus) Shanghai sehr ähnelt. Dabei ist die Stadt fünf Mal kleiner als die Megacity am Huang Pu – und mit vier Millionen Einwohnern immer noch so groß wie Berlin. In der District Area leben sogar 10 Millionen Menschen. Suzhou ist in drei Teile gegliedert: SIP (Suzhou Industrial Park), SND (Suzhou New District) und Old Town. Im letzen Teil besteht ein Hochhausverbot, das heißt, die Innenstadt ist in gewisser Weise sehr europäisch. Denn dort Restaurants und Shops sind alle zu ebener Erde betretbar und eher kleine Boutiquen statt riesiger Malls und Kaufhäuser. Zudem wird die Innenstadt von Kanälen durchzogen, die Suzhou den Beinamen „Venedig des Ostens“ gegeben haben. Außerdem wird die Stadt auch der „Garten Chinas“ genannt, weil die Stadt für ihre Parkanlagen und -zum Teil- heiligen Gärten bzw. Tempelanlagen bekannt ist. In zwei dieser Anlagen waren Johanna und ich während des Osterwochenendes: Tiger Hill und Divine Hill. Ersterer ist sehr bekannt, denn die über tausend Jahre alte, siebenstöckige Pagode sieht nicht nur beeindruckend aus, sondern steht schief: wieder eine Referenz nach Italien? Interessanterweise soll unter dieser Pagode ein Schatz voller Schwerter begragen sein – die jedoch nicht geborgen werden können, da die Pagode sonst einstürzen würde. Wu König Helu, der dort beerdigt liegt und dessen Grab von einem weißen Tiger (daher der Name) beschützt werden soll, hat das anscheinend sehr smart gelöst. Der Park war wirklich schön, vor allem auch, weil die Chinesen unglaublich viele Blumenrabatten angelegt haben. Grundsätzlich fand ich die Anlage sehr schön, jedoch war es -wie überall- sehr überlaufen. Ruhe in diesem Park zu finden, war kaum möglich. Und immer wieder musste ich feststellen, welch Attraktion Johanna und ich waren (der arme König Helu!). Am Ende des Ostersamstags waren wir beide blonden Mädchen die Meister im spontanen Gesichtsverzerren, umso denjenigen eins auszuwischen, die ohne zu fragen radikal mit der Kamera auf uns „drauf hielten“.

Das gleiche Verhalten konnten wir auch am nächsten Tag beobachten, als wir in Richtung Westen zu einer Tempelanlage aufbrachen. The Divine Hill war eine kleine Anlage, die wir für 20 RMB bestaunen durften. Vor allem waren wir aber über die wenigen Menschen verwundert, die über die verschlungenen Wege wandelten und sich vor blühenden Bäumchen und Sträuchern fotographierten. Die Parks in China beruhen oft auf der Feng-Shui-Tradition, in der Naturgeister eine große Rolle spielen. Daher werden zum Beispiel Brücken zu Pavillons nicht gerade gebaut, sondern mäandern – Geister können nicht passieren, weil sie nur geradeaus gehen können. Außerdem sind viele „Felsen“ aus Steinen zusammen „geklebt“ und stammen ursprünglich aus dem Taihu-See.

Der Tempel, den wir im Park suchten, schien jedoch auf ein Mal verschwunden zu sein – bis wir am Ende des Parks ankamen. Ein Schild kündigte an, dass wir die Anlage verlassen, mit unseren Tickets aber wieder hineinkämen. Weiter bergauf trafen wir plötzlich auf die vertrauten Menschenmassen. Jugendliche, Familien, Rentner, Paare – alle Welt stieg die Stufen zum Tempel hinauf. Die eine oder andere Chinesin hing am Arm ihres Mannes – zu hoch waren ihre Schuhe, zu ungesund sahen ihre Absätze aus. Sie hatten einfach den kostenlosen Weg um den Park herum gewählt. Als wir oben ankamen, nahmen wir eine unkonventionellen Weg in die Tempelanlage hinein – durch den Hintereingang, wo auch der Lastenaufzug von ganz unten mündete. Prompt wurden wir von einem Mönch in die Anlage gescheucht, wo es nach Räucherstäbchen roch. Viele Chinesen beten zu verschiedenen Göttern, je nach Lebenslage und Bedarf. Manche beten zu dem Gott, der für Geburtsjahr zuständig ist, andere zu allen. Im Tempel selbst begegneten wir den vier Windkönigen, von denen zwei immer böse schauen. Jedoch sind sie nicht per se böse, sondern sollen einfach nur Feinde abschrecken. Für mich waren sie wieder ein Mal ein Beispiel chinesischen Denkens: Es gibt immer eine zweite oder dritte Intention hinter dem Offensichtlichen.

