Kunst im semi-öffentlichen Raum

Wie schon gesagt, sind Besucher die beste Hilfe, sich mit der eigenen Stadt auseinander zu setzen.  Nach dem Zwischenseminar in Hangzhou löste Fritzi Simon als Sightseeing-Motivator ab. Fritzi ist normalerweise Freiwillige in Ürumqi oder auf Chinesisch: Wulumuqi, Hauptstadt der Uyguren in einer der westlichsten Provinzen.

Art Space

Während wir am ersten Abend noch die mittwochlichen „Ladie’s Night“-Angebote genossen, unter anderem in einer sehr orientalischen Bar unter einem tollen Mondhimmel mitten im People’s Park, tauchten wir am Samstag in die Shanghai Art-Szene ein. Der „Art Space“ befindet sich in der Nähe der Railway Station und ist ein großes Gelände, wo viele ehemalige Lager- und Warenhäuser zu Ateliers unterschiedlicher Größe umgebaut wurden. Alle möglichen Kunstarten sind vertreten, Malerei und Skulptur stehen eng bei einander. Es scheint alles sehr familiär zu sein, die Künstler kennen sich und leben zum Teil in den Räumen, wo sie ihre Kunst produzieren und lagern. Ich fühlte mich unglaublich heimisch und war von den zum Teil sehr provokanten Bildern fasziniert.

Kirchenkunst

Aber Kunst muss sich nicht auf solche extra-geschaffenen Räume beschränken. Schon vor einer Weile bin ich durch die French Concession gewandert, eigentlich auf der Suche nach einem Geldautomaten. Als ich zum zigsten Mal an einer orthodox-anmutenden Kirche mit Zwiebeltürmen vorbei lief, packte mich die Neugier am Schlafittchen und schleifte mich hinein. Schwupps, war ich in einer Ausstellung mit lauter aberwitzigen Installationen. Leider hab ich nicht herausgefunden, worum es ging und wer den Spaß veranstaltete. Ich war auch die einzige, außer den beiden Wachmännern. Die Exponate waren sehr unterschiedlich und wirkten aber irgendwie deplatziert in der ehemaligen Kirche, deren Decke immer noch ein Fresko mit Jesus schmückte.

 

Sightseeing, die Erste

Neun Wochen und ich kann behaupten: Eingelebt in einer Megacity – check. Allerdings hat der ersehnte Alltag auch einen Nachteil. Ich verpasse die aufregenden und spannenden Seiten meiner neuen Heimatstadt, weil ich nach 18 Uhr einfach nur nach Hause will und am Wochenende zwischen Feiern und Schlafen bzw. Entspannen keine Lust für Sightseeing bleibt.

Exponiert

Trotzallem habe ich mich am letzten Sonntag aufgerafft und bin zum ehemaligen Expogelände gefahren. Das liegt im Süden der Stadt, auf der Pudong-Seite des Huang He, und eigentlich hätte mich der Fakt schon stutzig machen müssen, dass die eine Metro-Station immer noch nicht fertig ist – die U-Bahn fährt einfach durch. Schließlich angekommen bin ich bei sengender Hitze eine elend lange Straße Richtung Fluss gelaufen. Links gab es auch eine wunderbar mit hellen Segeln überspannte Promenade, an der wurde aber immer noch oder schon wieder gebaut. Mein Ziel war der chinesische Pavillon, ein monumentales Bauwerk, das vielen bestimmt ein Begriff ist. Erstaunter Weise war der zu – so wie ziemlich alles andere auch. Nur das „Moonboat“ war geöffnet – gegen 100 RMB Eintritt, och nö! Also weiter die Straße entlang, immer das UFO vor Augen. Also die Mercedes-Arena, die am Ufer steht und auch irgendwie verlassen wirkt. Innen schien eine Mall zu existieren, mit Kino, Läden aller Couleur und Rolltreppen. Inzwischen ist alles zu, wirkt irgendwie verlassen und nur wenn man sich ins Innere des gestrandeten Raumschiffes traut, gelangt man bei 33°C Außentemperatur zu einer – Schlittschuhbahn! Ich dachte mich trifft der (Kälte-)Schlag.

Hätte ich nicht anschließend den kleinen, aber sehr schönen Expo-Park besucht, hätte die Expo-Organisation heute einen bitterbösen Brief in den Händen: So sehr habe ich mich über die überdimensionierten Gebäude aufgeregt. Nachhaltigkeit in der Nutzung dieser Infrastruktur – never! Aber der Park war schön.

Janz Weit Oben

Um tolles Sightseeing zu erleben braucht es also gut vorbereitete Lonely-Planet-Besitzer. Deswegen ein Hoch auf Besucher. Freunde, die noch nie in einer Megacity waren und begeistert alles innerhalb von nur wenig Zeit sehen wollen. Menschen, die sich an den bunten Lichtern auf der Nanjing Dong Lu nicht satt sehen können. Denen Starbucks oder Skyscrapers verwehrt sind; und mich mit schleppen.

Da wäre zum Beispiel Simon, ein Freund, der mich vor dem Zwischenseminar in Shanghai besuchte. Innerhalb von 18 Stunden habe ich auch den Bund bei Nacht inzwischen gesehen und war in fast 500 Meter Höhe über der Stadt, im World Financial Center. Eigentlich nenne ich es den „Flaschenöffner“, aber wahrscheinlich nur, weil ich mich vor diesem beeindruckenden Gebäude nicht einschüchtern lassen will. Trotzdem war ein extrem komisches Gefühl, fünf Meter UNTER der Erde in einem dunklen Raum auf den Lift zu warten. Hatte mehr was von einer ziemlich abgefahrenen Achterbahn. Schließlich standen wir drin und immer öfter ertönte das unaufdringliche „Bing“, das pro zurückgelegten Meter erklang. Dann das Knacken in den Ohren. Ziemlich lustig, auf so engem Raum beobachten zu können, wie die „Passagiere“ mit Grimassen den Druck auszugleichen versuchen (Sorry, Simon, aber du hast wirklich wie eine Schlange mit ausgehängtem Kiefer ausgesehen, hehe).

Oben angekommen fährt man noch ein Mal mit einer Rolltreppe hoch und ist auf dem unteren Teil des Flaschenöffners. Trotzdem schon beindruckend, auch weil es eine nette Fotoausstellung gibt. Ziemlich kreative Köpfe haben das WFC in einem Regentropfen oder beim Aufbau dokumentiert. Anschließend geht es mit einem Fahrstuhl noch ein Stückchen höher und über 474 Meter wird der geneigte Besucher auf den „Skywalk“ entlassen. Naja, also der Glasboden ist nicht durchgängig und unter einem ist ja noch der Steg. Aber mulmig war mir doch ein bisschen. Fun Fact: Weil wir ja noch am gleichen Tag zum Zwischenseminar nach Hangzhou wollten, rannte Simon mit einem riesen Rucksack rum und ich mit meinem kleinen, blauen Köfferchen. Der kennt jetzt also nicht nur Croix Rousse in Lyon, sondern auch die Aussicht von einem der höchsten Gebäude; herzlichen Glückwunsch.

