Nìmen hao?
Momentan feier ich mein einmonatiges Überleben in der Riesenstadt, kaum zu glauben, dass schon wieder ein Monat seit meiner Landung vergangen ist. Neulich wurde mir die Frage gestellt, wie mir Shanghai denn gefallen würde. Darauf konnte ich nur mit einem „Ich gewöhen mich noch.“ antworten. Aber ich habe kleine Orte gefunden, an denen ich mich richtig wohlfühle 🙂 Zum Beispiel gibt es einen kleinen Park am zentralsten Platz dieser Stadt: Jing’An Temple. Dort, wo riesige Fassaden nur aus Licht bestehen, gibt es eine kleine Oase. Ich hab sie per Zufall entdeckt, als ich mal nicht durch die riesige U-Bahn-STation laufen wollte (liegt wahrscheinlich direkt darunter) und innerhalb von Sekunden war der Lärm der Stadt gedämpft. Außerdem gibt es in der Nähe meines Büros einen Foreign Language Bookstore, wo man alle möglichen Bücher kaufen kann – und sogar Postkarten. Der Verkäufer war sogar so nett und hat mir beim Briefmarken-Kleben geholfen – äh ja… 🙂
Inzwischen spielt auch das Wetter mit: Die letzten beiden Tage gab es herrlichen Sonnenschein und ich habe gemerkt, wie viel südlicher Shanghai liegt, denn die Sonne hängt sehr steil am Himmel und es wird gut warm. Hat aber noch nichts an meiner „beautiful white skin“ geändert, auf die man hier immer wieder an öffentlichen Plätzen angesprochen wird, meine brasilianische Mitbewohnerin (sieht nicht wie eine typische Brasilianerin aus!) wurde auch schon als Schneewittchen bezeichnet. Dann wollen die beiden Chinesen oft noch ein Foto von ihnen, aufgenommen von mir, und schon sind sie wieder weg: „Byebye!“
Ganz alltäglich bei Sonnenschein sind auch Hochzeiten, die lautstark zelebriert werden. In meinem Viertel ist es zumindest Gang und Gebe an einem schönen Samstagmorgen Feuerwerk zwischen den Häuserschluchten abzufeuern: Ein Brauch, damit es nicht erscheint, als ob die Brautleute etwas zu verheimlichen hätten. Zu diesem Knallen gesellt sich noch moderne Popmusik, weil jeden Tag eine Gruppe von Frauen eine Art Aerobic macht, mitten auf dem Fußweg. Das sieht man hier sehr häufig, abends wird die Popmusik von klassischer Tanzmusik abgelöst. Dann tanzen hauptsächlich ältere Ehepaare Walzer oder andere Standardtänze. Feuerwerk, Popmusik und immer wieder Hupen: Taxis, Busse, Rikscha-Fahrer, Mopeds und Motorräder – sie alle kündigen sich geräuschvoll an und entweder man springt zur Seite oder sie bremsen und hupen parallel. Irgendwo klingelt dann noch eine Glocke von einem Fahrradfahrer. Sie sammeln speziell Rohstoffe ein (Holz, Pappe, Styropor), abends sind ihre Anhänger unglaublich vollbeladen und ich frage mich immer wieder, wie diese armen Menschen das Fahrrad fortbewegen können.
Gestern begegnte mir und ein paar Freunden eben ein solcher Fahrer mitten auf der Nanjing Lu, DIE Fußgängerzone Shanghais. Nachdem wir eine sehr typisch deutsche Kaffee-Bootsfahrt auf dem Huang Pu gemacht und die Skyline zur blauen Stunde genossen hatten, sind wir diese unendliche lange, Broadway oder Times Square ähnliche Straße entlang gelaufen und uns stach einfach vehement dieser Gegensatz ins Auge! Vor und hinter dem Fahrradfahrer, der sperriges Holz transportierte, fuhren Chevrolets, Royce Rolls und Mercedes mit abgedunkelten Scheiben, während sie die Straßen kreuzten.
Genau diese Gegensätze sind auch letzte Woche das Motto für mich gewesen – und werden es wohl in Shanghai auch weiterhin bleiben. Denn als ich am Freitag (16. März) schon zeitig von Arbeit los konnte, traf ich mich mit einem Chinesen und wir sind Essen gegangen. Nicht in einem kleinen Lokal am Straßenrand, sondern directement in die Supermall; ein riesengroßer Einkaufskomplex im modernen, aus dem Boden gestampften Pudong-District – also dort, wo auch alle tollen Hochhäuser etc stehen. Wir aßen und vor allem sprachen wir lange über China und seine Bewohner und es war unglaublich spannend, Yuanxi zu zuhören. Er selbst studiert Wirtschaftsrecht und war einige Zeit in den USA, hat also einen sehr kritischen Blick auf sein eigenes Land. Aber am interessantesten fand ich seine eigene Haltung, denn er war unglaublich pessimistisch gegenüber der Zukunft eingestellt. Wie solle es denn so weitergehen, wenn in China alle nur noch verbrauchen? Außerdem wären die Leute mehr und mehr nicht bereit, für einen Hungerlohn in den Sweatshops zu arbeiten. Dort, wo unsere Jeans, unsere Pullover und Spielzeug hergestellt werden. Yuanxi meinte, dass könne nur wieder in Kommunismus, also radikalere Partei-Herrschaft, oder Chaos enden. Ob denn seine Generation daran etwas ändern werde? Zuerst verneinte er, weil die Partei sich nicht so einfach refomieren ließe wie etwa eine Diktatorenherrschaft in den arabischen Ländern. Am Ende des Abends musste er allerdings lächeln und sagte, dass seine Generation vielleicht doch eine Chance hätte – viele würden ins Ausland gehen und eine andere Perspektive auf China bekommen.
