Von großen Mauern und großen Gefühlen

Manchmal muss man zuerst eine lange Durststrecke überstehen, bevor man ein Ziel erreicht. Die Ankunft an diesem Ziel fühlt sich dann jedoch umso lohnender an. So erschien mir mein Aufenthalt in Beijing wie die größte Entschädigung für die überstandenen Herausforderungen, die sich mir je hätte bieten können.

Kurz vor Ende meines Aufenthalts in China hatte ich es endlich in dessen Hauptstadt geschafft. Nachdem ich in den vergangenen Wochen im Westen ein völlig ungewohntes China erlebt hatte, kam ich nun gewissermaßen im Zentrum der chinesischen Kultur an. Kaum eine andere Stadt in der Volksrepublik birgt so viel schlechte Luft, äh, geschichtliche Reichtümer und Bilder, die einem sofort in den Kopf schießen, wenn man an China denkt.

SAM_3169SAM_3188SAM_3189Bereits an meinem ersten Tag tauchte ich in ein authentisches Stück klassischer chinesischer Wohnkultur ein, als ich die Hutong-Siedlung betrat, in der sich irgendwo mein Hostel befinden musste. Obwohl ich vor Übermüdung vermutlich langsam eine Gefahr für den Verkehr darstellte und nicht die leiseste Ahnung besaß, wo genau sich dieses doofe Hostel versteckte, störte es mich nicht im Geringsten, mich in den Gassen dieses Wohnlabyrinths zu verlaufen. Dafür machte dessen Erkundung nämlich einfach viel zu viel Spaß. Zu meinem großen Glück konnte ich hier höchstens von einem schnaufenden Rikscha-Fahrer über den Haufen gefahren werden, Autos wollten sich scheinbar kaum durch die schmalen Wege quetschen.

Stattdessen waren die Straßen gefüllt mit einer quirligen Mischung aus dutzenden Tante-Emma-Läden, kleinen Restaurants, aus denen allerlei verführerische Düfte drangen und gelassenen, freundlich grinsenden Menschen. Es fiel wirklich nicht schwer, sich umgehend willkommen zu fühlen, vor allem, da mir netterweise an jedem Straßeneck ausführlich der Weg zu meinem sehnsüchtig erwarteten Bett beschrieben wurde  (auch wenn man mir in dem ersten Massagesalon, in dem ich mich erkundete, gleich den Weg zum Happy End im Hinterzimmerchen zeigen wollte). So schlenderte ich frohen Mutes von einer Kreuzung zur anderen, landete unverhofft auf einem geschäftigen Gemüsemarkt in einem Innenhof, wurde von tratschenden Omas angelächelt und stolperte fast über einen Jungen, dem man mitten auf der Straße die Haare schnitt. Herrlich. Memo an mich selbst – sollte ich irgendwann einmal nach Beijing ziehen, dann werde ich mich in einem Hutong einnisten. Zumindest wenn sie bis dahin noch existieren, denn viele dieser liebenswürdigen Siedlungen müssen zurzeit gnadenlos der Modernisierung der Stadt weichen.

Nachdem ich meine Unterkunft dank haufenweise hilfsbereiter Hutong-Bewohner endlich gefunden und mich ausgiebig von der Zugfahrt erholt hatte, wurde es für mich Zeit, meinen ersten Anlaufpunkt in Beijing und gleichzeitig DAS Touristenziel Chinas schlechthin zu besichtigen. Endlich würde sich das monatelange Training im nächtlichen Mauerklettern bezahlt machen – heute führte mich mein Weg auf den Teil der Großen Mauer, den jedes zweite Cover eines China-Reiseführers ziert! Aufgrund eines ständig stationierten Militäraufgebots ließ sich das Ganze früher um einiges schwerer bezwingen als der Zaun vor meiner Schule, aber heute gab es glücklicherweise Touristenagenturen, die auch fremdländische Barbaren mit Freuden auf die Mauer bringen.