Auch ein goldener Buddha war zu bewundern (Obacht, niemals fotographieren, das ziemt sich nicht!) und immer wieder markant für Johanna und mich: das Hakenkreuz auf der Brust des im Lotussitz trohnenden Mannes. Eigentlich ist es nicht das Hakenkreuz, sondern die Swastika – das Kreuz zeigt also nach links und nicht nach rechts. Es steht in China für Glück und wurde später auch bei den Germanen zur Anbetung der Sonne genutzt. Hitler hat es dann für seine Zwecke missbraucht, umgedreht und „Reinheit“ hineingedeutet. Wenn mir das Kreuz hier immer begegnet, muss ich an den Film von Mo Asumang, den wir auf dem Vorbereitungseminar gesehen hatten: „Roots Germania“, eine interessante Dokumentation einer Halbafrikanerin auf der Suche nach ihren deutschen Wurzeln. Denn wenn wir uns mit den Germanern mal näher auseinander setzen würden, kämen wir zu überraschenden Gemeinsamkeiten mit fernöstlichen oder afrikansischen Naturglauben. Als wir die Tempelanlage verließen, sahen wir auch den Grund für den inoffiziellen Hintereingang, der von manchen Chinesen genutzt wurde: Am Haupteingang musste man widerum Eintritt zahlen – nur um zu beten! Aber nicht nur die Mönche, auch die Kleinunternehmer am Fuß des Hügels nutzten die Anziehungskraft des Tempels. Wie schon bei Tiger Hill konnte ich Unmengen von Kiosks sehen, deren Auslage für mich eher wie Ramsch wirkten. Ab und zu wurden sie von Läden mit traditionellen Seidenkleidern und Malerei abgelöst. Es gab sogar Frauen in diesen Kostümen, die vor einem gemalten (!) Landschaftshintergrund posierten und von Gurken-am-Stiel-essenden Chinesen bewundert wurden.

Wahrnehmungsverzerrung?

Am Abend merkten wir immer deutlicher den Smog, der uns das Atmen zur Hölle machte. Endlich konnten wir nachvollziehen, warum viele Chinesen ihre Kehlen mit einem sehr widerlichen Geräusch vom Schleim befreien. Das Kratzen verwandelte sich im Laufe des Ostersonntags immer weiter zu Halsschmerzen. Es hielt mir vor Augen, was eventuell im Sommer auf mich zukommen wird. Außer der Wind, der in Shanghai wegen des Meeres die Luft in Bewegung hält, bläßt den Smog fort. Mir hat sich damals und stellt sich seit dem immer öfter die Frage: Was bedeutet eigentlich „lebenswert“ in einer Millionenmetropole – und was ist eine Metropole? In Suzhou hatte ich wirklich nicht das Gefühl in einer großen Stadt zu sein. Die Straßen der Innenstadt waren für mich gemütlich, bis auf die Parks war nichts „überrannt“. Die Größte der Stadt wurde erst deutlich, als wir mit Bus und Taxi lange Fahrten von einem Ende zum anderen Teil der Stadt nutzten – ein Mal sogar 45 Minuten lang (Busfahrten kosten dennoch nur 2 Yuan). Am Karfreitag entdeckte ich sogar einen richtig gemütlichen Ort. Dank Johanna besuchten wir ein Expat-Café/Bar, den „Bookworm“. Aber nicht nur wegen des Namens und der ganzen Bücher fühlte ich mich dort fast zu Hause. Sondern auch der chino-ausländischen Atmosphäre. Neben Foreignern waren eben auch Chinesen vor Ort. Zu meiner Schande muss ich sagen, dass ich große Resentiments hatte, als Johanna und ich plötzlich drei Chinesen an unserem Tisch hatten. Die Herren mittleren Alters fragten uns auf Englisch alles mögliche aus und wir antworteten höflich – dachten aber doch, dass wir vielleicht Signale gesendet hatten, derer wir uns nicht bewusst waren… Am Ende erzählte jedoch ein amerikanischer Freund von Johanna (er selbst lebt schon sehr lang in Suzhou und spricht fließend Chinesisch), dass einfach English Night war: Die Chinesen wollten ihre Sprachkentnisse verbessern! Diese offene Atmosphäre nahm ich außer der „kleinen“ Häuser und Straßen ganz für Suzhou ein. Doch wieder musste ich auch ein Gegenteil kennenlernen: Am Samstagabend trafen wir auf eine Engländerin, die mit ihrem Mann seit fünf Jahren in Suzhou lebte – und gerade so mit dem Taxifahrer kommunzieren konnte, wie sie lachend zugab. Auf die Frage, welche Gärten sie uns denn empfehlen könnte, musste sie uns auch gestehen, dass sie in den ganzen Jahren in keinem einzigen gewesen sei. Mitkommen wöllte sie nicht, als wir ihr anboten mit uns mitzukommen. Nach fünf Jahren könnte sie jetzt auch nicht mehr in einen Garten gehen… Eine Logik, die sich mir nicht erschloss und den Kleingeist dieser weit gereisten Frau auf den Punkt brachte.

