Der Weg zur traditionellen chinesischen Malerei

Manchmal eröffnet einem das Leben die Gelegenheit, etwas zu tun, das man schon längst vergessen hat. Seit ich in China angekommen bin, hatte ich mir vorgenommen, mich mit der chinesischen Tuschemalerei zu beschäftigen, denn es würde sich schließlich keine bessere Chance bieten, eine Kunstrichtung kennenzulernen als in ihrem Herkunftsland. Doch wie die Dinge eben manchmal laufen,  können sich Pläne und persönliche Schwerpunkte ändern, je nachdem mit welchen Situationen und Herausforderungen man konfrontiert wird. So muss ich mich einen Monat vor Ende meines Aufenthalts in China beispielsweise damit abfinden, dass ich mich durch meine an einer Hand abzählbaren Basketball-Trainingseinheiten nicht gerade zum zweiten Dirk Nowitzki entwickelt habe. Ebenso ist auch mein Zeichenarm (mal abgesehen von unzähligen Tafelschmierereien) dieses Jahr etwas zu kurz gekommen und das Ziel, die traditionelle Malkunst zu erlernen geriet vor geraumer Zeit aus meinem Fokus.

Vor einigen Wochen allerdings entdeckte Huahua, eine gute Freundin und Studentin an einer nahen Universität, meinen Skizzenblock und erzählte mir, dass sie zufällig einen professionellen Künstler aus Malaysia kenne, der hin und wieder an ihre Universität käme, um dort Kunstunterricht zu geben. Da er zufällig im Juni zurückkehren würde, fragte sie mich, ob sie versuchen sollte, ein Treffen mit ihm zu organisieren. Als ich das hörte, zögerte ich natürlich nicht lange mit meiner Antwort, sodass ich wenige Tage später tatsächlich die Hand des talentierten Lum Wen Kong schütteln durfte. Der Professor hatte seine Werke bereits auf mehreren Ausstellungen zur Schau gestellt, mit den berühmtesten Künstlern Malaysias  zusammengearbeitet und konnte viele Jahre Erfahrung und Hingabe für sein Fach teilen.

Folglich fühlte ich mich sehr geehrt, als mich Mr. Lum am Ende unseres ersten Gesprächs für würdig empfand, mich in sein Fachgebiet einzuweisen. Mir war wohl bewusst, dass mir nicht mehr allzu viel Zeit blieb, von ihm zu lernen, doch natürlich wollte ich mir diese zwar späte, aber großartige Chance nicht entgehen lassen und nichtsdestotrotz mein Bestes geben.

In der ersten Juniwoche fanden sich acht Studenten aus allen Teilen der Welt zusammen in der Erwartung, bald den Pinsel schwingen zu dürfen. Zuerst jedoch erhielten wir eine kurze Übersicht über die Grundfeste der chinesischen Kultur. Mr. Lum hielt dies für nötig und hilfreich, da die Tuschekunst ebenfalls ein Teil der Kultur ist und man sie nur wirklich begreifen kann, wenn man ihren Hintergrund kennt. Das lässt sich ein bisschen mit Kochen vergleichen – man wird nie ein gutes Gericht zustande bringen, wenn man nicht dessen Zutaten kennt. Die drei wichtigsten Zutaten der (traditionellen) chinesischen Kultur setzen sich jedenfalls aus Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus zusammen.

Buddhismus auf der einen Seite lässt sich kurz gesagt mit einem Supermarkt vergleichen. Er bietet eine große Anzahl verschiedener Dinge an, von der man sich einfach die aussuchen kann, die einem am besten gefallen ohne zu einer Wahl gezwungen zu werden – frei nach dem Motto „Nimm was du willst“. Darin liegt vermutlich auch der Grund, warum die Glaubensrichtung in westlichen Ländern immer mehr Anklang findet. Sie zwingt einen zu nichts, sondern lässt uns selbst aus einem Sammelsurium an Weisheiten zur optimalen Lebensführung wählen, was wir für uns persönlich am nützlichsten empfinden. Daoismus auf der anderen Seite ist wie eine Apotheke. Wer auf seinem Weg Problemen begegnet, kann in Lao Tses Philosophie nach der geeigneten Medizin suchen – „Nimm, was du brauchst“. Der Konfuzianismus lehrt uns schließlich, wie wir in der Gesellschaft leben sollen, indem er Mildtätigkeit und Rationalität fordert. Da jeder Mensch Teil der Gesellschaft ist und sich niemand ihr entziehen kann, sieht der Konfuzianismus es als unsere Pflicht an, positiv zu ihr beizutragen. Folglich lassen sich die Lehren von Konfuzius mit einer täglichen Mahlzeit vergleichen, die wir zum Überleben benötigen – „Nimm, was nötig ist“.