Da sich meine treuen Reisekumpanen leider damals noch irgendwo im Nirgendwo den Hintern wundsaßen, musste ich mich zum ersten Mal alleine auf Erkundungstour begeben. Doch wie ich mittlerweile ziemlich genau wusste, ist man immer nur so allein, wie man sich selbst fühlen möchte – vor allem auf Reisen. Und da ich mich nur äußerst ungern alleine fühle, hatte ich bald einen netten Expeditions-Partner gefunden.

Im Touribus, der uns aus der Stadt hinaus in die Berglandschaften um Beijing brachte, begegnete ich Rubens, einem jungen brasilianischen Restaurantbesitzer, der seit Jahren seinen wohlverdienten Urlaub dazu nutzte, alle möglichen Länder der Erde zu bereisen und auf seinem Trip nach Japan und Korea einen kurzen Zwischenstopp in der Hauptstadt einlegte. Gemeinsam ließen wir uns im komfortablen Sessellift zur Hügelkuppe hinaufbringen, an die sich der Mutianyu-Abschnitt des ursprünglich längsten Bauwerks der Welt klammerte. Über 8000 Kilometer soll diese gigantische Konstruktion einmal gemessen haben – das entspricht der doppelten Länge der Zugstrecke, die ich von Kashgar nach Beijing zurückgelegt hatte.

SAM_3209SAM_3224SAM_3238SAM_3269SAM_3307Heute sind viele Teile der Mauer zwar Verwitterung und Erdbeben zum Opfer gefallen, Mutianyu gab nach fleißigen Renovierungsarbeiten jedoch ein ziemlich gut erhaltenes Bild ab. Wie ein steinerner Drache schlängelte sich die Mauer vor uns in dynamischen Wellen und Kurven durch das satte Grün der Bergewälder und verschwand in der Ferne im Nebel. Dank des dramatisch mit grauen Wattewolken verhangenen Himmels wagten sich außerdem nur wenige Touristen auf die Spuren der chinesischen Soldaten, die hier vor vielen Jahrhunderten patrouillierten. Auf diese Weise wurden wir glücklicherweise weder von fahnenschwingenden Touristenführern überrannt noch wurden uns die Trommelfelle von schrillen Megaphonen weggeblasen.

Der Geräuschpegel beschränkte sich lediglich auf das Zwitschern der Vögel im Wald, Smalltalk in allen möglichen Sprachen und dem entkräfteten Schnaufen von  den armen Übergewichtigen, die sich dennoch die steilen Stufen hinauf quälen wollten. Immerhin erhielt man als Gegenleistung für das lautstarke Kalorienverbrennen faszinierende Panoramen und am einen Ende des Abschnitts sogar einen Ausblick auf ein unberührtes Stück Mauer. Hier waren es weniger mandschurische Barbaren, sondern die Natur, die die Mauer eroberte. Überall auf den alten Gängen und Wachtürmen sprossen Bäume und Sträucher, sodass das Bauwerk langsam mit dem Berg zu verschmelzen schien.

Auch wenn wir hier nicht weitergehen konnten (nicht, dass ich das erfolglos versucht hätte), blieb uns immerhin noch genug Zeit um in entgegengesetzter Richtung eine Zeit lang weiter zu spazieren und uns ausgiebig zu unterhalten. So lernte ich auf der Großen Mauer mehr über Brasilien als über die Geschichte Chinas und erhielt als Erinnerung an unsere Begegnung sogar zwei Reais (brasilianisches Geld). Wer weiß, vielleicht werde ich die ja irgendwann einmal in Rubens‘ Restaurant ausgeben.

Viel zu spät erreichten wir schließlich das Restaurant im Tal, in dem wir uns mit dem Rest der Touristengruppe treffen sollten. Mit den restlichen Verspäteten, einer unglaublich herzlichen italienischen Familie und zwei Spanierinnen versammelten wir uns um einen der runden Tische und erwarteten sehnsüchtig unser vermutlich vollkommen mittelmäßiges Touristenessen. Denkste. Zu meiner großen Überraschung tischte man uns mir wohlbekannte, authentische Speisen auf, sodass ich umgehend begann, vorfreudig meine Stäbchen von Schüssel zu Schüssel wandern zu lassen. Und dafür etwas perplexe Blicke kassierte. Darf man in China wirklich einfach beliebig in jedem Teller herumstochern? Ups, da hatte ich wohl vergessen, dass hier wohl noch nicht alle so lange in China unterwegs waren wie ich.