Ein kleiner Pavillon, zu dem eine Zick-Zack-Brücke führt.

Also leidet nicht nur Shanghai an seinen Expats? Als ich am Ostermontag wieder zurückfuhr, gab mir diese Frage zu denken. Denn schließlich verhalte ich mich ähnlich: Erst vorgestern, eine Woche nach diesem Erlebnis, war ich mit deutschen Freunden auf einem Konzert des deutschen DJs Fritz Kalkbrenner und habe wieder feststellen müssen, wie wenig ich kommunzieren kann. Was ich aber auch festgestellt habe: Nach Suzhou kam mir Shanghai vertraut vor. Ich fühlte mich auf ein Mal nicht mehr überrollt von den Wolkenkratzern, den Menschenmassen, sondern war froh über die U-Bahn, die mich so schnell nach Hause bringen würde. All‘ das schien mir auf ein Mal „normal“ – und ich musste lachen, weil die Relationen sich nach sieben Wochen so schnell verschieben können. Plötzlich steht nun die Frage im Raum: Wie werde ich mich in Deutschland wieder einleben?

Alltag

Nìmen hao?

Momentan feier ich mein einmonatiges Überleben in der Riesenstadt, kaum zu glauben, dass schon wieder ein Monat seit meiner Landung vergangen ist. Neulich wurde mir die Frage gestellt, wie mir Shanghai denn gefallen würde. Darauf konnte ich nur mit einem „Ich gewöhen mich noch.“ antworten. Aber ich habe kleine Orte gefunden, an denen ich mich richtig wohlfühle 🙂 Zum Beispiel gibt es einen kleinen Park am zentralsten Platz dieser Stadt: Jing’An Temple.  Dort, wo riesige Fassaden nur aus Licht bestehen, gibt es eine kleine Oase. Ich hab sie per Zufall entdeckt, als ich mal nicht durch die riesige U-Bahn-STation laufen wollte (liegt wahrscheinlich direkt darunter) und innerhalb von Sekunden war der Lärm der Stadt gedämpft. Außerdem gibt es in der Nähe meines Büros einen Foreign Language Bookstore, wo man alle möglichen Bücher kaufen kann – und sogar Postkarten. Der Verkäufer war sogar so nett und hat mir beim Briefmarken-Kleben geholfen – äh ja… 🙂

Inzwischen spielt auch das Wetter mit: Die letzten beiden Tage gab es herrlichen Sonnenschein und ich habe gemerkt, wie viel südlicher Shanghai liegt, denn die Sonne hängt sehr steil am Himmel und es wird gut warm. Hat aber noch nichts an meiner „beautiful white skin“ geändert, auf die man hier immer wieder an öffentlichen Plätzen angesprochen wird, meine brasilianische Mitbewohnerin (sieht nicht wie eine typische Brasilianerin aus!) wurde auch schon als Schneewittchen bezeichnet. Dann wollen die beiden Chinesen oft noch ein Foto von ihnen, aufgenommen von mir, und schon sind sie wieder weg: „Byebye!“