Größe ist relativ

Heute feier ich mein „Siebenwöchiges“ und in anderhalb Wochen steht mein Zwischenseminar an, was so gut wie „Bergfest“ heißt. Oder Halbzeit? Oder Countdown? Die Zeit verfliegt und von „angekommen sein“ kann ich immer noch nicht reden. Trotzdem habe ich letztes Osterwochenende die Gelegenheit genutzt und bin nach Suzhou fahren, wo Johanna – eine weitere Freiwillige – an einer Foreing Language School assistiert.

Wer eine Reise macht…

Es war meine erste Reise, eine Woche zuvor habe ich zusammen mit der chinesischen Praktikantin Zhile (chinesisch für „Glück“) ein Zugticket nach Suzhou gekauft – die bekommt man hier nämlich grundsätzlich nur maximal zehn Tage vor Abreise, manchmal auch nur fünf Tage bevor es los geht. Außerdem kann man die Fahrkarten nur bei dafür zulässigen Agencies oder direkt am Bahnhof kaufen und muss mindestens die Reisepassnummer parat haben. Klingt kompliziert, ist es aber eigentlich nicht. Man muss eben nur wissen, mit welchem Zug man fahren will (welche Klasse, nicht welche Zeit) und je nachdem bekommt man ein Ticket mit Abfahrtszeit, Zugnummer, Zugwagon und Sitzplatz. Weil ich nun unbedingt China live erfahren wollte, bestand ich auf ein Ticket für den langsamsten Zugtyp „K“. Das klingt jetzt schlimm, war es aber gar nicht: Suzhou ist so nah, dass ich mit dem langsamsten nur eine Stunde dahin brauch und umgerechnet weniger als zwei Euro dafür zahle. Mit dem „G“-Zug spar ich zwar 40 Minuten, zahle aber mehr als zehn Euro. Da spar ich gern, schließlich hab ich Zeit!

Zugfahren ist ja auch in Deutschland immer ein großartiges Thema, wenn man nicht weiß, worüber man reden soll. Jeder hat mindestens ein Mal ein furchtbares DB-Erlebnis gehabt und kann sich gediegen echauffieren. Lustigerweise habe ich auf dem kurzen Trip nach Suzhou auch gleich zwei total verschiedene Erfahrungen mit der chinesischen Bahn gemacht: Hinzu fuhr der Zug in Shanghai los (Fun Fact: In chinesischen Städten gibt es oft keine „Central Station“, sondern einfach viele verschiedene „Railway Stations“. So hab ich von Zhile erfahren, dass der „Hauptbahnhof“ nur drei Stationen von mir zu Hause entfernt ist… Doch keine so schlechte Lage?^^) und der Wagon war wunderbar sauber und ordentlich. Links des Gangs saßen jeweils zwei Leute sich gegenüber, auf der anderen Seite drei. Die Sitze waren gepolstert (blau) und hatten weiße Deckchen über den Kopflehnen. Hier habe ich allerdings sofort gemerkt, dass der „normale“ Chinese eben doch kleiner gebaut ist – ohne Armlehne auf einer Doppelbank kann es für zwei gut gebaute Europäer eng werden. Zum Glück saß neben mir nur ein älterer Mann, der sogar noch seine Aktentasche zwischen uns stellte. Auf der Hinfahrt konnte ich auch einwandfrei meinen Sitzplatz finden, ich war eine der ersten im Zug. Überhaupt ist im Vergleich zu Deutschland das Zugfahren hier effizienter durchorganisiert, weil der Bahnhof wie ein Flughafen funktioniert. Das bedeutet auch, dass man das Gebäude an sich nur mit gültigem Fahrschein (den man am Eingang nebendran kaufen kann) betreten darf und direkt am Eingang durch einen Sicherheitscheck muss. Dahinter steht dann eine große Abfahrtstafel, ähnlich wie in französischen Bahnhöfen, auf der sämtliche Züge (hier ist die Zugnummer entscheidend!) aufgelistet werden. Ich war wirklich erstaunt, dass sogar in Suzhou diese Tafel neben chinesisch auch englisch beschriftet war. Jedem Zug wird ein Gleis zugordnet, dass aber eher wie ein „Gate“ funktioniert. Denn man darf nicht sofort auf das Gleis, sondern muss erst im Wartebereich (lange Sitzreihen wie auf dem Flughafen) auf das „Boarding“ warten. Dann wird das Ticket kontrolliert und weil ja schon per Kauf auch die Reservierung klar ist, gibt es keinen Stress, wo der entsprechende Wagon hält und überhaupt. Mein Zug hatte zum Beispiel 20 Wagons und von Wagen 1 bis 10 musste man zum Warteraum 8a und die restlichen mussten zu Warteraum 8b. Beginnt das Boarding entsteht eine mehr oder weniger zivilisierte Schlange, man wird auf das Gleis zugelassen, wo der Zug bereits wartet oder innerhalb der nächsten Minuten einfährt. Am Wagon wartet dann der nächste Schaffner und sieht nach, ob man auch wirklich in den Zug darf/soll.

„Hilfe“ gibt es in jeder Sprache

Schließlich fuhr der Zug los und aus der andauernden klassischen Klaviermusik, die auch im Bahnhof zur Beruhigung der Passagiere dienen sollte (?), wurde langsam klassisch chinesische Harfen- und Violenenmussik. Eigentlich wollte ich die Stunde zum Rekapitulieren und Schreiben nutzen, nach einer halben Stunde überwand sich dann aber mein neugieriger Gegenüber mich anzusprechen (er sowie alle anderen direkten Sitznachbarn beobachteten mich ununterbrochen, wie ich mit Füller in mein Tagebuch schrieb). Allerdings auf Chinesisch und ich war total „lost“, was mir widerum sehr peinlich war und ich jegliches Vokabular vergessen hatte. Zum Glück hatte ich mein Chinesisch-Buch dabei und las stupide die aus dem Chinesisch-Unterricht notierten Sätze vor. Die restliche Zeit war so schnell vergangen und ich habe mindestens den halben Zug amüsiert, denn alle sperrten Augen und Ohren auf wie die blonde Ausländerin versuchte, ihre Sprache zu… artikulieren. Als ich ihnen dann auch zu verstehen gab, dass ich nicht wüsste, wo die Taxis in Suzhou abfahren (zum Glück hatte mir Johanna die Adresse vorher geschickt und ich zeigte ihnen, wo ich eigentlich hinmusste), nickte mein älterer Sitznachbar vehement mit dem Kopf. Er kannte die Schule? Er weiß, wo die Taxis abfahren? Er muss auch in Suzhou aussteigen? Ich verstand rein gar nichts, aber offensichtlich musste er auch nach 50 Minuten Zugfahrt aussteigen und nahm mich am Arm. Na, dann lass ich mich mal führen. Natürlich kann man jetzt sagen: Ist das Mädel denn total naiv? Da hätte ja sonst etwas passieren können! Aber in solchen Situationen hab ich die Erfahrung gemacht, dass man auf seinen Bauch hören muss – sonst ist man verloren. Der Vertrauensvorschuss zahlte sich auch aus, weil der Mann mich durch den Bahnhof zu den Bussen führte und schließlich zu den Taxis, mich vor dummen Verlautbarungen chinesischer Jugendlicher „schützte“ und bis zu Johannas Schule brachte (er stieg mit mir aus dem Taxi aus und führte mich am Arm über die große Straße in Johannas Arme, xiéxie!).