Nach dieser Erkenntnis hatte ich die Ehre, den wissbegierigen Neuankömmlingen einen kleinen Crashkurs in chinesischen Tischmanieren zu geben und stellte dabei wieder einmal fest – eigentlich muss man sich deswegen kaum Gedanken machen. Jeder nimmt von jedem, was man nicht mag, spuckt man einfach auf den Tisch und entgegen der Meinung zahlreicher Reiseführer stört es meistens niemanden, ob man während dem Essen nießt oder sich schnäuzen muss (denn das lässt sich zumindest in Wuhan teilweise bei der Schärfe des Essens kaum verhindern). Lediglich sollte man es meiden, einen Teller für sich zu beanspruchen – schließlich möchte man alles einmal ausprobiert haben. Ach, ich liebe die chinesische Esskultur!

Als ich währenddessen beobachtete, wie man rundum unfreiwillige Stäbchenkunststücke ausführte und den einen oder anderen leckeren Happen auf dem Weg zum Mund in den Schoß fallen ließ oder ihn quer über den Tisch schoss, fühlte ich mich angenehm in meine ersten Wochen in China zurückversetzt und konnte zufrieden dazu übergehen, mitten in China den besten Burger meines Lebens zu essen.

Diese Erfahrung verdankte ich meinem guten Freund Berlin, der seit einiger Zeit ein Praktikum in Beijing macht und sich Abend für Abend dazu bereiterklärte, mir ein paar schöne Flecken der Stadt näherzubringen. Um ehrlich zu sein, hatte ich nach einem recht emotionalen Abschied in Wuhan bezweifelt, dass wir uns noch einmal in China treffen würden, doch manchmal scheinen sich die Wege zweier Freunde eben dennoch unverhofft zu kreuzen. Eine Tatsache, die mich zuversichtlich stimmte, dass dies auch für andere Freunde aus meiner Zeit im Ausland zutreffen konnte   und die sich in den folgenden Tagen mehrmals bestätigen sollte.

Eines der berühmten Mao-Portraits

Eines der berühmten Mao-Portraits

Am folgenden Morgen durfte jedoch vorerst eine lang erwartete Freundin willkommen heißen. Sonja traf nach ihrer eigenen Zugfahrt endlich auch in der Hauptstadt  ein, die aufgrund einiger Komplikationen sogar noch länger gedauert hatte als meine eigene (die anderen hatten es mittlerweile bis nach Wuhan bzw. Guangzhou geschafft). Trotz Erholungsbedarf erklärte sie sich bereit, mit mir eine entspannte Tour durch die 798 Art Zone zu unternehmen, ein riesiges Künstlerviertel, dessen Galerien und Cafés stimmungsvoll in ausgediente Fabrikgebäude ihre Türen für Kunstbegeisterte öffneten. Hier verbrachten wir den ganzen Nachmittag damit, verschiedene moderne Gemälde, Skulpturen und Installationen zu interpretieren und stießen sogar auf eine Ausstellung, in der die Mao-Portraits des Künstlers hingen, der für das große Bild vor Tiananmen verantwortlich war. Der gute Mann hatte tatsächlich seine ganze künstlerische Karriere damit verbracht, bis nach seiner Pension ausschließlich Bilder von ein und derselben Person zu malen. Wenn jemand weiß, wie viele Haare der Chairman auf dem Kopf trug, dann vermutlich diese Person!

Beim Abendspaziergang unter roten Lampions

Beim Abendspaziergang unter roten Lampions

Nachdem wir ausgiebig für unser geistiges Wohl gesorgt hatten, sehnten wir uns allmählich danach, auch unseren Hunger aus der Magengegend zu stillen. Dafür trafen wir uns ein letztes Mal mit Berlin, der uns zum Abschluss in eine besonders atmosphärische Gasse führte. Zwischen lauschigen Bars, haufenweise Souvenir- und Spezialitätenständen, rot leuchtenden Lampions und Straßenhändlern schloss ich Bekanntschaft mit meinem bisher außergewöhnlichsten neuen Freund – zumindest dem Aussehen nach zu urteilen.