Was kann das wohl werden?

Was kann das wohl werden?

Alle drei Zutaten fließen jedenfalls in der Malerei zusammen, der Daoismus bildet dabei jedoch den wichtigsten Einfluss. Dao bedeutet übersetzt „der Weg“  und jedes Bild hat seinen eigenen Weg, der zu seiner Vervollständigung führt. Bevor wir uns allerdings dem Weg zu unserem ersten chinesischen Kunstwerk zuwendeten, durften wir auf eigene Faust mit den vier Schätzen des Gelehrtenzimmers – Pinsel, Tusche, Bambuspapier und Reibstein herumzuexperimentieren (zugegebenermaßen wurde der Reibstein in unserem Fall eine Wasserschale ersetzt, aber das störte niemanden sonderlich). Jeder sollte sein eigenes Tierkreiszeichen zu Papier bringen ohne zuvor irgendwelche Anweisungen erhalten zu haben. Schnell bemerkten wir, dass die Aufgabe gar nicht so simpel war, wie sie zu Beginn klang. Die Tusche wehrte sich beharrlich dagegen, sich in meine exakt konzipierten Bahnen drängen zu lassen und schien ihren eigenen Willen zu haben, sodass ich förmlich mit dem Pinsel kämpfen musste, um zu dem Resultat zu gelangen, dass ich im Kopf hatte.

Alsbald versammelten sich auf unseren Zeichenbögen eine glückliche britische Schafsfamilie, ein Orang Utan aus Laos, ein kolumbianischer Drache, ein turkmenischer Riesenhund, ein vietnamesischer Drachenochse, ein russisches Irgendwas zwischen Pferd und Krokodil und weitere faszinierende, nie gesehene Kreaturen. In der Monster Design Abteilung der Pokémon Company hätte man unsere kreativen Auswüchse sicher mit offenen Armen empfangen! Auch wenn jedem Künstler ins Gesicht geschrieben stand, dass er nicht wirklich wusste, was er da gerade tat, machte es großen Spaß, so viele unterschiedliche Annährungen an ein Medium mitzuverfolgen, das die meisten unter uns noch nie benutzt hatten.

Trotz unserer reichlich individuellen Stile verwies Mr. Lum am Ende auf eine Sache, die all unsere Gestalten teilten  – jeder hatte ausschließlich Konturlinien benutzt, um seinem Tier Leben einzuhauchen. Der Grund dafür lag in meinem Fall einerseits in der Tatsache,  dass ich gerne Comics zeichne und andererseits geben mir genaue Konturen so etwas wie Sicherheit beim Zeichnen. Linien erlauben dem Anwender, sein Bild zu planen ohne einen Fehler oder eine Ungereimtheit zuzulassen. Das wiederum kann eine künstlerische Arbeit stumpf und leblos erscheinen lassen.

Nachdem wir zu dieser Erkenntnis gekommen waren, erklärte uns unser Meister, für was wir die vier Schätze noch benutzen konnten: Punkte und Formen. Irgendwie logisch, doch nur die harmonische Komposition von Punkten, Formen und Linien führt zu einem zufriedenstellenden Kunstwerk. Anders als in der westlichen Malerei beginnt man hier üblicherweise mit einer Form. Keine konkreten Konturen, kein Plan, nur die grobe Ahnung von dem Subjekt, das entstehen soll wie das erste Aufleuchten einer flüchtigen Idee.

Von einer verschwommen Form...

