Eine 73 Stunden lange Reise im Hardseater-Abteil eines Zuges von einem Ende Chinas zum anderen – ob das eine intelligente Idee war, bezweifelte ich ehrlich gesagt ein wenig, als ich vor ein paar Tagen alleine am Bahnhof von Kashgar stand und auf meinen Zug wartete. Schließlich hätte ich mich genauso in einen komfortablen Flieger nach Beijing setzen können. Für unser letztes und mein bisher größtes Projekt innerhalb meines Freiwilligendiensts wollten wir es jedoch im wahrsten Sinne des Wortes auf die harte Tour versuchen. Damit wollten wir natürlich nicht nur schlichtweg Reisekosten sparen, sondern hatten zuvor schon einiges vorbereitet, was wir während der Zeit in die Tat umsetzen wollten.
In China spielt die Bahn als Transportmittel eine weit größere Rolle als in Deutschland. Täglich überwinden unzählige Chinesen aller Schichten damit kilometerweite Strecken auf dem Weg zur Arbeit, Freunden, Familie oder einem Reiseziel. Wir haben uns deshalb gedacht, dass sich so eine lange Fahrt vorzüglich dazu eignen würde, um mithilfe der anderen Passagiere einen Einblick in die chinesische Mentalität zu gestalten. Dafür hatten wir zuvor einen Fragebogen konzipiert, der verschiedene Themengebiete abdeckte wie den Beruf, persönliche Zufriedenheit, die aktuelle Entwicklung des Landes aber auch das Bewusstsein über Ausländer in China oder Umweltprobleme. Mit insgesamt einhundert Bögen im Handgepäck erhofften wir uns, zu diesen Bereichen einige aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten.
Weiterhin lag in der Umsetzung dieser selbstgestellten Aufgabe auch ein persönlicher Nutzen für mich selbst: das Ganze eignete sich einerseits wunderbar, um meine Chinesisch-Kenntnisse in einem völlig fremden Umfeld anzuwenden und herauszufinden, wie viel Kommunikation nach einem Jahr in China für mich möglich war. In diesem Zusammenhang erhoffte ich mir, viele neue Menschen mit interessanten Geschichten kennenzulernen und zu testen, ob sich das Bild, das ich mir in den letzten Monaten von meinem Gastland gemacht hatte, als richtig erweisen würde. Insgesamt sah ich Reise vor allem als finale Prüfung: wie belastbar bin ich durch China geworden, wie sehr habe ich mich weiterentwickelt, was habe ich gelernt? Habe ich meinen Freiwilligendienst richtig genutzt?
Trotz all jener hochgesteckten Ziele beschlich mich ein leicht mulmiges Gefühl, als ich ohne meine gewohnten Begleiter in den Zug stieg, der mich nach Tulufan bringen würde. Doch kaum hatte ich mich auf meiner ergonomisch perfekt im 90-Grad-Winkel geformten Sitzbank niedergelassen, stellte ich fest, dass es das Schicksal wohl mal wieder gut mit mir gemeint hatte.
Meine beiden Gegenüber waren nämlich zwei chinesische Studenten, die wie wir zuvor durch die Xinjiang-Provinz gereist waren und fließend englisch sprechen konnten. Die ersten beiden Fragebögen hatte ich damit bald ausgefüllt und anschließend erhielt ich sogar Unterstützung beim Befragen meiner nächsten Kandidaten. Dennoch fiel es mir zugegebenermaßen nicht immer leicht, auf die Leute zuzugehen und ihnen nach ein bisschen Smalltalk und einigen einführenden Worten gleich eine 20 Fragen starke Umfrage aufzudrücken. Bevor ich mich zum Ansprechen meines nächsten Opfers überwinden konnte, schwangen vor allem zu Beginn immer einige Bedenken mit: wie würden die Leute reagieren? Würden sich manche durch bestimmte Formulierungen angegriffen fühlen? Würde ich alles verstehen, wenn es zu Rückfragen kam?
Meistens erwiesen sich meine Befürchtungen jedoch als unbegründet. Ein Großteil der Menschen zeigte sich äußerst interessiert an unserem Projekt und hatte teilweise ordentlich Spaß beim Beantworten der Fragen. Irgendwann gesellten sich sogar zwei Bahnbeamte zur Fragerunde und halfen mir tatkräftig bei der Fertigstellung meiner Aufgabe. So begegnete ich immer wieder neuen, liebenswerten Charakteren und verständigte mich irgendwann nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern. Mein treuer Zeichenblock half mir dabei, auch mit denjenigen, die kein Mandarin sprachen, ergiebige Konversationen zu führen. Bereits am ersten Abend hatte ich so ein paar Skizzen als „Belohnung“ für die Teilnahme am Projekt verschenkt und der eine oder andere hatte sich künstlerisch in meinem Block verewigt. Bei alldem entdeckte ich zwei Dinge für mich: 1. Wenn man stundenlang wartend auf dem Hintern sitzt und nichts zu tun hat, entdeckt selbst ein grobschlächtiger Bauarbeiter Freude am Herumkritzeln. 2. Zeichnen ist manchmal wirklich ein wunderbares Mittel, um zu kommunizieren, wenn einem die Worte fehlen.
