Rumort der Magen mal wieder von irgendeinem undefinierbaren Straßensnack? Dröhnt der Schädel von der drückenden Hitze des Wuhaner Sommers? Oder läuft die Nase seit dem letzen unfreiwilligen Spaziergang im Dauerplatzregen ohne Pause? Keine Sorge, in China weiß man, wie man Krankheiten und sonstige Beschwerden auf verschiedenste Art und Weise wieder los wird. Das altbekannte Wunderheilmittelchen Nr. 1 besteht nach wie vor darin, einfach literweise heißes Wasser zu trinken, bis man sich von allen Wehwehchen reingespült hat. Weniger Geduldige können allerdings natürlich auch in Apotheken einen bunten Mix aus westlicher und chinesischer Medizin erwerben und im Zweifelsfall ein Krankenhaus oder eine traditionelle chinesische Heilanstalt aufsuchen. Und wer ganz auf Nummer sicher gehen möchte, zündet am besten noch ein Räucherstäbchen in einem lokalen Tempel an.
Dass manche Chinesen Möglichkeit Nr. 3 zuweilen tatsächlich als eine Art letzten Ausweg betrachten, habe ich vor einiger Zeit in einer zutiefst berührenden Begegnung gelernt. Als ich noch als Teilzeit-Touristenführer tätig war, stand ich mit meinen Freunden aus Deutschland Anfang März wieder einmal vor dem Guiyuan-Tempel in Wuhan. Da ich mittlerweile die 500 Arhats bereits oft genug gezählt hatte, beschloss ich, draußen zu warten und setzte mich in den Schatten vor dem großen Eingangstor. Scheinbar machte ich dort (eventuell dank der Nachwirkungen meiner fehlgeschlagenen Mauer-Kletterpartie in der vorherigen Nacht) einen recht hilfsbedürftigen Eindruck, denn nach einigen Minuten kam eine junge Chinesin auf mich zu und fragte etwas verlegen, ob ich mich wohl verlaufen hatte.
„Nein“ antwortete ich, „in Wuhan verlaufe ich mich mittlerweile nur noch selten. Ich bin hier schon eine ganze Weile.“
„Studierst du hier in Wuhan?“
„Nein, ich bin Freiwilliger. Ich unterrichte Deutsch und Englisch an einer Mittelschule.“
„Oh, dann hast du dein Studium also schon beendet!“
„Ich hab noch nicht mal angefangen! Wäre ein bisschen früh für meine 19 Jahre.“
„Waaas? Du bist sehr mutig. Ich bin schon 24 Jahre alt und ich war noch nie im Ausland. Und wahrscheinlich werde ich auch nie ins Ausland gehen können.“
„Ach, man kann nie wissen, was das Leben noch so bringt. Bist du auf dem Weg in den Tempel?“
„Ja, ich muss ein paar Räucherstäbchen anzünden.“
„Du musst?“
„Was soll ich sonst tun? Niemand weiß davon, aber ich habe heute herausgefunden, dass ich sehr krank bin. Hierher zu kommen und ein Räucherstäbchen anzuzünden ist meine letzte Hoffnung.“
„Darf ich fragen, was dir passiert ist?“
„Ich habe einen Gehirntumor.“
Diese Antwort warf mich für einen Moment mehr aus der Bahn als die Ursache meine schmerzhaft pochenden Finger. Auch wenn ich das Mädchen gerade erst kennengelernt hatte, lief mir ein kalter Schauer tiefen Mitleids über den Rücken. Mit 24 Jahren liegt doch noch so viel vor uns! So viele Erfahrungen, die wir noch machen wollen, so viele Pläne, die wir in die Tat umsetzen wollen, so viele Fragen, die wir noch beantworten wollen. Wie muss es sich wohl anfühlen, wenn sich alle Fragen plötzlich nur noch um die eine Frage drehen, wie lange uns noch für unsere Pläne und Erfahrungen bleibt, bevor das Ende naht?
Zu allem Überfluss offenbarte mir die junge Frau anschließend, dass ihr Vater vor einem Jahr verstorben war und sie sich am meisten Sorgen um ihre Mutter machte, die die neuerliche Hiobsbotschaft sicher nicht verkraften würde. Nicht ihre eigene Zukunft, sondern die ihrer Mutter war es also, die das Mädchen zu dem Tempelbesuch bewegt hatten. Mit einem Mal kamen mir meine Leiden der vergangenen Nacht beinahe lächerlich vor und ich wünschte mir, dem Mädchen irgendwie weiterzuhelfen. Doch unsere Wege trennten sich noch vor den Toren des Guiyuan-Tempels wieder und alles, was ich nach jener Begegnung tun konnte, war unglaublich dankbar zu sein, dass mein Leben trotz aller Gedanken um die Zukunft und nächtlicher Dummheiten bisher ohne einen solchen Schock verlaufen war. Niemand weiß, wann wir uns plötzlich mit dem Ende konfrontiert sehen, doch wir sollten die Zeit bis dahin so gut nutzen wie nur möglich.