Von einer verschwommen Form…

...zu einem kraftstrotzenden Pferd in ein paar Sekunden

…zu einem kraftstrotzenden Pferd in ein paar Sekunden

Nach der Kreation einer Form ist das Bild in zwei Teile gespalten: der eine weiß, der andere dunkel und von vielen Schattierungen durchzogen. Nun darf man endlich damit beginnen, das Motiv mithilfe von Punkten und Linien herauszuarbeiten. Kiefer klappten herunter, als Mr. Lum selbst ein paar wohlplatzierte Striche zog, um Hell und Dunkel voneinander zu trennen oder miteinander zu verbinden und plötzlich ein erstaunlich akkurates Wesen aus dem Chaos entstieg. Natürlich blieb für allzu zahlreiche Details kein Raum, aber unser Meister hatte es geschafft, die Essenz des angestrebten Tieres innerhalb weniger Sekunden zu umreißen. Der Fokus lag lediglich auf den wichtigsten Eigenschaften, den Rest überließ der Künstler der Vorstellung des Betrachters. In den wenigen temperamentvollen, intuitiven Strichen meinte man dennoch die überbordende Energie des Pferds, die Aggressivität des Hahns, die Verspieltheit des Affen oder den Stolz des Drachen deutlich zu erkennen.

Als ich das sah, wurde mir klar, dass etwas nicht unbedingt perfekt sein muss, um lebendig zu wirken – es sind die die Makel und das, was man aus ihnen macht, die zu einem interessanten, anziehenden Kunstwerk führen. Das eigene Geschicklichkeitslevel hängt davon ab, wie gut man das Unvorhersehbare meistert und wie stark man seiner Intuition vertrauen kann.

Obwohl ich nach Ende meiner ersten Kursstunde selbstverständlich noch einen langen Weg vor mir und wenig Zeit habe, meine Fähigkeiten hier in China zu verfeinern, habe ich in dieser kurzen Einführung eine Lektion aus dem Daoismus gelernt, die über die chinesische Kunst hinaus geht. Der Umgang mit einem traditionellen chinesischen Kunstwerk lässt sich auch auf unser Leben beziehen. Wie die schwarze Tusche, so vermögen wir auch den Lauf des Lebens nicht immer genau zu planen und zu kontrollieren, doch wir können das Beste aus den Dingen machen, mit denen wir konfrontiert werden – manchmal reichen dafür schon einige wenige wohlplatzierte Striche.

Die Dinge zu schätzen, die wir haben und wissen, sie zu unserem Vorteil zu nutzen, wird uns vielleicht weiter auf dem Weg zur Verwirklichung unseres vollen Potentials bringen als das verbissene Verfolgen eines unerreichbaren Plans. Damit möchte ich nicht behaupten, dass man sich keinen Plan zurecht legen muss, das wäre töricht, doch man sollte offen bleiben für unerwartete Chancen, die sich entlang des Weges bieten. Denn sind es nicht in der chinesischen Malerei wie im Leben die kleinen und großen unvorhergesehenen  Begebenheiten, die dem Ganzen Lebendigkeit einhauchen?

Warum meine Reflektionen neuerdings an einem gewissen Punkt immer in einer (alt)klugen Lebensweisheit enden, kann ich mir leider selbst nicht so genau erklären. Vielleicht liegt es daran, dass man nachdenklicher wird, je näher das Ende eines wichtigen Lebensabschnitts rückt. Vielleicht liegt es daran, dass ich eventuell ein bisschen zu viel in den Schriften von Lao Tse und Konfuzius gelesen habe. Vielleicht gleiche ich damit auch aus, dass meine Erfahrungen in den letzten Wochen in Wuhan nicht unbedingt von Weisheit, sondern eher von der Leidenschaft für den Moment geprägt waren, doch dazu mehr im nächsten Artikel. Fürs Erste jedenfalls bin ich dankbar dafür, dass mir die Gelegenheit gegeben wurde, auf meine alten Tage in China die Tuschemalerei auszuprobieren und bin gespannt darauf, welche Gelegenheiten sich in den restlichen Tagen noch ergeben werden.

Stolze Besitzer eines einzigartigen chinesischen Kunstwerks

Stolze Besitzer eines einzigartigen Souvenirs von unserem Meister