Ganz alltäglich bei Sonnenschein sind auch Hochzeiten, die lautstark zelebriert werden. In meinem Viertel ist es zumindest Gang und Gebe an einem schönen Samstagmorgen Feuerwerk zwischen den Häuserschluchten abzufeuern: Ein Brauch, damit es nicht erscheint, als ob die Brautleute etwas zu verheimlichen hätten. Zu diesem Knallen gesellt sich noch moderne Popmusik, weil jeden Tag eine Gruppe von Frauen eine Art Aerobic macht, mitten auf dem Fußweg. Das sieht man hier sehr häufig, abends wird die Popmusik von klassischer Tanzmusik abgelöst. Dann tanzen hauptsächlich ältere Ehepaare Walzer oder andere Standardtänze. Feuerwerk, Popmusik und immer wieder Hupen: Taxis, Busse, Rikscha-Fahrer, Mopeds und Motorräder – sie alle kündigen sich geräuschvoll an und entweder man springt zur Seite oder sie bremsen und hupen parallel. Irgendwo klingelt dann noch eine Glocke von einem Fahrradfahrer. Sie sammeln speziell Rohstoffe ein (Holz, Pappe, Styropor), abends sind ihre Anhänger unglaublich vollbeladen und ich frage mich immer wieder, wie diese armen Menschen das Fahrrad fortbewegen können.

Gestern begegnte mir und ein paar Freunden eben ein solcher Fahrer mitten auf der Nanjing Lu, DIE Fußgängerzone Shanghais. Nachdem wir eine sehr typisch deutsche Kaffee-Bootsfahrt auf dem Huang Pu gemacht und die Skyline zur blauen Stunde genossen hatten, sind wir diese unendliche lange, Broadway oder Times Square ähnliche Straße entlang gelaufen und uns stach einfach vehement dieser Gegensatz ins Auge! Vor und hinter dem Fahrradfahrer, der sperriges Holz transportierte, fuhren Chevrolets, Royce Rolls und Mercedes mit abgedunkelten Scheiben, während sie die Straßen kreuzten.

Genau diese Gegensätze sind auch letzte Woche das Motto für mich gewesen – und werden es wohl in Shanghai auch weiterhin bleiben. Denn als ich am Freitag (16. März) schon zeitig von Arbeit los konnte, traf ich mich mit einem Chinesen und wir sind Essen gegangen. Nicht in einem kleinen Lokal am Straßenrand, sondern directement in die Supermall; ein riesengroßer Einkaufskomplex im modernen, aus dem Boden gestampften Pudong-District – also dort, wo auch alle tollen Hochhäuser etc stehen. Wir aßen und vor allem sprachen wir lange über China und seine Bewohner und es war unglaublich spannend, Yuanxi zu zuhören. Er selbst studiert Wirtschaftsrecht und war einige Zeit in den USA, hat also einen sehr kritischen Blick auf sein eigenes Land. Aber am interessantesten fand ich seine eigene Haltung, denn er war unglaublich pessimistisch gegenüber der Zukunft eingestellt. Wie solle es denn so weitergehen, wenn in China alle nur noch verbrauchen? Außerdem wären die Leute mehr und mehr nicht bereit, für einen Hungerlohn in den Sweatshops zu arbeiten. Dort, wo unsere Jeans, unsere Pullover und Spielzeug hergestellt werden. Yuanxi meinte, dass könne nur wieder in Kommunismus, also radikalere Partei-Herrschaft, oder Chaos enden. Ob denn seine Generation daran etwas ändern werde? Zuerst verneinte er, weil die Partei sich nicht so einfach refomieren ließe wie etwa eine Diktatorenherrschaft in den arabischen Ländern. Am Ende des Abends musste er allerdings lächeln und sagte, dass seine Generation vielleicht doch eine Chance hätte – viele würden ins Ausland gehen und eine andere Perspektive auf China bekommen.
Für mich war es interessant zu sehen, wie pessimistisch und negativ Yuanxi die Entwicklung seines Landes beurteilte – besonders in Deutschland habe ich immer wieder die „tollen“ Wirtschaftsmeldungen aus China vernommen, das Land wächst und ist eigentlich bereits mächtiger als die USA etc etc Ich hatte erwartet, dass Yuanxi besonders in diesem Punkt stolz auf die Errungenschaften sei, die sich aus dem „Turbokapitalismus“ ergeben hatten. Doch am Ende des Wochenendes erlebte ich einen großen Aha-Effekt und konnte Yuanxi plötzlich verstehen. Denn am Sonntag darauf bin ich mit Julia zu einer Filmvorführung gegangen: „Last Train Home“, sehr zu empfehlen, wenn ihr Dokumentationen und englische Untertitel mögt! In diesem chinesischen Film wird das Leben der Wanderarbeiter und ihrer Familien gezeigt. Die Wanderarbeiter sind Menschen, hauptsächlich vom Land stammend, die in die großen Städte ausgewandert sind, um in Fabriken (die hauptsächlich unsere Billigprodukte herstellen) Geld für den Unterhalt ihrer Familien auf dem Land zu verdienen. Soziologisch ergibt sich bis heute das Problem für die Zuhause-Gebliebenen, dass die Kinder nur bei ihren Großeltern aufwachsen und kaum einen Bezug zu ihren Eltern haben. Die kommen nämlich nur ein Mal im Jahr, zum chinesischen Neujahr, nach Hause – eine Masse von 130 Millionen Menschen setzt sich dann in Bewegung; einfach nur beängstigend im Film! Den Kindern der Wanderarbeiter im Film wird von Anfang gesagt, dass sie sehr hart in der Schule arbeiten sollen, um später mal besser als ihre Eltern leben zu können. Im Film betonten die Mutter und der Vater, wie sehr sie sich das für ihre Kinder wünschten und dass sie dafür die harte Arbeit und die schwere Reise gern in Kauf nehmen. – Aber die Kinder können dieses Sakrileg ihrer Eltern oft nicht nachvollziehen. Die Tochter in dem Film hat schließlich die Schule geschmissen und ist ebenfalls in die Großstadt zum Nähen gezogen – und hat dort ihre „Freiheit“ genossen.