Suzhou zum Verlieben

In Suzhou angekommen, war ich erst ein Mal erstaunt, weil es doch irgendwie (vom Taxifenster aus) Shanghai sehr ähnelt. Dabei ist die Stadt fünf Mal kleiner als die Megacity am Huang Pu – und mit vier Millionen Einwohnern immer noch so groß wie Berlin. In der District Area leben sogar 10 Millionen Menschen. Suzhou ist in drei Teile gegliedert: SIP (Suzhou Industrial Park), SND (Suzhou New District) und Old Town. Im letzen Teil besteht ein Hochhausverbot, das heißt, die Innenstadt ist in gewisser Weise sehr europäisch. Denn dort Restaurants und Shops sind alle zu ebener Erde betretbar und eher kleine Boutiquen statt riesiger Malls und Kaufhäuser. Zudem wird die Innenstadt von Kanälen durchzogen, die Suzhou den Beinamen „Venedig des Ostens“ gegeben haben. Außerdem wird die Stadt auch der „Garten Chinas“ genannt, weil die Stadt für ihre Parkanlagen und -zum Teil- heiligen Gärten bzw. Tempelanlagen bekannt ist. In zwei dieser Anlagen waren Johanna und ich während des Osterwochenendes: Tiger Hill und Divine Hill. Ersterer ist sehr bekannt, denn die über tausend Jahre alte, siebenstöckige Pagode sieht nicht nur beeindruckend aus, sondern steht schief: wieder eine Referenz nach Italien? Interessanterweise soll unter dieser Pagode ein Schatz voller Schwerter begragen sein – die jedoch nicht geborgen werden können, da die Pagode sonst einstürzen würde. Wu König Helu, der dort beerdigt liegt und dessen Grab von einem weißen Tiger (daher der Name) beschützt werden soll, hat das anscheinend sehr smart gelöst. Der Park war wirklich schön, vor allem auch, weil die Chinesen unglaublich viele Blumenrabatten angelegt haben. Grundsätzlich fand ich die Anlage sehr schön, jedoch war es -wie überall- sehr überlaufen. Ruhe in diesem Park zu finden, war kaum möglich. Und immer wieder musste ich feststellen, welch Attraktion Johanna und ich waren (der arme König Helu!). Am Ende des Ostersamstags waren wir beide blonden Mädchen die Meister im spontanen Gesichtsverzerren, umso denjenigen eins auszuwischen, die ohne zu fragen radikal mit der Kamera auf uns „drauf hielten“.

Das gleiche Verhalten konnten wir auch am nächsten Tag beobachten, als wir in Richtung Westen zu einer Tempelanlage aufbrachen. The Divine Hill war eine kleine Anlage, die wir für 20 RMB bestaunen durften. Vor allem waren wir aber über die wenigen Menschen verwundert, die über die verschlungenen Wege wandelten und sich vor blühenden Bäumchen und Sträuchern fotographierten. Die Parks in China beruhen oft auf der Feng-Shui-Tradition, in der Naturgeister eine große Rolle spielen. Daher werden zum Beispiel Brücken zu Pavillons nicht gerade gebaut, sondern mäandern – Geister können nicht passieren, weil sie nur geradeaus gehen können. Außerdem sind viele „Felsen“ aus Steinen zusammen „geklebt“ und stammen ursprünglich aus dem Taihu-See.

Der Tempel, den wir im Park suchten, schien jedoch auf ein Mal verschwunden zu sein – bis wir am Ende des Parks ankamen. Ein Schild kündigte an, dass wir die Anlage verlassen, mit unseren Tickets aber wieder hineinkämen. Weiter bergauf trafen wir plötzlich auf die vertrauten Menschenmassen. Jugendliche, Familien, Rentner, Paare – alle Welt stieg die Stufen zum Tempel hinauf. Die eine oder andere Chinesin hing am Arm ihres Mannes – zu hoch waren ihre Schuhe, zu ungesund sahen ihre Absätze aus. Sie hatten einfach den kostenlosen Weg um den Park herum gewählt. Als wir oben ankamen, nahmen wir eine unkonventionellen Weg in die Tempelanlage hinein – durch den Hintereingang, wo auch der Lastenaufzug von ganz unten mündete. Prompt wurden wir von einem Mönch in die Anlage gescheucht, wo es nach Räucherstäbchen roch. Viele Chinesen beten zu verschiedenen Göttern, je nach Lebenslage und Bedarf. Manche beten zu dem Gott, der für Geburtsjahr zuständig ist, andere zu allen. Im Tempel selbst begegneten wir den vier Windkönigen, von denen zwei immer böse schauen. Jedoch sind sie nicht per se böse, sondern sollen einfach nur Feinde abschrecken. Für mich waren sie wieder ein Mal ein Beispiel chinesischen Denkens: Es gibt immer eine zweite oder dritte Intention hinter dem Offensichtlichen.