Verkäufer, die von zuckersüßen Welpen über Kätzchen, Wellensittiche, Streifenhörnchen, Schildkröten, prächtigen Kampffische, bunte Frösche bis hin zu Miniquallen jedes erdenkliche Wesen für Spotpreise anbieten, sind in China keine Seltenheit. Zwar versetzt der Anblick der winzigen Käfige und teebeutelgroßen Wasserbehälter dem Tierschützer in mir immer wieder schmerzliche Stiche. Das von allem Krabbeltier faszinierte Kleinkind in mir lässt sich allerdings genauso oft dazu hinreißen, das farbenfrohe Getümmel doch ein bisschen genauer unter die Lupe zu nehmen.

Tom die Tarantel beim Spaziergang auf meiner Hand

Tom die Tarantel beim Spaziergang auf meiner Hand

Dem Bann des besonders exotischen Ensembles, das wir irgendwann passierten, konnte ich mich natürlich nicht entziehen – und durfte alsbald mit den feilgebotenen Kreaturen auf Tuchfühlung gehen. Die Schlange, die sich wenige Augenblicke später um mein Handgelenk wand, ließ mich noch einigermaßen unberührt – was mir danach jedoch aus seiner Plastikbox entgegen grinste, trieb meinen Herzschlag in Sekundenschnelle auf ungeahnte Frequenzen. Als Tom, die Tarantel allerdings im nächsten Moment träge über meine geöffnete Handfläche spazierte, stellte ich jedoch fest, dass sich die beeindruckend große Spinne gar nicht so bösartig verhielt, wie sie wirkte. Wie sagt man so schön: man darf nie jemanden nach dem Aussehen beurteilen, selbst wenn er acht lange Arme, acht Augen und zwei fette Fangzähne besitzt. Dass ich mich zu so etwas jemals überwinden würde, hätte ich dennoch selbst in China nicht vermutet, doch hier schloss ich eben Freundschaften aller Arten. Und von Berlin, einem meiner besten Freunde musste ich leider am selben Abend endgültig Abschied nehmen –natürlich aber mit dem Versprechen, dass wir uns in Deutschland wiedertreffen würden.

Skorpione, Seepferdchen und Seesterne - ein nahrhafter Snack für Zwischendurch

Skorpione, Seepferdchen und Seesterne – ein nahrhafter Snack für Zwischendurch

Mit Sonja ging es an meinem letzten Tag in Beijing recht exotisch weiter. Unser aufgrund meiner bevorstehenden Weiterreise sehr eng gefasstes Kulturprogramm begannen wir in der Wangfujing Food Street, um uns ein paar Snacks zu gönnen, die uns für den anstrengenden Tag stärkten. Bereits bei meinen ersten Schritten durch das Eingangstor erkannte ich, dass diese Straße meine geliebte Hu Bu Xiang weit in den Schatten stellte. Hier versammelten sich mehr kuriose Köstlichkeiten, als ich je zuvor auf einem Haufen gesehen hatte – genau richtig für einen Chihuo (Feinschmecker) wie mich und den Abschluss meiner kulinarischen Entdeckungsreise durch China. Um meinen Magen vorsichtig einzustimmen, läutete ich meine heutige Häppchentour zuerst mit etwas Leichtem ein – Skorpion am Spieß! Während einer der scheren- und stacheltragenden Kameraden noch nichtsahnend über die Schulter einer ebenfalls noch nichtsahnenden (dann recht überraschten) Sonja stolzierte, ließ ich mir seine frittierten Freunde schmecken. Und mit schmecken übertreibe ich in diesem Fall tatsächlich nicht, denn wer Shrimps liebt, der wird auch von den würzigen Kreuzungen aus einer Spinne und einem Krebs durchaus angetan sein.

