Heute feier ich mein „Siebenwöchiges“ und in anderhalb Wochen steht mein Zwischenseminar an, was so gut wie „Bergfest“ heißt. Oder Halbzeit? Oder Countdown? Die Zeit verfliegt und von „angekommen sein“ kann ich immer noch nicht reden. Trotzdem habe ich letztes Osterwochenende die Gelegenheit genutzt und bin nach Suzhou fahren, wo Johanna – eine weitere Freiwillige – an einer Foreing Language School assistiert.
Wer eine Reise macht…
Es war meine erste Reise, eine Woche zuvor habe ich zusammen mit der chinesischen Praktikantin Zhile (chinesisch für „Glück“) ein Zugticket nach Suzhou gekauft – die bekommt man hier nämlich grundsätzlich nur maximal zehn Tage vor Abreise, manchmal auch nur fünf Tage bevor es los geht. Außerdem kann man die Fahrkarten nur bei dafür zulässigen Agencies oder direkt am Bahnhof kaufen und muss mindestens die Reisepassnummer parat haben. Klingt kompliziert, ist es aber eigentlich nicht. Man muss eben nur wissen, mit welchem Zug man fahren will (welche Klasse, nicht welche Zeit) und je nachdem bekommt man ein Ticket mit Abfahrtszeit, Zugnummer, Zugwagon und Sitzplatz. Weil ich nun unbedingt China live erfahren wollte, bestand ich auf ein Ticket für den langsamsten Zugtyp „K“. Das klingt jetzt schlimm, war es aber gar nicht: Suzhou ist so nah, dass ich mit dem langsamsten nur eine Stunde dahin brauch und umgerechnet weniger als zwei Euro dafür zahle. Mit dem „G“-Zug spar ich zwar 40 Minuten, zahle aber mehr als zehn Euro. Da spar ich gern, schließlich hab ich Zeit!
Zugfahren ist ja auch in Deutschland immer ein großartiges Thema, wenn man nicht weiß, worüber man reden soll. Jeder hat mindestens ein Mal ein furchtbares DB-Erlebnis gehabt und kann sich gediegen echauffieren. Lustigerweise habe ich auf dem kurzen Trip nach Suzhou auch gleich zwei total verschiedene Erfahrungen mit der chinesischen Bahn gemacht: Hinzu fuhr der Zug in Shanghai los (Fun Fact: In chinesischen Städten gibt es oft keine „Central Station“, sondern einfach viele verschiedene „Railway Stations“. So hab ich von Zhile erfahren, dass der „Hauptbahnhof“ nur drei Stationen von mir zu Hause entfernt ist… Doch keine so schlechte Lage?^^) und der Wagon war wunderbar sauber und ordentlich. Links des Gangs saßen jeweils zwei Leute sich gegenüber, auf der anderen Seite drei. Die Sitze waren gepolstert (blau) und hatten weiße Deckchen über den Kopflehnen. Hier habe ich allerdings sofort gemerkt, dass der „normale“ Chinese eben doch kleiner gebaut ist – ohne Armlehne auf einer Doppelbank kann es für zwei gut gebaute Europäer eng werden. Zum Glück saß neben mir nur ein älterer Mann, der sogar noch seine Aktentasche zwischen uns stellte. Auf der Hinfahrt konnte ich auch einwandfrei meinen Sitzplatz finden, ich war eine der ersten im Zug. Überhaupt ist im Vergleich zu Deutschland das Zugfahren hier effizienter durchorganisiert, weil der Bahnhof wie ein Flughafen funktioniert. Das bedeutet auch, dass man das Gebäude an sich nur mit gültigem Fahrschein (den man am Eingang nebendran kaufen kann) betreten darf und direkt am Eingang durch einen Sicherheitscheck muss. Dahinter steht dann eine große Abfahrtstafel, ähnlich wie in französischen Bahnhöfen, auf der sämtliche Züge (hier ist die Zugnummer entscheidend!) aufgelistet werden. Ich war wirklich erstaunt, dass sogar in Suzhou diese Tafel neben chinesisch auch englisch beschriftet war. Jedem Zug wird ein Gleis zugordnet, dass aber eher wie ein „Gate“ funktioniert. Denn man darf nicht sofort auf das Gleis, sondern muss erst im Wartebereich (lange Sitzreihen wie auf dem Flughafen) auf das „Boarding“ warten. Dann wird das Ticket kontrolliert und weil ja schon per Kauf auch die Reservierung klar ist, gibt es keinen Stress, wo der entsprechende Wagon hält und überhaupt. Mein Zug hatte zum Beispiel 20 Wagons und von Wagen 1 bis 10 musste man zum Warteraum 8a und die restlichen mussten zu Warteraum 8b. Beginnt das Boarding entsteht eine mehr oder weniger zivilisierte Schlange, man wird auf das Gleis zugelassen, wo der Zug bereits wartet oder innerhalb der nächsten Minuten einfährt. Am Wagon wartet dann der nächste Schaffner und sieht nach, ob man auch wirklich in den Zug darf/soll.