Mit dem Ende sah ich mich bisher zum Glück nicht konfrontiert, dafür mittlerweile mit den anderen verbleibenden Möglichkeiten, einer (heilbaren) Krankheit den Garaus zu machen. Weil ich mir vermutlich während meiner Touristenführer-Tätigkeit den Mund ein bisschen zu fusselig geredet hatte, ereilte mich kurz nach Abreise der lieben Familie eine heftige Mandelentzündung. Die hielt sich trotz aller Bemühungen, sie auf möglichst natürliche Weise mit bewährten chinesischen Kräuteraufgüssen und lustigen schwarzen Kügelchen loszuwerden, beharrlich, sodass ich mich entschied, endlich auch einmal ein chinesisches Krankenhaus als Patient aufzusuchen. Ob es um mich wirklich so schlecht bestellt war, dass ich gleich in ein Krankenhaus gehörte?
Das liegt im Auge des Betrachters. In China ist es durchaus üblich, auch bei kleineren Beschwerden ein Hospital aufzusuchen; wer demnach sagt: „ich sollte ins Krankenhaus gehen“ muss nicht unbedingt gleich kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Also zog ich kurzerhand Chang E zur Seite und stürzte mich in den Kampf um eine baldige Genesung. Wieder einmal bewies sich, dass ich zwar meinen Alltag in China mittlerweile problemlos meistern kann, in manchen Situationen ohne meinen geschätzten kleinen Dämon vollkommen aufgeschmissen wäre. Schnell zeigte sich nämlich, dass die Visumsbehörde nicht das einzige Gebäude in Wuhan war, das den Namen „Haus, das Verrückte macht“ verdient hatte.
Das Ganze begann noch recht simpel mit dem Kauf einer Art Geldkarte. Richtig, jedes Mal, wenn man dort einen Dienst entgegennimmt oder ein Medikament kaufen möchte, darf man seine persönliche Hospital Card zücken. Bis es dazu kommen konnte, musste ich mich allerdings eine ganze Weile gedulden. Zuerst wurden wir nämlich aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen von einer Station zur anderen geschickt, bis mich das Gefühl beschlich, die halbe Belegschaft der Einrichtung kennengelernt zu haben. Die schienen leider alle nicht so viel Lust darauf zu haben, dem Laowai kurz vor Ladenschluss in den Rachen zu schauen oder sahen sich für andere Bereiche zuständig. Nachdem Chang E eine halbe Stunde lang mit möglichst mitleidserregendem Gesichtsausdruck von einem Stockwerk ins andere gefolgt war, kam schließlich, was kommen musste – Feierabend!
Und jetzt? Ab in die Notaufnahme, lautete der Plan. Ein guter, wie sich herausstellte. Innerhalb kürzester Zeit sah sich der Onkel Doktor mein Problemchen an, entschied aber dann, dass ich erst einmal mein Blut untersuchen lassen sollte, bevor er mir irgendetwas verschrieb. Auch gut. Selbst wenn ich bezweifelte, dass meine Mandelentzündung in meinem Blutbild deutlicher sichtbar sein konnte als durch meinen zugeschwollenen Hals, wollte ich mich mal lieber nicht beschweren, denn der Spaß kostete immerhin nur umgerechnet zwei Euro. Etwas mysteriös wurde es jedoch, als man mich danach zum Röntgen schickte, doch Chang E meinte, dass das wohl zur Standard-Prozedur gehörte. Nun ja, für ein paar Yuan zu checken, ob noch alles am rechten Fleck ist, konnte ja sicher nicht schaden. Das einzig Lästige an der ganzen Sache bestand ein ums andere Mal in der Tatsache, dass die Durchleuchtungsapparatur nicht für die Untersuchung eines 1,90-Laowais konzipiert war. Nach dem ersten Versuch, meinen Mageninhalt zu verstrahlen, wies man mich freundlicherweise darauf hin, dass ich mich doch bitte ein bisschen kleiner machen sollte. So verbrachte ich fünf Minuten in einer Art reichlich bescheuert anmutenden Schwebesitz, bis die nette Krankenschwester es endlich auf die Reihe brachte, die Maschine erneut anzuwerfen.
Genutzt hatte mir das am Ende gar nichts, aber immerhin habe ich jetzt ein hübsches Bild vom Inneren meines Prachtkörpers als Andenken an meinen ersten Besuch eines chinesischen Krankenhauses in meiner Krankenakte (für dessen Bezahlung ich nicht einmal den guten Dr. Walter in Anspruch nehmen musste). Das beeindruckte den Onkel Doktor allerdings weniger, denn er würdigte mein Souvenir keines Blickes. Eine kurze Musterung meines Blutbilds und eine fachmännische Kontemplation meiner Mandeln genügten, um mir endlich ein Rezept auszustellen. Meine Medikamente konnte ich anschließend direkt in der praktischerweise integrierten Apotheke kaufen und verließ das Krankenhaus mit einer leicht gestressten Chang E, einem Antibiotika-Hammer (der in Rekordgeschwindigkeit seine Aufgabe erfüllte) und einer scheinbar traditionellen Medizin (die ich aus kleinen Fläschchen schlürfen musste und ganz furchtbar schmeckte). Dank dieser Kombination war ich innerhalb von zwei Tagen wieder einigermaßen auf der Höhe, sodass sich der Ausflug in das Haus, das Verrückte macht Nr. 2 wirklich gelohnt hatte.