Knuspriger Gecko am Spieß

Knuspriger Gecko am Spieß

Je weiter wir daraufhin in die Food Street vordrangen, desto spannender und teilweise auch fragwürdiger erschienen die Delikatessen in den Auslagen: gekochte Küken, bleistiftlange Hundertfüßer, aufgerollte Schlangen, Seepferdchen, getrocknete Seesterne, gegrillte Grillen, fette Seidenkokons, Salamander und sogar die gebratenen Cousins von Tom der Tarantel. Bei einer derart großen Menge an nie gesehen Gaumenfreuden fiel es mir schwer, mich für mein Mittagsmal zu entschieden. Letztendlich fiel meine Wahl auf einen frittierten Gecko, der mich ebenfalls recht zufrieden stimmte. Das Ganze erinnerte nämlich an irgendetwas zwischen Fisch und Hühnchen – was evolutionstechnisch gesehen lustigerweise sogar ziemlich akkurat ist.

Touristenströme auf dem Weg zum Tiananmen

Touristenströme auf dem Weg zum Tiananmen

Gerne hätte ich noch ein paar andere Snacks ausprobiert, doch die Zeit drängte und wir hatten noch einiges vor uns. Vor uns hatten wir bei unserer Ankunft am Tiananmen, dem Zugang zur Verbotenen Stadt, vor allem eines: Millionen von Touristen. Kein Wunder: das Wochenende war angebrochen, die Sonne schien, der Himmel strahlte trotz Beijings Smogproblem in schönstem Blau und wir wollten die berühmteste Attraktion Chinas

Vor dem berühmten Mao-Portrait am Tiananmen

Vor dem berühmten Mao-Portrait am Tiananmen

schlechthin besichtigen. Das wir da nicht die Einzigen waren, war so vorprogrammiert wie der Stau zur Rush Hour in Wuhan. Egal, dann erlebte ich auf meine alten Tage in China eben noch einmal richtig schönen chinesischen Touristen-Tumult.  Und da marschierten sie auch schon auf, die Touristenführer mit ihren Fähnchen und Megaphonen, gefolgt von Horden einheitlich Mützentragender Chinesen. Wunderbar – alles, was mir während der letzten Reisewochen erspart geblieben war, erhielt ich heute als geballte Ladung. Auch ich selbst musste mich jedoch zum Hochleistungs-Touristen entwickeln angesichts meiner näher rückenden Abfahrt. Schnell ein Bild vor dem Eingangstor mit dem berühmten Mao-Portrait geschossen und daraufhin nichts wie rein in die Verbotene Stadt. Mindestens sechs Stunden hatte Berlin für die Besichtigung der Anlage anberaumt, was durchaus angemessen für einen 720 000 Quadratmeter großen Komplex mit 980 Gebäuden erschien. Ich schaffte das Ganze letztendlich in eineinhalb Stunden, obwohl ich natürlich viele Dinge dabei nicht zu Gesicht bekam. Trotzdem erhielt ich einen Eindruck davon, wie mächtig die Kaiserfamilien gewesen sein mussten, die den Bau eines derart gigantischen Palastes angeordnet hatten.

Wir arbeiteten uns durch mächtige Torbögen, über ausladende Plätze, angesichts deren Größe sich sogar die vielen Besucher sich irgendwie verteilen zu schienen, vorbei an knallrot getünchten Bauten bis hin zum kaiserlichen Garten. Dort verabschiedete ich mich von Sonja und verließ die Verbotene Stadt durch den Hintereingang, um meinen letzten Akt in Beijing anzutreten. In Rekordgeschwindigkeit joggte ich auf die Anhöhe im Park hinter dem Palast, genoss fünfzig Sekunden lang den Ausblick auf die orangenen Dächer der perfekt viereckigen Verbotenen Stadt, ließ ein Erinnerungsfoto von mir schießen (Titel: „Freiwilliger dehydriert vor grandiosem Panorama“) und hastete den Hügel ebenso schnell wieder herunter.

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Anschließend düste ich zurück zum Hutong, rannte durch die Gassen bis zum Hostel, um meine sieben Sachen abzuholen und stellte beim Einsteigen in die Metro gerade rechtzeitig fest, dass ich eigentlich zu einem anderen Bahnhof musste und nicht zu dem, an dem ich angekommen war. Als ich in die dritte U-Bahn umsteigen wollte, wurde mir siedend heiß bewusst, dass man diese von meiner Haltestelle aus gar nicht erreichen konnte, obwohl es so auf dem Plan stand. Also fuhr ich die gesamte Strecke wieder zurück und erreichte schließlich gerade rechtzeitig den richtigen Bahnhof, an dem mir vor lauter Umsteigen und Herumrennen erst einmal ordentlich der Kopf schwirrte.