„Hilfe“ gibt es in jeder Sprache
Schließlich fuhr der Zug los und aus der andauernden klassischen Klaviermusik, die auch im Bahnhof zur Beruhigung der Passagiere dienen sollte (?), wurde langsam klassisch chinesische Harfen- und Violenenmussik. Eigentlich wollte ich die Stunde zum Rekapitulieren und Schreiben nutzen, nach einer halben Stunde überwand sich dann aber mein neugieriger Gegenüber mich anzusprechen (er sowie alle anderen direkten Sitznachbarn beobachteten mich ununterbrochen, wie ich mit Füller in mein Tagebuch schrieb). Allerdings auf Chinesisch und ich war total „lost“, was mir widerum sehr peinlich war und ich jegliches Vokabular vergessen hatte. Zum Glück hatte ich mein Chinesisch-Buch dabei und las stupide die aus dem Chinesisch-Unterricht notierten Sätze vor. Die restliche Zeit war so schnell vergangen und ich habe mindestens den halben Zug amüsiert, denn alle sperrten Augen und Ohren auf wie die blonde Ausländerin versuchte, ihre Sprache zu… artikulieren. Als ich ihnen dann auch zu verstehen gab, dass ich nicht wüsste, wo die Taxis in Suzhou abfahren (zum Glück hatte mir Johanna die Adresse vorher geschickt und ich zeigte ihnen, wo ich eigentlich hinmusste), nickte mein älterer Sitznachbar vehement mit dem Kopf. Er kannte die Schule? Er weiß, wo die Taxis abfahren? Er muss auch in Suzhou aussteigen? Ich verstand rein gar nichts, aber offensichtlich musste er auch nach 50 Minuten Zugfahrt aussteigen und nahm mich am Arm. Na, dann lass ich mich mal führen. Natürlich kann man jetzt sagen: Ist das Mädel denn total naiv? Da hätte ja sonst etwas passieren können! Aber in solchen Situationen hab ich die Erfahrung gemacht, dass man auf seinen Bauch hören muss – sonst ist man verloren. Der Vertrauensvorschuss zahlte sich auch aus, weil der Mann mich durch den Bahnhof zu den Bussen führte und schließlich zu den Taxis, mich vor dummen Verlautbarungen chinesischer Jugendlicher „schützte“ und bis zu Johannas Schule brachte (er stieg mit mir aus dem Taxi aus und führte mich am Arm über die große Straße in Johannas Arme, xiéxie!).
Suzhou zum Verlieben
In Suzhou angekommen, war ich erst ein Mal erstaunt, weil es doch irgendwie (vom Taxifenster aus) Shanghai sehr ähnelt. Dabei ist die Stadt fünf Mal kleiner als die Megacity am Huang Pu – und mit vier Millionen Einwohnern immer noch so groß wie Berlin. In der District Area leben sogar 10 Millionen Menschen. Suzhou ist in drei Teile gegliedert: SIP (Suzhou Industrial Park), SND (Suzhou New District) und Old Town. Im letzen Teil besteht ein Hochhausverbot, das heißt, die Innenstadt ist in gewisser Weise sehr europäisch. Denn dort Restaurants und Shops sind alle zu ebener Erde betretbar und eher kleine Boutiquen statt riesiger Malls und Kaufhäuser. Zudem wird die Innenstadt von Kanälen durchzogen, die Suzhou den Beinamen „Venedig des Ostens“ gegeben haben. Außerdem wird die Stadt auch der „Garten Chinas“ genannt, weil die Stadt für ihre Parkanlagen und -zum Teil- heiligen Gärten bzw. Tempelanlagen bekannt ist. In zwei dieser Anlagen waren Johanna und ich während des Osterwochenendes: Tiger Hill und Divine Hill. Ersterer ist sehr bekannt, denn die über tausend Jahre alte, siebenstöckige Pagode sieht nicht nur beeindruckend aus, sondern steht schief: wieder eine Referenz nach Italien? Interessanterweise soll unter dieser Pagode ein Schatz voller Schwerter begragen sein – die jedoch nicht geborgen werden können, da die Pagode sonst einstürzen würde. Wu König Helu, der dort beerdigt liegt und dessen Grab von einem weißen Tiger (daher der Name) beschützt werden soll, hat das anscheinend sehr smart gelöst. Der Park war wirklich schön, vor allem auch, weil die Chinesen unglaublich viele Blumenrabatten angelegt haben. Grundsätzlich fand ich die Anlage sehr schön, jedoch war es -wie überall- sehr überlaufen. Ruhe in diesem Park zu finden, war kaum möglich. Und immer wieder musste ich feststellen, welch Attraktion Johanna und ich waren (der arme König Helu!). Am Ende des Ostersamstags waren wir beide blonden Mädchen die Meister im spontanen Gesichtsverzerren, umso denjenigen eins auszuwischen, die ohne zu fragen radikal mit der Kamera auf uns „drauf hielten“.