Auch ein goldener Buddha war zu bewundern (Obacht, niemals fotographieren, das ziemt sich nicht!) und immer wieder markant für Johanna und mich: das Hakenkreuz auf der Brust des im Lotussitz trohnenden Mannes. Eigentlich ist es nicht das Hakenkreuz, sondern die Swastika – das Kreuz zeigt also nach links und nicht nach rechts. Es steht in China für Glück und wurde später auch bei den Germanen zur Anbetung der Sonne genutzt. Hitler hat es dann für seine Zwecke missbraucht, umgedreht und „Reinheit“ hineingedeutet. Wenn mir das Kreuz hier immer begegnet, muss ich an den Film von Mo Asumang, den wir auf dem Vorbereitungseminar gesehen hatten: „Roots Germania“, eine interessante Dokumentation einer Halbafrikanerin auf der Suche nach ihren deutschen Wurzeln. Denn wenn wir uns mit den Germanern mal näher auseinander setzen würden, kämen wir zu überraschenden Gemeinsamkeiten mit fernöstlichen oder afrikansischen Naturglauben. Als wir die Tempelanlage verließen, sahen wir auch den Grund für den inoffiziellen Hintereingang, der von manchen Chinesen genutzt wurde: Am Haupteingang musste man widerum Eintritt zahlen – nur um zu beten! Aber nicht nur die Mönche, auch die Kleinunternehmer am Fuß des Hügels nutzten die Anziehungskraft des Tempels. Wie schon bei Tiger Hill konnte ich Unmengen von Kiosks sehen, deren Auslage für mich eher wie Ramsch wirkten. Ab und zu wurden sie von Läden mit traditionellen Seidenkleidern und Malerei abgelöst. Es gab sogar Frauen in diesen Kostümen, die vor einem gemalten (!) Landschaftshintergrund posierten und von Gurken-am-Stiel-essenden Chinesen bewundert wurden.

Wahrnehmungsverzerrung?

Am Abend merkten wir immer deutlicher den Smog, der uns das Atmen zur Hölle machte. Endlich konnten wir nachvollziehen, warum viele Chinesen ihre Kehlen mit einem sehr widerlichen Geräusch vom Schleim befreien. Das Kratzen verwandelte sich im Laufe des Ostersonntags immer weiter zu Halsschmerzen. Es hielt mir vor Augen, was eventuell im Sommer auf mich zukommen wird. Außer der Wind, der in Shanghai wegen des Meeres die Luft in Bewegung hält, bläßt den Smog fort. Mir hat sich damals und stellt sich seit dem immer öfter die Frage: Was bedeutet eigentlich „lebenswert“ in einer Millionenmetropole – und was ist eine Metropole? In Suzhou hatte ich wirklich nicht das Gefühl in einer großen Stadt zu sein. Die Straßen der Innenstadt waren für mich gemütlich, bis auf die Parks war nichts „überrannt“. Die Größte der Stadt wurde erst deutlich, als wir mit Bus und Taxi lange Fahrten von einem Ende zum anderen Teil der Stadt nutzten – ein Mal sogar 45 Minuten lang (Busfahrten kosten dennoch nur 2 Yuan). Am Karfreitag entdeckte ich sogar einen richtig gemütlichen Ort. Dank Johanna besuchten wir ein Expat-Café/Bar, den „Bookworm“. Aber nicht nur wegen des Namens und der ganzen Bücher fühlte ich mich dort fast zu Hause. Sondern auch der chino-ausländischen Atmosphäre. Neben Foreignern waren eben auch Chinesen vor Ort. Zu meiner Schande muss ich sagen, dass ich große Resentiments hatte, als Johanna und ich plötzlich drei Chinesen an unserem Tisch hatten. Die Herren mittleren Alters fragten uns auf Englisch alles mögliche aus und wir antworteten höflich – dachten aber doch, dass wir vielleicht Signale gesendet hatten, derer wir uns nicht bewusst waren… Am Ende erzählte jedoch ein amerikanischer Freund von Johanna (er selbst lebt schon sehr lang in Suzhou und spricht fließend Chinesisch), dass einfach English Night war: Die Chinesen wollten ihre Sprachkentnisse verbessern! Diese offene Atmosphäre nahm ich außer der „kleinen“ Häuser und Straßen ganz für Suzhou ein. Doch wieder musste ich auch ein Gegenteil kennenlernen: Am Samstagabend trafen wir auf eine Engländerin, die mit ihrem Mann seit fünf Jahren in Suzhou lebte – und gerade so mit dem Taxifahrer kommunzieren konnte, wie sie lachend zugab. Auf die Frage, welche Gärten sie uns denn empfehlen könnte, musste sie uns auch gestehen, dass sie in den ganzen Jahren in keinem einzigen gewesen sei. Mitkommen wöllte sie nicht, als wir ihr anboten mit uns mitzukommen. Nach fünf Jahren könnte sie jetzt auch nicht mehr in einen Garten gehen… Eine Logik, die sich mir nicht erschloss und den Kleingeist dieser weit gereisten Frau auf den Punkt brachte.

Ein kleiner Pavillon, zu dem eine Zick-Zack-Brücke führt.

Also leidet nicht nur Shanghai an seinen Expats? Als ich am Ostermontag wieder zurückfuhr, gab mir diese Frage zu denken. Denn schließlich verhalte ich mich ähnlich: Erst vorgestern, eine Woche nach diesem Erlebnis, war ich mit deutschen Freunden auf einem Konzert des deutschen DJs Fritz Kalkbrenner und habe wieder feststellen müssen, wie wenig ich kommunzieren kann. Was ich aber auch festgestellt habe: Nach Suzhou kam mir Shanghai vertraut vor. Ich fühlte mich auf ein Mal nicht mehr überrollt von den Wolkenkratzern, den Menschenmassen, sondern war froh über die U-Bahn, die mich so schnell nach Hause bringen würde. All‘ das schien mir auf ein Mal „normal“ – und ich musste lachen, weil die Relationen sich nach sieben Wochen so schnell verschieben können. Plötzlich steht nun die Frage im Raum: Wie werde ich mich in Deutschland wieder einleben?

Wochenende am Wochenanfang

Warme Sonne, lachende Menschen und blühende Bäume –  klingt vielleicht kitschig? Aber genau das habe ich gehört, als ich am Sonntag mein Gesicht dem Himmel entgegen streckte und tief einatmete. Wir waren im Century Park, meine Mitbewohnerinnen und ich. Er ist der größte in Shanghai und daher verlaufen sich die vielen Besucher, die der Stadt entfliehen wollen. Der Picknick-Plan stand schon eine ganze Weile und bei gediegenen 26° Grad Celsius zogen wir los, bepackt mit Decke und selbst gekochten Essen. Ich hatte die Ehre, einen Kartoffelsalat zu zubereiten, Beverly versuchte sich an Meatballs, kleinen Fleischklößchen und Eve kreierte eine Art Spaghetti-Omelett sowie ihr brasilianischen Lieblingsnachtisch, Brigadeiro. Es wird aus süßer Kondensmilch und mit ganz viel Kakaopuder zubereitet. Normalerweise werden daraus wohl kleine Kugeln geformt, in denen sich noch Bananen- oder Erbeerstückchen verstecken. Aber wir hatten einfach nur die Creme, was dem Geschmack nichts abtat.