Für mich war es interessant zu sehen, wie pessimistisch und negativ Yuanxi die Entwicklung seines Landes beurteilte – besonders in Deutschland habe ich immer wieder die „tollen“ Wirtschaftsmeldungen aus China vernommen, das Land wächst und ist eigentlich bereits mächtiger als die USA etc etc Ich hatte erwartet, dass Yuanxi besonders in diesem Punkt stolz auf die Errungenschaften sei, die sich aus dem „Turbokapitalismus“ ergeben hatten. Doch am Ende des Wochenendes erlebte ich einen großen Aha-Effekt und konnte Yuanxi plötzlich verstehen. Denn am Sonntag darauf bin ich mit Julia zu einer Filmvorführung gegangen: „Last Train Home“, sehr zu empfehlen, wenn ihr Dokumentationen und englische Untertitel mögt! In diesem chinesischen Film wird das Leben der Wanderarbeiter und ihrer Familien gezeigt. Die Wanderarbeiter sind Menschen, hauptsächlich vom Land stammend, die in die großen Städte ausgewandert sind, um in Fabriken (die hauptsächlich unsere Billigprodukte herstellen) Geld für den Unterhalt ihrer Familien auf dem Land zu verdienen. Soziologisch ergibt sich bis heute das Problem für die Zuhause-Gebliebenen, dass die Kinder nur bei ihren Großeltern aufwachsen und kaum einen Bezug zu ihren Eltern haben. Die kommen nämlich nur ein Mal im Jahr, zum chinesischen Neujahr, nach Hause – eine Masse von 130 Millionen Menschen setzt sich dann in Bewegung; einfach nur beängstigend im Film! Den Kindern der Wanderarbeiter im Film wird von Anfang gesagt, dass sie sehr hart in der Schule arbeiten sollen, um später mal besser als ihre Eltern leben zu können. Im Film betonten die Mutter und der Vater, wie sehr sie sich das für ihre Kinder wünschten und dass sie dafür die harte Arbeit und die schwere Reise gern in Kauf nehmen. – Aber die Kinder können dieses Sakrileg ihrer Eltern oft nicht nachvollziehen. Die Tochter in dem Film hat schließlich die Schule geschmissen und ist ebenfalls in die Großstadt zum Nähen gezogen – und hat dort ihre „Freiheit“ genossen.
Das fand ich beeindruckend: Qin, die 18-jährige Tochter, sprach von Freiheit und von Selbstverwirklichung und lehnte sich radikal gegen ihre Eltern auf. Ich musste ein bisschen lächeln, weil diese Szenen mich oft an mich selbst erinnert haben. Sicher, die Situation der Familie ist vehement krasser und nicht mit unserem Lebensstandard zu vergleichen, aber dieses Auflehnen gegen die Erwartungen der Eltern gibt es doch bei uns auch! Pubertät, oder „la crise“ wie die Franzosen die Zeit nennen, gibt es also überall – auch im ländlichen China, wo sich die Tochter über das Handy freut, was ihr Vater aus der Großstadt zum Neujahr mitbringt… Gleichzeitig, um an Yuanxi zu denken, war es mir so unglaublich unangenehm zu sehen, wie Qin und ihre Freundin in einem chinesischen Kaufhaus die von ihnen genähten Jeans suchten – und sie natürlich nicht fanden. Ich glaube, dass bringt die Frustration auf den Punkt, die die Mehrheit der Menschen hier mehr und mehr erfahren. So wird auch meine Vermieterin wütend, wenn sie gar nicht erst in den „Miller“-Laden darf, wo es die qualitativ hochwertigen Waschmaschinen aus dem Westen gibt. Dafür braucht man nämlich eine Einladung. Das klingt im ersten Moment lustig und im zweiten verzerrt es mir das Lachen, weil ich merke, wie sehr sich die Menschen hier über den Konsum definieren. Das mag nur in Shanghai so krass sein, doch Yuanxi bestätigte mir, dass es fast überall dahin tendiere: Freiheit bedeutet hier für die meisten, das kaufen zu können, was sie wollen und so viel sie wollen – notfalls eben auch gefälscht. Was das für das Gemeinwesen, also Solidarität und Gemeinschaftssinn bedeutet, muss ich noch herausfinden.
Morgen fängt meine fünfte Woche in diesem unbeschreibbaren Land an. Ich werde an der Uni deutsche Sprachkurse und bei einem Dolmetscherkurs hospitieren und Studenten bei ihren Referaten unterstützen. Abends hab ich von nun an immer Chinesisch-Kurs, 2,5 Stunden jeden Montag und Mittwoch. Außerdem hoffe ich, dass ich bald mit meinem Langzeitprojekt anfangen kann: Das Bild Chinas in Deutschland und das Bild der Chinesen von Deutschland, bin gespannt, was mein Chef dazu sagt. Am Freitag findet zum zweiten Mal der von mir organisierte deutsch-chinesische Stammtisch statt, letztes Mal waren wir 60 (!) Leute, es bleibt spannend, wer dieses Mal kommt.