Das gleiche Verhalten konnten wir auch am nächsten Tag beobachten, als wir in Richtung Westen zu einer Tempelanlage aufbrachen. The Divine Hill war eine kleine Anlage, die wir für 20 RMB bestaunen durften. Vor allem waren wir aber über die wenigen Menschen verwundert, die über die verschlungenen Wege wandelten und sich vor blühenden Bäumchen und Sträuchern fotographierten. Die Parks in China beruhen oft auf der Feng-Shui-Tradition, in der Naturgeister eine große Rolle spielen. Daher werden zum Beispiel Brücken zu Pavillons nicht gerade gebaut, sondern mäandern – Geister können nicht passieren, weil sie nur geradeaus gehen können. Außerdem sind viele „Felsen“ aus Steinen zusammen „geklebt“ und stammen ursprünglich aus dem Taihu-See.
Der Tempel, den wir im Park suchten, schien jedoch auf ein Mal verschwunden zu sein – bis wir am Ende des Parks ankamen. Ein Schild kündigte an, dass wir die Anlage verlassen, mit unseren Tickets aber wieder hineinkämen. Weiter bergauf trafen wir plötzlich auf die vertrauten Menschenmassen. Jugendliche, Familien, Rentner, Paare – alle Welt stieg die Stufen zum Tempel hinauf. Die eine oder andere Chinesin hing am Arm ihres Mannes – zu hoch waren ihre Schuhe, zu ungesund sahen ihre Absätze aus. Sie hatten einfach den kostenlosen Weg um den Park herum gewählt. Als wir oben ankamen, nahmen wir eine unkonventionellen Weg in die Tempelanlage hinein – durch den Hintereingang, wo auch der Lastenaufzug von ganz unten mündete. Prompt wurden wir von einem Mönch in die Anlage gescheucht, wo es nach Räucherstäbchen roch. Viele Chinesen beten zu verschiedenen Göttern, je nach Lebenslage und Bedarf. Manche beten zu dem Gott, der für Geburtsjahr zuständig ist, andere zu allen. Im Tempel selbst begegneten wir den vier Windkönigen, von denen zwei immer böse schauen. Jedoch sind sie nicht per se böse, sondern sollen einfach nur Feinde abschrecken. Für mich waren sie wieder ein Mal ein Beispiel chinesischen Denkens: Es gibt immer eine zweite oder dritte Intention hinter dem Offensichtlichen.
Auch ein goldener Buddha war zu bewundern (Obacht, niemals fotographieren, das ziemt sich nicht!) und immer wieder markant für Johanna und mich: das Hakenkreuz auf der Brust des im Lotussitz trohnenden Mannes. Eigentlich ist es nicht das Hakenkreuz, sondern die Swastika – das Kreuz zeigt also nach links und nicht nach rechts. Es steht in China für Glück und wurde später auch bei den Germanen zur Anbetung der Sonne genutzt. Hitler hat es dann für seine Zwecke missbraucht, umgedreht und „Reinheit“ hineingedeutet. Wenn mir das Kreuz hier immer begegnet, muss ich an den Film von Mo Asumang, den wir auf dem Vorbereitungseminar gesehen hatten: „Roots Germania“, eine interessante Dokumentation einer Halbafrikanerin auf der Suche nach ihren deutschen Wurzeln. Denn wenn wir uns mit den Germanern mal näher auseinander setzen würden, kämen wir zu überraschenden Gemeinsamkeiten mit fernöstlichen oder afrikansischen Naturglauben. Als wir die Tempelanlage verließen, sahen wir auch den Grund für den inoffiziellen Hintereingang, der von manchen Chinesen genutzt wurde: Am Haupteingang musste man widerum Eintritt zahlen – nur um zu beten! Aber nicht nur die Mönche, auch die Kleinunternehmer am Fuß des Hügels nutzten die Anziehungskraft des Tempels. Wie schon bei Tiger Hill konnte ich Unmengen von Kiosks sehen, deren Auslage für mich eher wie Ramsch wirkten. Ab und zu wurden sie von Läden mit traditionellen Seidenkleidern und Malerei abgelöst. Es gab sogar Frauen in diesen Kostümen, die vor einem gemalten (!) Landschaftshintergrund posierten und von Gurken-am-Stiel-essenden Chinesen bewundert wurden.