Familienausflug

Viele gepflegte Parks sind kostenpflichtig, umgerechnet war der Eintritt am Sonntag etwa einen Euro. Andernorts habe ich auch schon mehr gezahlt, dort konnte man auch einen Tempel und eine Pagode besichtigen. Gestern habe ich mich noch darüber aufgeregt, dass solch vermeintlich öffentliche Plätze kapitalisiert werden. Heute habe ich erfahren, dass in meiner Heimatstadt Dresden für den Park zum Pillnitzer Schloss auch Eintritt verlangt. Im Century Park erwarteten uns nicht nur gepflegtes Gras und ein großer angelegter See, sondern auch wunderbar blühende Bäume. Die müssen allerdings erst vor kurzem eingepflanzt worden sein; viele standen in einem Haufen frisch angehäufter Erde. Die Familien und Pärchen genossen mit uns das Wetter. Manche fanden unser Picknick sehr erstaunlich – den Blicken nach zu urteilen. Drachensteigen und Fahrradfahren sind die Hobbies Nummer Eins, Photographieren und Schlafen rangieren auf den dahinter liegenden Plätzen der Beliebtheitsskala. Sehr interesssant dabei: Oft gab es Großeltern, mehrere, jüngere Eltern und Onkel sowie Tanten, aber maximal zwei Kinder. Dabei gibt es inzwischen Lockerungen in der Ein-Kind-Politik, denn wenn der Vater und die Mutter Einzelkinder sind, dürfen sie zwei Kinder haben. Das trifft nicht auf jeden zu, weil manche Familien die Erlaubnis erhielten, schon in der jetzigen Elterngeneration noch ein zweites Kind zu bekommen. Resultat? Die jetzigen Kinder werden als „kleine Schneeflocken“ bezeichnet, die sich noch nicht ein Mal die Schuhe binden können. Ihre Eltern hingegen sind die verhätschelten „kleinen Kaiser“, die alles bekommen durften. Die Schneeflocken-Kinder leiden aber in der Hinsicht, dass ihnen kaum etwas erlaubt wird. So hat eine Freundin von mir nie Schwimmen gelernt, weil ihre Mutter Angst hat, dass ihre Tochter ertrinkt – obwohl sie am Meer wohnen! Die Logik ist so verwirrend, weil man ja meinen könnte, dass die Mutter nun erst recht Angst hat, weil die Tochter -selbst wenn sie ins Wasser fällt- sich noch nicht mal selbst retten könnte. Eine weitere Theorie von der gleichen Freundin ist, dass aufgrund dieser Ängste China so schlecht im Fußball ist. Denn: Die Eltern lassen ihre KInder nicht mehr Fußball spielen, weil ihnen etwas passieren könnte. So fehlt der Nachwuchs für die Nationalmannschaft 🙂 Dieser Taxifahrer hat anscheinend sehr wohl Schwimmen lernen dürfen, wie das Video des Guardians zeigt. Nettes Detail: Auch in den Parks gibt es überall öffentliche Toiletten, die funktionieren und sauber gehalten werden.

Arrangierter Feiertag

Heute ist nun Montag und ich habe einen freien Tag. Für viele Chinesen ist heute eigentlich Samstag, morgen Sonntag und am Mittwoch der Feiertag, dafür haben sie gestern und vorgestern regulär gearbeitet. Sehr smart, weil somit aus einer zerhackten Woche drei Tage kontinuierlich frei genommen werden. Für viele Ausländer ist es dennoch verwirrend, weil sich alles verschiebt. Am Mittwoch ist nun „Tomb Sweeping Day“, an dem die Ahnen geehrt werden und die Familie zusammen kommt. Sie pflegen die Gräber und bringen Gaben wie Papiergeld, Handys und Autos mit, die sie dort verbrennen. Anschließend essen sie dort oder in der Nähe gelegenen Parks, um eine Art Familienreunion zu feiern. Ich habe den heutigen Tag zum Ausschlafen gegönnt, Kenner wissen, dass das bei mir lange dauern kann 😉 Anschließend war ich auf der Jagd nach Postkarten, kein einfaches Unterfangen in Shanghai. Später erfuhr ich, dass Postkarten wohl eher eine deutsche Kultur seien. Eve meinte, in Brasilien würden hauptsächlich ältere Leute Ansichtskarten verschicken und Beverly hat bisher keine einzige in die Phillipinien geschickt. Im touristischsten Fleck, Xintiandi, wurde ich fündig. Dort fand ich nicht nur Ansichtskarten und das Museum für die erste Sitzung des Nationalkomitees der chinesischen KP. Das Viertel, das extra für Touristen im Stil der alten chinesischen Städte aufgebaut wurde, beherbergt viele teure Restaurants, auch einen Paulaner! Zwei Minuten später stand ich in der gewohnten Umgebung riesiger Hochhäuser, Apple Stores und Luis-Vuitton-Läden und verdrückte mich zusammen mit einer anderen, deutschen Freiwilligen in den People’s Square Park. Letzte Woche hatte ich hier den Match-Making-Market erleben dürfen. Zusammen mit Eve hatte ich die vielen Anzeigen bestaunt, die links und rechts hingen, oder auf Regenschirmen lagen. Darauf stand auf Chinesisch die Eckdaten der Söhne und Töchter, deren Eltern auf der Suche nach dem passenden Dating-Partner waren: Größe, Einkommen, Auto oder nicht, Wohnung in Shanghai, Ausbildung. Am Ende kommen aber keine arrangierten Ehen und gekaufte Bräute dabei heraus, sondern Dates. Inzwischen sind viele Chinesinnen sehr anspruchsvoll, was den Partner betrifft, und ab und zu verschulden sich Familien, nur damit ihre Söhne eine Frau finden können! Ich hingegen verlor Eve zwei Mal aus den Augen und stand kurz allein in der Menge. In diesen Augenblicken kamen eine Mutter bzw. ein Vater auf mich zu und zupften mich am Ärmel. Ich ergriff die Flucht und zupfte Eve am Ärmel, das war etwas zu viel des Guten.

Im People’s Square Park gibt es auch ein Museum, auf dessen Dach ein Kaffee gelegen ist. Pünktlich zur Happy Hour kamen Johanna, die andere Freiwillige, und ich dort an und genossen die Aussicht plus einen leckeren Cocktail. Es war dann auch Johanna, die mir von den politischen Vorgängen erzählte, die zurzeit in Peking stattfinden. Dazu aber ein andermal, morgen ist zwar für Chinesen Sonntag, für mich aber nur ein regulärer, arbeitsreicher (yeah?!) Dienstag.

Alltag

Nìmen hao?