Immerhin durfte ich im G-Zug in Richtung Taiyuan, wo ich meinen Freund Samu besuchen wollte, für ein paar Stunden entspannen, bevor die nächste Nervenprobe anstand. Samu, der außerhalb der Ferien in Wuhan studiert, hatte es irgendwie geschafft, einen Ferienjob als Lehrer mitten in der Pampa zu ergattern. So war ich, als ich spätabends in Taiyuan eintraf, noch immer weit entfernt von meinem  eigentlichen Ziel, der Kleinstadt Xiaoyi mit ca. 430 000 Einwohnern. Und die konnte man nur mittels Privat-Taxi erreichen, was sich als wahre Herausforderung an meine erlernten Handelsfähigkeiten erwies.

500 Yuan wollten die freundlich grinsenden Taxifahrer dem ahnungslosen Laowai abknöpfen – das fand der aber komischerweise überhaupt nicht lustig und beschwerte sich lauthals darüber, dass man einen armen Studenten doch nicht so das Geld aus der Tasche ziehen könne. Irgendwann saß ich wartend in einem Taxi, dass ich ungewohnt dickköpfig auf 150 Yuan heruntergehandelt hatte und fragte mich, wo denn der Besitzer steckte, der noch einmal auf Kundenfang gegangen war. Nach einer halben Stunde riss schließlich mein normalerweise recht langer, in jener Nacht aber ausgereizter Geduldsfaden  und ich machte mich auf die Suche nach einem anderen Anbieter. 150 fand ich sowieso noch übertrieben. Dumm nur, dass ich jetzt wieder ohne Mitfahrgelegenheit an der Straße stand. Vermutlich hätte ich in Taiyuan übernachten müssen, wäre ich nicht zufällig zwei anderen Chinesen begegnet, die nach Xiaoyi wollten. Mit deren Hilfe ergatterten wir uns ein Taxi für 90 Yuan und traten eine Fahrt an, die viel länger dauerte, als ich mir vorgestellt hatte. Xiaoyi lag, wie ich später herausfand, nämlich 132 Kilometer von Taiyuan entfernt. Da hatten sich die umgerechnet zehn Euro aber gelohnt.

Obst und Gemüse frisch aus dem Karren

Obst und Gemüse frisch aus dem Karren

Der Medizinmann präsentiert die Zutaten seines Wundermittels

Der Medizinmann präsentiert die Zutaten seines Wundermittels

Immerhin konnte ich mich anschließend zum ersten Mal während meiner Reise ordentlich von dem ganzen Stress erholen. In Xiaoyi gab es nämlich nichts zu sehen. Das hieß: kein straffer Zeitplan, kein frühes Aufstehen, kein lästiges Herumgekurve von Attraktion zu Attraktion. Auch mal nett. Und dass es nichts zu sehen gab, stimmte ebenfalls nicht wirklich. Zwar erwarteten mich hier keine Naturwunder oder jahrhundertealtes Kulturerbe, aber stattdessen authentisches chinesisches Kleinstadt-Flair. Überall auf den Straßen wurde Obst und Gemüse frisch von der Ladefläche kleiner Karren verkauft und abends baute man auf den Gehwegen und großen Plätzen Grills und Fressstände auf. Einmal trafen wir sogar auf einen Wanderzirkus, dessen „Medizinmann“ gerade vor hunderten staunenden Gesichtern sein Wundermittel anpries. Nein, er überzeugte die Menschen hier nicht von der Wirksamkeit von heißem Wasser, sondern führte der Menge eine ominöse, alkoholgefüllte Tonne vor. Aus der holte er dann unter den überraschten Ausrufen der Menge eine konservierte Boa, eine riesige eingelegte schwarze Echse, einen Pfeilschwanzkrebs und ein Knäuel aus fünfhundert Schlangen. Bei so vielen guten Zutaten musste es ja helfen – auch wenn da meiner Meinung nach eine Prise Hirschgeweih und luftgetrocknete Schildkröte vom Basar in Kashgar fehlte.