Vor ein paar Wochen jedoch ereilte mich das nächste lästige Zipperlein – anhaltende Nackenschmerzen. Ob die vom vielen Beglotzen meiner alltäglichen Umwelt oder meinen erfolgreichen Verrenkungen im Röntgen-Apparat herrührten, konnte ich mir zwar nicht erklären, aber ich sah es immerhin als gute Chance an, einmal die traditionellen chinesischen Heilmethoden auszuprobieren. Natürlich begleitete mich auch bei diesem Experiment meine allzeit loyale Komplizin Chang E, ohne die ich das Hospital sicher niemals gefunden hätte. Bereits beim Eintreten wurden die ersten Unterschiede zu einer westlichen Heilanstalt deutlich: anstatt dem stechenden Geruch von Desinfektionsmittel schlug einem hier ein beinahe benebelndes Duftgebräu aus verschiedensten Kräuteraromen entgegen. Da die Chefärztin gerade nicht im Hause war, empfing uns eine Horde von Studenten, die hier ihre frisch erlernten Fähigkeiten erprobten.
Um einen ersten Überblick über meine Bedürfnisse zu erhalten, legte ein besonders breit grinsender junger Arzt erst einmal seine Finger an meine Pulsadern und lauschte, ob meine inneren Organe im Einklang arbeitete (ohne dafür ein Röntgengerät zurate zu ziehen). Als er damit zufrieden schien, nahm er meine Hand und begann, meine Lebenslinien zu interpretieren. Was für mich etwas esoterisch klingen mochte, ist aber tatsächlich ein integraler Bestandteil der Ausbildung für Studenten der TCM und wird auch von den Patienten (Chang E eingeschlossen) durchaus ernst genommen. Die Erkenntnisse meines Handlesers bezüglich meiner aktuellen Situation erwiesen sich überraschenderweise als ziemlich akkurat, doch ähnlich wie beim Tageshoroskop in der Fernsehzeitung hielten sich alle Aussagen natürlich so, dass jeder ihnen mit einen bisschen Gutgläubigkeit etwas abzugewinnen vermochte. Das anschließende Angebot, meine Zukunft aus den Falten in meiner Handfläche zu bestimmen, lehnte ich dennoch dankend ab, denn über die wollte ich doch lieber selbst bestimmen.
So gingen wir endlich zum eigentlichen Grund meines Besuchs über: meine erste Akupunktur-Behandlung, die meinen Nackenschmerzen ein Ende bereiten sollte. Nachdem ich mich auf einer Liege zur allgemeinen Begutachtung niedergelassen hatte, versammelte sich die komplette Studentenschaft um den wehrlosen Laowai und diskutierte, wo man mich am besten piksen sollte, um meinen Energiefluss wieder herzustellen. In der TCM geht man nämlich davon aus, dass die Lebensenergie (das Qi) mit ihren Anteilen an Yin und Yang in sogenannten Meridianen durch den Körper zirkuliert. Kommt es zu einem Ungleichgewicht zwischen Yin und Yang, entsteht eine Störung im Energiefluss, die wiederum zu Krankheiten führt. Durch die Stimulierung gewisser, festgelegter Punkte kann ein Ausgleich der beiden Partien und somit ein optimaler Energiefluss gefördert werden.
Soviel zur Theorie. In der Praxis bedeutete das, dass nach ein paar Minuten und angeregten Diskussionen zwischen den Studenten über zwanzig hauchdünne Nadeln in meiner Haut steckten. Der Einstich war dabei weniger spürbar als beispielsweise bei einer Impfung, allzu viel Bewegung sollte man danach jedoch tunlichst vermeiden, denn sonst spürt man jedes Nadelende mehr als deutlich! Kein Wunder – anders als oft angenommen, werden die Nadeln nämlich nicht nur vorsichtig in die Hautoberfläche, sondern je nach Körperregion mehrere Zentimeter tief eingestochen. Das wurde mir allerdings erst bewusst, als ich die Prozedur bei Chang E beobachtete, die das Ganze neben mir über sich ergehen ließ. Zu spät.
Eine halbe Stunde später befreite man mich aus meiner Paralyse und zur Belohnung für meine überstandenen Strapazen erhielt ich noch eine vorzügliche Nackenmassage, sodass mich letztendlich das Gefühl beschlich, dass sich die Verbindung zwischen meinem Kopf und meinen Schultern einfach in Luft aufgelöst hatte. Um eine dauerhafte Wirkung der Akupunktur zu entfalten, reicht eine Therapiestunde zwar lange nicht aus, aber da mir in China nicht mehr viel Zeit verblieb und ich diese nicht nur für Arztbesuche verwenden wollte, beließ ich es vorerst dabei. Dennoch war ich erstaunt, wie viel Linderung so ein paar Piekser bringen konnten, sodass ich mich schmerzfrei in den letzten (vollständigen) Monat in meinem geliebten Wuhan stürzen durfte.