Momentan feier ich mein einmonatiges Überleben in der Riesenstadt, kaum zu glauben, dass schon wieder ein Monat seit meiner Landung vergangen ist. Neulich wurde mir die Frage gestellt, wie mir Shanghai denn gefallen würde. Darauf konnte ich nur mit einem „Ich gewöhen mich noch.“ antworten. Aber ich habe kleine Orte gefunden, an denen ich mich richtig wohlfühle 🙂 Zum Beispiel gibt es einen kleinen Park am zentralsten Platz dieser Stadt: Jing’An Temple.  Dort, wo riesige Fassaden nur aus Licht bestehen, gibt es eine kleine Oase. Ich hab sie per Zufall entdeckt, als ich mal nicht durch die riesige U-Bahn-STation laufen wollte (liegt wahrscheinlich direkt darunter) und innerhalb von Sekunden war der Lärm der Stadt gedämpft. Außerdem gibt es in der Nähe meines Büros einen Foreign Language Bookstore, wo man alle möglichen Bücher kaufen kann – und sogar Postkarten. Der Verkäufer war sogar so nett und hat mir beim Briefmarken-Kleben geholfen – äh ja… 🙂

Inzwischen spielt auch das Wetter mit: Die letzten beiden Tage gab es herrlichen Sonnenschein und ich habe gemerkt, wie viel südlicher Shanghai liegt, denn die Sonne hängt sehr steil am Himmel und es wird gut warm. Hat aber noch nichts an meiner „beautiful white skin“ geändert, auf die man hier immer wieder an öffentlichen Plätzen angesprochen wird, meine brasilianische Mitbewohnerin (sieht nicht wie eine typische Brasilianerin aus!) wurde auch schon als Schneewittchen bezeichnet. Dann wollen die beiden Chinesen oft noch ein Foto von ihnen, aufgenommen von mir, und schon sind sie wieder weg: „Byebye!“

Ganz alltäglich bei Sonnenschein sind auch Hochzeiten, die lautstark zelebriert werden. In meinem Viertel ist es zumindest Gang und Gebe an einem schönen Samstagmorgen Feuerwerk zwischen den Häuserschluchten abzufeuern: Ein Brauch, damit es nicht erscheint, als ob die Brautleute etwas zu verheimlichen hätten. Zu diesem Knallen gesellt sich noch moderne Popmusik, weil jeden Tag eine Gruppe von Frauen eine Art Aerobic macht, mitten auf dem Fußweg. Das sieht man hier sehr häufig, abends wird die Popmusik von klassischer Tanzmusik abgelöst. Dann tanzen hauptsächlich ältere Ehepaare Walzer oder andere Standardtänze. Feuerwerk, Popmusik und immer wieder Hupen: Taxis, Busse, Rikscha-Fahrer, Mopeds und Motorräder – sie alle kündigen sich geräuschvoll an und entweder man springt zur Seite oder sie bremsen und hupen parallel. Irgendwo klingelt dann noch eine Glocke von einem Fahrradfahrer. Sie sammeln speziell Rohstoffe ein (Holz, Pappe, Styropor), abends sind ihre Anhänger unglaublich vollbeladen und ich frage mich immer wieder, wie diese armen Menschen das Fahrrad fortbewegen können.

Gestern begegnte mir und ein paar Freunden eben ein solcher Fahrer mitten auf der Nanjing Lu, DIE Fußgängerzone Shanghais. Nachdem wir eine sehr typisch deutsche Kaffee-Bootsfahrt auf dem Huang Pu gemacht und die Skyline zur blauen Stunde genossen hatten, sind wir diese unendliche lange, Broadway oder Times Square ähnliche Straße entlang gelaufen und uns stach einfach vehement dieser Gegensatz ins Auge! Vor und hinter dem Fahrradfahrer, der sperriges Holz transportierte, fuhren Chevrolets, Royce Rolls und Mercedes mit abgedunkelten Scheiben, während sie die Straßen kreuzten.

Genau diese Gegensätze sind auch letzte Woche das Motto für mich gewesen – und werden es wohl in Shanghai auch weiterhin bleiben. Denn als ich am Freitag (16. März) schon zeitig von Arbeit los konnte, traf ich mich mit einem Chinesen und wir sind Essen gegangen. Nicht in einem kleinen Lokal am Straßenrand, sondern directement in die Supermall; ein riesengroßer Einkaufskomplex im modernen, aus dem Boden gestampften Pudong-District – also dort, wo auch alle tollen Hochhäuser etc stehen. Wir aßen und vor allem sprachen wir lange über China und seine Bewohner und es war unglaublich spannend, Yuanxi zu zuhören. Er selbst studiert Wirtschaftsrecht und war einige Zeit in den USA, hat also einen sehr kritischen Blick auf sein eigenes Land. Aber am interessantesten fand ich seine eigene Haltung, denn er war unglaublich pessimistisch gegenüber der Zukunft eingestellt. Wie solle es denn so weitergehen, wenn in China alle nur noch verbrauchen? Außerdem wären die Leute mehr und mehr nicht bereit, für einen Hungerlohn in den Sweatshops zu arbeiten. Dort, wo unsere Jeans, unsere Pullover und Spielzeug hergestellt werden. Yuanxi meinte, dass könne nur wieder in Kommunismus, also radikalere Partei-Herrschaft, oder Chaos enden. Ob denn seine Generation daran etwas ändern werde? Zuerst verneinte er, weil die Partei sich nicht so einfach refomieren ließe wie etwa eine Diktatorenherrschaft in den arabischen Ländern. Am Ende des Abends musste er allerdings lächeln und sagte, dass seine Generation vielleicht doch eine Chance hätte – viele würden ins Ausland gehen und eine andere Perspektive auf China bekommen.
Für mich war es interessant zu sehen, wie pessimistisch und negativ Yuanxi die Entwicklung seines Landes beurteilte – besonders in Deutschland habe ich immer wieder die „tollen“ Wirtschaftsmeldungen aus China vernommen, das Land wächst und ist eigentlich bereits mächtiger als die USA etc etc Ich hatte erwartet, dass Yuanxi besonders in diesem Punkt stolz auf die Errungenschaften sei, die sich aus dem „Turbokapitalismus“ ergeben hatten. Doch am Ende des Wochenendes erlebte ich einen großen Aha-Effekt und konnte Yuanxi plötzlich verstehen. Denn am Sonntag darauf bin ich mit Julia zu einer Filmvorführung gegangen: „Last Train Home“, sehr zu empfehlen, wenn ihr Dokumentationen und englische Untertitel mögt! In diesem chinesischen Film wird das Leben der Wanderarbeiter und ihrer Familien gezeigt. Die Wanderarbeiter sind Menschen, hauptsächlich vom Land stammend, die in die großen Städte ausgewandert sind, um in Fabriken (die hauptsächlich unsere Billigprodukte herstellen) Geld für den Unterhalt ihrer Familien auf dem Land zu verdienen. Soziologisch ergibt sich bis heute das Problem für die Zuhause-Gebliebenen, dass die Kinder nur bei ihren Großeltern aufwachsen und kaum einen Bezug zu ihren Eltern haben. Die kommen nämlich nur ein Mal im Jahr, zum chinesischen Neujahr, nach Hause – eine Masse von 130 Millionen Menschen setzt sich dann in Bewegung; einfach nur beängstigend im Film! Den Kindern der Wanderarbeiter im Film wird von Anfang gesagt, dass sie sehr hart in der Schule arbeiten sollen, um später mal besser als ihre Eltern leben zu können. Im Film betonten die Mutter und der Vater, wie sehr sie sich das für ihre Kinder wünschten und dass sie dafür die harte Arbeit und die schwere Reise gern in Kauf nehmen. – Aber die Kinder können dieses Sakrileg ihrer Eltern oft nicht nachvollziehen. Die Tochter in dem Film hat schließlich die Schule geschmissen und ist ebenfalls in die Großstadt zum Nähen gezogen – und hat dort ihre „Freiheit“ genossen.