Wie dem auch sei, die wahre Sehenswürdigkeit der der Stadt entdeckte ich, als ich meinen samoanischen Kumpel beim Unterricht in der Sommerschule begleitete. Anders als ich durfte er nämlich keine Teenager, sondern Grundschüler und Kindergartenkinder im mündlichen Englisch auf die Sprünge helfen. Das verlangte nach einem vollkommen anderen Unterrichtsstil, wenn man die Aufmerksamkeit der Kleinen wecken wollte. So mühte sich Samu teilweise die ganze Stunde lang damit ab, den Kleinen fünf neue Worte auf verschiedenste Weisen beizubringen, bis die Aussprache schließlich (zumindest bis zur nächsten Stunde) stimmte, sprach mit jedem Schützling einzeln einen Dialog durch und sorgte mit vielen kleinen Spielen für Ruhe.

Auf Dauer konnte das Unterrichten zwar recht anstrengend werden, allerdings belohnten die Kinder die harte Arbeit mit einer grenzenlosen Herzlichkeit und einer vollkommen hinreißenden Motivation beim Nachsprechen, Tanzen, Singen und Vorspielen. Man musste die Knirpse einfach lieben! Umso schwerer fiel es mir dann, die Kleinen nach wenigen Tagen bereits wieder zurückzulassen und auch beim Abschied von Samu verspürte ich einen fetten Kloß im Hals. Der wird nämlich nach Beendigung seines Studiums wieder nach Samoa heimkehren – und ob ich ihn dort jemals wiedersehen werde, steht wohl wirklich in den Sternen. In solchen Fällen bleibt einem wohl nichts anderes, als dankbar dafür zu sein, dass man zumindest einen kurzen Abschnitt des Lebens teilen durfte und die schönen gemeinsamen Erinnerungen in Ehren zu halten (nicht wahr, Melli?). Doch wer weiß schon, was die Zukunft bringen wird.

SAM_3538SAM_3528aSAM_3497SAM_3500Vorerst brachte sie mich zur letzten Station meiner Reise – und welche Stadt könnte ein besseres Finale darstellen als mein geliebtes Shanghai! Seit meinem zweiten Rendezvous mit der Metropole Anfang April hatte ich mir vorgenommen, dorthin noch einmal einen Abstecher zu machen. Immer wieder hatte ich den Termin aus verschiedensten Gründen verschoben, doch nun stand der Sache nichts mehr im Wege – außer meiner letzten Nacht im Hardseater. Mit Freuden hätte ich mir stattdessen ein Bett gebucht, immerhin galt es nun kein ehrgeiziges Projekt mehr zu anzustreben, allerdings war man mir da schon zuvorgekommen. Also hieß es ein letztes Mal Füße einziehen und Knie anwinkeln bis zum Sonnenaufgang und schließlich etwas gerädert nichts wie raus in das Getümmel am Bahnhof.

Mit Yang Yang vor dem Shanghai Art Museum

Mit Yang Yang vor dem Shanghai Art Museum

Scheinbar war das Ende meiner Reise geprägt von unerwarteten Wiedersehen, denn das nächste ließ nicht lange auf sich warten. Zufällig hatte ich erfahren, dass sich Yang Yang, eine Wuhaner Studentin, ebenfalls zum selben Zeitpunkt in Shanghai aufhielt. Zwar musste sie noch am selben Tag weiterfahren, doch wir nutzten die Gelegenheit, um gemeinsam essen zu gehen und uns anschließend den ehemaligen chinesischen Pavillon der Weltausstellung anzusehen. Besonders faszinierte mich im heutigen „Shanghai Art Museum“ ein vierhundert Meter langes, an die Wand projiziertes Gemälde, das eine idyllische Stadt aus einer vergangenen Dynastie darstellte. Anders als beim tausend Jahre alten Original verweilten die Bewohner jedoch nicht an den vom Künstler vorgesehenen Plätzen, sondern spazierten durch die Gassen, unterhielten sich miteinander, verkauften ihre Ware und sahen den Lotusblüten nach, die auf dem Fluss entlang schwammen. Dem bunten Treiben, das sich sogar je nach Tages- oder Nachtzeit änderte, hätte ich stundenlang verfallen können, doch schon stand ein weiteres Treffen auf dem Plan. Meine hochgeschätzte Mitfreiwillige Lien hieß mich in ihrer Heimatstadt willkommen und in ihrer Wohnung erlebte ich noch eine zusätzliche nette Überraschung: hier versammelten sich die Freiwilligen Robin aus Wuxi, Anton aus Nanjing, Christina aus Shanghai und Hui von der neuen Generation Ausgereister.