Wahrnehmungsverzerrung?
Am Abend merkten wir immer deutlicher den Smog, der uns das Atmen zur Hölle machte. Endlich konnten wir nachvollziehen, warum viele Chinesen ihre Kehlen mit einem sehr widerlichen Geräusch vom Schleim befreien. Das Kratzen verwandelte sich im Laufe des Ostersonntags immer weiter zu Halsschmerzen. Es hielt mir vor Augen, was eventuell im Sommer auf mich zukommen wird. Außer der Wind, der in Shanghai wegen des Meeres die Luft in Bewegung hält, bläßt den Smog fort. Mir hat sich damals und stellt sich seit dem immer öfter die Frage: Was bedeutet eigentlich „lebenswert“ in einer Millionenmetropole – und was ist eine Metropole? In Suzhou hatte ich wirklich nicht das Gefühl in einer großen Stadt zu sein. Die Straßen der Innenstadt waren für mich gemütlich, bis auf die Parks war nichts „überrannt“. Die Größte der Stadt wurde erst deutlich, als wir mit Bus und Taxi lange Fahrten von einem Ende zum anderen Teil der Stadt nutzten – ein Mal sogar 45 Minuten lang (Busfahrten kosten dennoch nur 2 Yuan). Am Karfreitag entdeckte ich sogar einen richtig gemütlichen Ort. Dank Johanna besuchten wir ein Expat-Café/Bar, den „Bookworm“. Aber nicht nur wegen des Namens und der ganzen Bücher fühlte ich mich dort fast zu Hause. Sondern auch der chino-ausländischen Atmosphäre. Neben Foreignern waren eben auch Chinesen vor Ort. Zu meiner Schande muss ich sagen, dass ich große Resentiments hatte, als Johanna und ich plötzlich drei Chinesen an unserem Tisch hatten. Die Herren mittleren Alters fragten uns auf Englisch alles mögliche aus und wir antworteten höflich – dachten aber doch, dass wir vielleicht Signale gesendet hatten, derer wir uns nicht bewusst waren… Am Ende erzählte jedoch ein amerikanischer Freund von Johanna (er selbst lebt schon sehr lang in Suzhou und spricht fließend Chinesisch), dass einfach English Night war: Die Chinesen wollten ihre Sprachkentnisse verbessern! Diese offene Atmosphäre nahm ich außer der „kleinen“ Häuser und Straßen ganz für Suzhou ein. Doch wieder musste ich auch ein Gegenteil kennenlernen: Am Samstagabend trafen wir auf eine Engländerin, die mit ihrem Mann seit fünf Jahren in Suzhou lebte – und gerade so mit dem Taxifahrer kommunzieren konnte, wie sie lachend zugab. Auf die Frage, welche Gärten sie uns denn empfehlen könnte, musste sie uns auch gestehen, dass sie in den ganzen Jahren in keinem einzigen gewesen sei. Mitkommen wöllte sie nicht, als wir ihr anboten mit uns mitzukommen. Nach fünf Jahren könnte sie jetzt auch nicht mehr in einen Garten gehen… Eine Logik, die sich mir nicht erschloss und den Kleingeist dieser weit gereisten Frau auf den Punkt brachte.

Ein kleiner Pavillon, zu dem eine Zick-Zack-Brücke führt.
Also leidet nicht nur Shanghai an seinen Expats? Als ich am Ostermontag wieder zurückfuhr, gab mir diese Frage zu denken. Denn schließlich verhalte ich mich ähnlich: Erst vorgestern, eine Woche nach diesem Erlebnis, war ich mit deutschen Freunden auf einem Konzert des deutschen DJs Fritz Kalkbrenner und habe wieder feststellen müssen, wie wenig ich kommunzieren kann. Was ich aber auch festgestellt habe: Nach Suzhou kam mir Shanghai vertraut vor. Ich fühlte mich auf ein Mal nicht mehr überrollt von den Wolkenkratzern, den Menschenmassen, sondern war froh über die U-Bahn, die mich so schnell nach Hause bringen würde. All‘ das schien mir auf ein Mal „normal“ – und ich musste lachen, weil die Relationen sich nach sieben Wochen so schnell verschieben können. Plötzlich steht nun die Frage im Raum: Wie werde ich mich in Deutschland wieder einleben?
-
-
-
-
-
-
-
- Ein kleiner Pavillon, zu dem eine Zick-Zack-Brücke führt.
-
-