Das fand ich beeindruckend: Qin, die 18-jährige Tochter, sprach von Freiheit und von Selbstverwirklichung und lehnte sich radikal gegen ihre Eltern auf. Ich musste ein bisschen lächeln, weil diese Szenen mich oft an mich selbst erinnert haben. Sicher, die Situation der Familie ist vehement krasser und nicht mit unserem Lebensstandard zu vergleichen, aber dieses Auflehnen gegen die Erwartungen der Eltern gibt es doch bei uns auch! Pubertät, oder „la crise“ wie die Franzosen die Zeit nennen, gibt es also überall – auch im ländlichen China, wo sich die Tochter über das Handy freut, was ihr Vater aus der Großstadt zum Neujahr mitbringt… Gleichzeitig, um an Yuanxi zu denken, war es mir so unglaublich unangenehm zu sehen, wie Qin und ihre Freundin in einem chinesischen Kaufhaus die von ihnen genähten Jeans suchten – und sie natürlich nicht fanden. Ich glaube, dass bringt die Frustration auf den Punkt, die die Mehrheit der Menschen hier mehr und mehr erfahren. So wird auch meine Vermieterin wütend, wenn sie gar nicht erst in den „Miller“-Laden darf, wo es die qualitativ hochwertigen Waschmaschinen aus dem Westen gibt. Dafür braucht man nämlich eine Einladung. Das klingt im ersten Moment lustig und im zweiten verzerrt es mir das Lachen, weil ich merke, wie sehr sich die Menschen hier über den Konsum definieren. Das mag nur in Shanghai so krass sein, doch Yuanxi bestätigte mir, dass es fast überall dahin tendiere: Freiheit bedeutet hier für die meisten, das kaufen zu können, was sie wollen und so viel sie wollen – notfalls eben auch gefälscht. Was das für das Gemeinwesen, also Solidarität und Gemeinschaftssinn bedeutet, muss ich noch herausfinden.

Morgen fängt meine fünfte Woche in diesem unbeschreibbaren Land an. Ich werde an der Uni deutsche Sprachkurse und bei einem Dolmetscherkurs hospitieren und Studenten bei ihren Referaten unterstützen. Abends hab ich von nun an immer Chinesisch-Kurs, 2,5 Stunden jeden Montag und Mittwoch. Außerdem hoffe ich, dass ich bald mit meinem Langzeitprojekt anfangen kann: Das Bild Chinas in Deutschland und das Bild der Chinesen von Deutschland, bin gespannt, was mein Chef dazu sagt. Am Freitag findet zum zweiten Mal der von mir organisierte deutsch-chinesische Stammtisch statt, letztes Mal waren wir 60 (!) Leute, es bleibt spannend, wer dieses Mal kommt.