Trotz vieler netter Begegnungen schlug bereits die Reise nach Tulufan ein wenig aufs Gemüt. Während wir durch karge Wüstenlandschaften kurvten, fühlte man sich bei geöffnetem Fenster zunehmend sandig und auch heißes Wasser schien wie immer ein rares Gut zu sein, sodass man sich auf der Suche danach durch zahlreiche vollbesetzte Zugabteile quetschen musste. Weiterhin lastete dauerhaft der Druck auf mir, mich ständig nach weiteren Projekt-Teilnehmern umzusehen bis ich schließlich die Hälfte geschafft hatte.
In Tulufan angekommen war allerdings erst ein Drittel der Strecke überstanden und nach einem herzlichen Abschied von den beiden Studenten bereitete ich mich auf den zweiten Teil des Ganzen vor und landete zufällig am Bahnhof einen richtigen Glückstreffer. Hier begegnete ich einem netten chinesischen Soldaten, der gerade von seiner Stationierung in der Xinjiang-Region zurückkehrte und mich gleich seinen vier Kollegen vorstellte. Auf diese Weise hatte ich im Handumdrehen ein weiteres Viertel meiner Projektarbeit abgeschlossen, eine Einladung nach Kashgar erhalten und ein bisschen Englischlehrer gespielt.
Die restliche Strecke nach Beijing konnte ich somit um einiges entspannter antreten. Im T-Zug, in dem man im Sitzabteil noch weniger Platz hat als im Vorgängermodell, stieß ich außerdem auf einen etwas eigenartigen, aber durchaus praktischen Nebensitzer. Der gute Mann wiederholte das selbe Schema während der ganzen Zugfahrt in Endlosschleife: unter meinen Sitz kriechen, schlafen, aufwachen, gehörig mit dem Schädel gegen die Tischplatte knallen, darauf einen ordentlichen Schluck Schnaps trinken, rauchen gehen. Dank des freundlichen Wanderarbeiters bot sich mir hin und wieder immerhin die Gelegenheit, mich ein wenig auszustrecken und die vollkommen verspannten Muskeln ein wenig zu entlasten
Dennoch wurden das ständige Sitzen und die unmögliche Herausforderung, eine bequeme Schlafposition zu finden, irgendwann ziemlich anstrengend. Die Knie begannen zu stechen, die Aufnahmefähigkeit nahm stetig ab, und Dinge, auf die ich normalerweise kaum achtete, begannen plötzlich, mich unglaublich zu nerven. Warum steht der Typ die ganze Zeit lauernd vor meinem Sitz, als wollte er sich auf meinen Schoß setzen, warum kann ich nicht zur Toilette laufen, ohne vom halben Abteil angestarrt zu werden, wieso sitzt auf dem Waschbecken ein fetter schlafender Kerl, der das Waschbecken verstopft wie eine Kröte einen Brunnen, warum hat der Typ der mich ständig anquatscht, so furchtbaren Mundgeruch?
Nach zahlreichen, teilweise etwas anstrengenden Gesprächen, entwickelte sich auch mein Bedürfnis, mich mit anderen auf Chinesisch zu unterhalten, stetig zurück und dennoch machte sich ein merkwürdiger Zustand der Ausgeglichenheit in mir breit. Ich gab mich mit dem manchmal einsetzenden, wenig erholsamen Halbschlaf zufrieden, knabberte genüsslich ein paar Sonnenblumenkerne zum Zeitvertreib vor mich hin und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen, wo die Landschaft sich langsam und unmerklich von sandigen Einöden in riesige Städte und weite grüne Felder verwandelte. Selten zuvor hatte ich so viel Zeit gehabt, in teilweise dank meiner Übermüdung recht wirren Gedankengängen zu versinken und mich auf mich selbst zu besinnen. Vermutlich hatte ich mich noch nie zuvor nicht nur derart entkräftet, sondern gleichzeitig so ausgiebig reflektiert gefühlt (ein paar Ergebnisse meiner Gedankenexperimente werdet ihr dann in meinem übernächsten und vermutlich vorletzten Blogeintrag vorgesetzt bekommen).
Auf den letzten Kilometern hingen die meisten Passagiere nur halblebig in ihren Sitzen, standen träge in den Gängen und schliefen kreuz und quer übereinander ein. Doch plötzlich brachte eine elektronische Ansage mit einem Mal wieder Leben ins Abteil: „Nächster Halt – Beijing!“. Endlich! Mit ungeahnter Motivation packte man auf einmal sein Gepäck zusammen, ich verabschiedete mich von meinen neuen Bekanntschaften und trat hinaus ins Getümmel am Bahnhof.
Wenn man so lange Zeit in einem verrauchten Zug verbracht hat, erscheint einem sogar die Luft in Beijing mit Rekord-Verschmutzungswerten als frisch! Und mit soviel unverbrauchtem Sauerstoff in den Lungen begann ich, umgeben von zahlreichen taschenschleppenden Passagieren, zu realisieren: ich hatte es tatsächlich geschafft! Nach drei Tagen Hochleistungs-Hocken durfte ich mich endlich wieder frei bewegen! Tief durchatmend ließ ich mich einfach von dem Menschenstrom in Richtung Ausgang mitreißen und trieb so erleichtert wie nie zuvor meinem wohlverdienten Bett entgegen.
Insgesamt war ich anschließend nicht nur aufgrund einer bequemen Matratze recht zufrieden: ich hatte 73 Stunden im Hardseater einigermaßen unbeschadet bewältigt, hatte viele nette Menschen getroffen und war ein ums andere Mal über meinen Schatten gesprungen und an der Herausforderung gewachsen. Finale Prüfung meines Auslandsjahrs – bestanden!