Das fand ich beeindruckend: Qin, die 18-jährige Tochter, sprach von Freiheit und von Selbstverwirklichung und lehnte sich radikal gegen ihre Eltern auf. Ich musste ein bisschen lächeln, weil diese Szenen mich oft an mich selbst erinnert haben. Sicher, die Situation der Familie ist vehement krasser und nicht mit unserem Lebensstandard zu vergleichen, aber dieses Auflehnen gegen die Erwartungen der Eltern gibt es doch bei uns auch! Pubertät, oder „la crise“ wie die Franzosen die Zeit nennen, gibt es also überall – auch im ländlichen China, wo sich die Tochter über das Handy freut, was ihr Vater aus der Großstadt zum Neujahr mitbringt… Gleichzeitig, um an Yuanxi zu denken, war es mir so unglaublich unangenehm zu sehen, wie Qin und ihre Freundin in einem chinesischen Kaufhaus die von ihnen genähten Jeans suchten – und sie natürlich nicht fanden. Ich glaube, dass bringt die Frustration auf den Punkt, die die Mehrheit der Menschen hier mehr und mehr erfahren. So wird auch meine Vermieterin wütend, wenn sie gar nicht erst in den „Miller“-Laden darf, wo es die qualitativ hochwertigen Waschmaschinen aus dem Westen gibt. Dafür braucht man nämlich eine Einladung. Das klingt im ersten Moment lustig und im zweiten verzerrt es mir das Lachen, weil ich merke, wie sehr sich die Menschen hier über den Konsum definieren. Das mag nur in Shanghai so krass sein, doch Yuanxi bestätigte mir, dass es fast überall dahin tendiere: Freiheit bedeutet hier für die meisten, das kaufen zu können, was sie wollen und so viel sie wollen – notfalls eben auch gefälscht. Was das für das Gemeinwesen, also Solidarität und Gemeinschaftssinn bedeutet, muss ich noch herausfinden.

Morgen fängt meine fünfte Woche in diesem unbeschreibbaren Land an. Ich werde an der Uni deutsche Sprachkurse und bei einem Dolmetscherkurs hospitieren und Studenten bei ihren Referaten unterstützen. Abends hab ich von nun an immer Chinesisch-Kurs, 2,5 Stunden jeden Montag und Mittwoch. Außerdem hoffe ich, dass ich bald mit meinem Langzeitprojekt anfangen kann: Das Bild Chinas in Deutschland und das Bild der Chinesen von Deutschland, bin gespannt, was mein Chef dazu sagt. Am Freitag findet zum zweiten Mal der von mir organisierte deutsch-chinesische Stammtisch statt, letztes Mal waren wir 60 (!) Leute, es bleibt spannend, wer dieses Mal kommt.

Wo wohnen zwischen 20 Millionen?

Einige wissen, dass ich richtig schon tief im Stress stand. Warum? Wohnungssuche in einer Millionenstadt ist die HÖLLE! Eine gute Vorbereitung für das weitere Leben nehme ich an. Aber fang ich doch mal ganz von vorn an 🙂

Als ich vor zwei Wochen ankam, war ich einfach nur geflashed – und bin es immer noch. Die Stadt ist… enorm! Man bekommt tatsächlich eine Genickstarre, weil man die ganze Zeit nach oben schaut. Es gibt so viele Hochhäuser, nicht nur Banken oder Bürotürme, einfach unglaublich viele Wohnungen sind selbstverständlich im 22. oder 26. Stock. Zwischen ihnen verlaufen Hoch-Autobahnen, darunter weitere große acht- oder zehnspurige Straßen und auf einer Ebene dazwischen gibt es Fußgängerbrücken. Unter diesen Straßen und Häusern befinden sich zum Teil U-Bahnstationen, bei denen man zum Umsteigen 20 Minuten einplanen muss. Zum Teil, weil sie so groß sind und ewig weitläufig, aber auch, weil so viele Menschen aussteigen, dass es Staus auf Roll- und normalen Treppen sowie vor den Aufzügen gibt.

Als ich im Hostel eincheckte, wusste ich noch nicht viel davon. Was ich allerdings gemerkt habe, war die Kälte. Es sind immer noch zwischen 0° und 10°C tagsüber – und alles ohne Heizung und Isolation. Zum Glück gab es in meinem Hostelzimmer, dass ich mir mit drei anderen Chinesinnen geteilt hab, eine Heizung. Außer dieser äußerlichen Wärme ist mir vor allem auch aufgefallen, wie unglaublich hilfsbereit die Menschen hier sind! Wer gehört alles dazu? Meine Co-Praktikantin beim DAAD, Yu Weina oder auch Immi. Sie war für ein Jahr in Bamberg an der Uni, spricht super gut Deutsch und hat ihren ersten Arbeitstag mit mir zusammen Handykarte und Wohnungen besichtigt. Telefonieren ist hier so unglaublich billig, das kann man sich gar nicht vorstellen! Zudem braucht man hier einfach jemand, der chinesisch lesen und reden kann, damit man sich in der Stadt zurecht findet. Zwar sind alle Straßennamen „übersetzt“, also in unsere Zeichen transkripiert. Das hilft allerdings oft nicht, weil vieles sehr ähnlich klingen kann. Anekdote dazu: Immi und ich hatten uns für eine Metrostation verabredet, von der wir zusammen die Wohnung ansehen wollten. Linie 7, alles klar, dachte ich. Schließlich stand ich an der Changshou Lu, Exit 7 (essentielle Angabe, manche Stationen haben bis zu 20 Ausgänge!) und wartete… Irgendwann, nach vielen SMS und Telefonaten, wurde uns klar: Ich stand an Changshou Lu und Immi drei Stationen südlicher an der ChangshU Lu. Common mistake, wie mir später viele ExPats erzählten.