Unterwegs mit der Shanghaier Freiwilligen-Crew

Unterwegs mit der Shanghaier Freiwilligen-Crew

Mit dieser netten Truppe genoss ich noch einmal die Dynamik und die unzähligen Möglichkeiten der internationalen Metropole, lernte einen Haufen aufsteigender, zielstrebiger Persönlichkeiten kennen und verfiel wie immer dem Puls der Stadt. Mein eigener Puls lief schließlich auf Hochtouren, als ich mir am Morgen meiner viel zu baldigen Abreise noch unbedingt trotz großem Zeitdruck in den Kopf setzte, nicht gehen zu können, ohne mich vom Bund zu verabschieden. Auch der Bund schien sich jedoch von mir verabschieden zu wollen, denn bei meinem dritten Besuch bot sich mir in strahlendem Sonnenschein zum ersten Mal eine vollkommen klare Sicht auf meine Lieblings-Skyline. Umgeben von zahlreichen wild fotografierenden Touristen ließ ich meinen Blick genüsslich über die hochmodernen Wolkenkratzer am anderen Ufer des Flusses schweifen und dachte zurück an die wertvollen Erinnerungen, die mir meine Abstecher nach Shanghai eingebracht hatten.

Dann drehte ich mich um, warf einen letzten, leicht wehmütigen Blick über die Schulter zu den im Sonnenlicht reflektierenden Hochhausfassaden und machte mich schleunigst auf den Weg zum Bahnhof. Mir war wohl bewusst, dass ich mit meiner ausgiebigen Verabschiedungszeremonie ein großes zeitliches Risiko eingegangen war. Einerseits hätte ich das allerdings niemals missen wollen, andererseits hatte ich auf meinen Reisen etwas Wichtiges immer wieder aufs Neue gelernt: Ruhe bewahren. Die Dinge werden schon so ausgehen, wie man sie sich vorstellt. Und wenn nicht, dann findet man eben eine Alternative.

In meinem Fall endete jedoch auch mein letztes Reise-Abenteuer glücklich und mir blieb am Bahnhof sogar noch genug Raum, mir ein wohlverdientes Frühstück zu kaufen. Und plötzlich saß ich tatsächlich im Zug nach Wuhan und fuhr meinen letzten fünf Tagen in China entgegen. Zurückgelehnt in meinem bequemen Sitz konnte ich mir endlich klar werden, was mir meine letzte Reise alles eingebracht hatte. Ich hatte auf meine alten Tage ein völlig anderes China erlebt und war mir erneut über den unglaublichen Reichtum des Landes an Kulturschätzen, faszinierenden Landschaften und unterschiedlichen Menschen klargeworden. Ich hatte neue Freunde gefunden und die Gelegenheit gehabt, viele alte Freunde abermals in die Arme zu schließen. Ich hatte mich einer der größten Herausforderungen meines Freiwilligendienstes gestellt. Ich hatte mich in Beijing verliebt und meine Beziehung zu Shanghai vertieft – zwei Städte, in die ich auf jeden Fall irgendwann einmal zurückkehren möchte.

Am meisten jedoch freute ich mich auf meine Rückkehr in eine Stadt, die weder mit einem so überbordenden Kulturangebot wie Beijing noch mit dem internationalen Suchtfaktor Shanghais aufwartete – meine geliebte chinesische Heimatstadt Wuhan. Zwar blieben mir nur noch fünf Tage dort, doch ich war mir sicher, dass Wuhan mich nicht enttäuschen würde.

Die finale Station meiner Reise - der Abschied vom Bund in Shanghai

Die finale Station meiner Reise – der Abschied vom Bund in Shanghai