Damit komm ich auch gleich auf ein weiteres Shanghai-Phänomen zu sprechen: Die Stadt ist super international. Das kann man positiv wie negativ sehen, denn so genannte ExPats (Ex-Patriots, also Ausländer) machen das Einleben zum Teil einfacher, weil es hier alles für sie gibt: Irish Pubs, internationale Marken (Mode, Essen, Autos, etc.) Aber es nimmt ihnen auch die Herausforderung, sich anzupassen. Als Folge bleiben viele Ausländer unter sich und benehmen sich dementsprechend gegenüber den Chinesen. Beispiel?
Zwei Dinge: An einem Abend nahm mich eine Kollegin mit zu einer Lesung, es war eine Art Open-Mic-Night – natürlich auf Englisch… Dort traf ich Alex, ein Deutscher aus Darmstadt. Seines Erachtens nach ist Shanghai nicht international, weil die Taxifahrer kein Englisch verstehen könnten und man so immer die chinesische Adresse bei sich haben muss. Während er das sagte, saß er mitten zwischen anderen Deutschen, Amerikanern, Finnen und Briten in einer Bar, die von der Ausstattung genauso gut in London, Berlin oder sonst wo hätte sein können, allein die Bedienung war ausnahmslos asiatisch, aber wahrscheinlich nicht nur chinesisch. Was ist daran nicht international? Aber er konnte sich nicht verständigen und für die kommenden fünf Monate sah er es auch nicht ein, Chinesisch zumindest ansatzweise zu lernen. Ganz ehrlich: Ich fand ihn einfach nur mega arrogant.
Genauso war es auch auf einem Alumni-Abend hier auf Arbeit. Die alte Villa, wo ich arbeite, steht mitten im Zentrum Shanghais. Für die Wartung des Gebäudes ist ein chinesisches Ehepaar zuständig. Er ist der Wachmann, sie reinigt alles: die Toiletten, Böden, unser Geschirr, das wir während der Arbeit benutzen. Mir ist es immer noch super unangenehm, wenn sie in unsere Büro kommt, niemand schaut hoch, sie nimmt das Geschirr, geht, und kommt nach einer Weile wieder und räumt die sauberen Teller und Tassen wieder in den Schrank. Ich denk dann immer an die Spülmaschine zu Hause… Auf jeden Fall war eben dieser Alumni-Abend und da gab es Bier und einen Vortrag. Die Leute, die dem Vortrag lauschten, stellten notgedrungener Weise ihr Bier neben ihre Stühle auf den Boden und wie es kommen musste, fiel irgendwann eines um. Manche suchten schnell nach Taschentüchern und der Schaden war eigentlich keiner. Aber etwa zehn Minuten später stand die Frau – sie werden hier AYI genannt – an der Tür mit einem Lappen und wischte den Rest sauber, nahm die Taschentücher und verschwand. Das war gegen acht Uhr abends, die Frau wahrscheinlich schon längst zu Hause eingerichtet, aber irgendwer hatte sie wieder herbestellt. Ganz ehrlich, ich fan es furchtbar. Fast alle Anwesenden waren Westler und niemand half ihr, mich eingeschlossen! Sie ignorierten sie vehement und hörten dem Vortrag zu. Ihr könnt mir gern sagen, dass das ja der Job von der Frau ist und sie sicher auch etwas dabei verdient. Aber sorry, abends um acht schafft man es doch auch, selbst einen Lappen zu holen und das kurz weg zu machen. Verzeiht mir diese Moralpredigt, aber ich war wirklich geschockt, denn vor meinen Augen fand da grad Klassengesellschaften im wahrsten Sinne des Wortes statt – und zwar live und Farbe mit hauptsächlich Deutschen in den Hauptrollen.

Nun ja, so viel zu dem Thema radikale Unterschiede in Shanghai: Sie springen einem jeden Tag ins Auge. Oft fallen mir dabei auch immer wieder Situationen von zu Hause ein. Sei es nun, ob hier behinderte Menschen in den U-Bahnen mit einen Mikro und Radio laut singen und betteln, in Frankreich sind es Roma und Sinti, die durch Lyons Metro singend gebettelt haben. Sei es die willkürlichen Infos, die ich bei meiner Registrierung von meiner Mitbewohnerin erhalten habe. Sie ist Brasilianerin und macht ein Praktikum bei einem IT-Unternehmen. Als sie gestern in die gleiche Polizeistation gegangen ist, wie ich heute, sagte ihr die einzig englisch sprechende Mitarbeiterin, sie müsse 10 Euro zahlen, damit sie registriert werde. Heute war ich bei der Mitarbeiterin: Ich musste nichts bezahlen. Aber vielleicht ist es auch die Sonntagsgebühr? Hier hat nämlich alles und jeder jeden Tag, jede Stunde geöffnet. Das wird für mich unglaublich schwierig, wenn ich wieder in Deutschland bin 🙂

Gut, außer diesem ganzen soziologischen und philosphischen Geplänkel hier noch kurz ein paar knallharte Fakten: Für meinen Arbeitsweg in die Stadt brauch ich etwa 50 Minuten, obwohl ich gar nicht umsteige, und bin immer noch im Zentrum der Stadt. Eine Fahrt kostet mich etwa 4 Yuan, also 50 Cent. In der nächsten Umgebung gibt es Carrefour, Pizzahut und McDoof, die auch liefern. Jede Straße hat eine extra Spur für Verkehrsteilnehmer mit weniger als vier Rädern. Die und Taxis halten sich eigentlich gar nicht an die Ampelphasen, die hier aber alle runterzählen, bis sie wieder auf Grün schalten. Da ich als notorische Bei-Rot-Über-die-Ampel-Geherin immer gucke, ob was kommt, ist das keine große Herausforderung. Auf Arbeit organisiere ich gerade einen Stammtisch für deutsche und chinesische Studenten, der erste findet übermorgen statt. Außerdem werde ich am Freitag beim Studientag der Tongji-Universität dabei sein, eine der beiden Exzellenzunis hier in Shanghai. In Zukunft soll ich außerdem ein Tutorium für chineische Studenten, die Deutsch lernen, machen, um ihnen zu erklären, wie man Referate hält und korrigieren. Wenn ich Glück habe, bin ich Ende des Monats in der Nachbarstadt Nanjing auf einer Messe.

Einfach über die Straßen ist eigentlich nicht drin: Obacht ist gefragt!

 

Hier noch der obligatorische Kulturtipp:
Das Buch "Wild Swans" von Jung Chang, gibts auch auf Deutsch. 
Chinas Geschichte des letzten Jahrhunderts anhand einer Familienbiographie 
über drei Generationen, sehr spannend geschrieben!