In all den Monaten, die ich mittlerweile in China verbracht habe, durfte ich Freunde aus allen Ecken und Enden der Welt kennenlernen. Obwohl ich einen großen Teil meiner Zeit hier an der Wuhan Universtity Attached Middle School verbringe, sind nur wenige von ihnen tatsächlich Schüler an meiner Schule. Das mag wohl einerseits daran liegen, dass ich meine Schützlinge zwar wirklich ins Herz geschlossen habe, aber die meisten wohl noch ein bisschen zu jung sind, um meine Interessen zu teilen – sicherlich wäre es nicht gerade die prestigeträchtigste Idee, ein paar von ihnen mal dem Kulturaustausch halber auf ein Bierchen in eine Bar einzuladen! Andererseits gibt es zwar genug High School Schüler beinahe in meinem Alter, doch die meisten wagen nicht, ihre Englischkenntnisse vor dem Laowai unter Beweis zu stellen, um ihr Gesicht zu wahren. Nebenbei gewähren ihnen die intensiven Vorbereitungen auf das „Gaokao“ (das chinesische Abitur) nicht allzu viel Freizeit, um diese mit dem ausländischen Lehrer totzuschlagen.
Ein Schüler schien sich allerdings vorgenommen zu haben, mir das Gegenteil zu beweisen – für jede Regel gibt es eben bekanntlich eine Ausnahme. Vor ein paar Wochen hatte ich beschlossen, mich an einem Samstagnachmittag in den Pausenhof zu setzen und in der herrlichen Sonne ein paar Zeichnungen anzufertigen. Wie gewohnt herrschte trotz der eigentlich freien Tage reges Treiben auf dem Gelände. Man büffelte fleißig für das Gaokao, nahm Nachhilfestunden, traf sich zum Basketball, Fußball oder Tischtennisspielen oder genoss ebenfalls mit einem Eis in der Hand das sommerliche Wetter. Während ich hochkonzentriert vor mich hin skizzierte, ließ mich plötzlich ein leicht aufgeregt klingendes: „Hey, may I sit down here and look at your drawings?“ aufsehen. Vor mir stand ein High School Schüler, den ich vorher noch nie gesehen hatte (was bei einer so großen Schule ja auch nicht weiter verwunderlich ist) und natürlich hatte ich nichts dagegen, dass er sich meine etwas ungelenken Kritzeleien ansah. Als wir ins Gespräch kamen, stellte sich schnell heraus, dass so etwas wie chinesische Namensvettern waren – Wang Kai teilte das zweite Schriftzeichen seines Namens mit dem, das ich mir ausgesucht hatte.
Am Rande bemerkt kann ich übrigens von Glück sagen, dass sich „Kai“ ganz wunderbar ins Chinesische überführen lässt. Andere mussten dafür eine etwas längere Sinnfindungs-Suche durchmachen als ich. Wenn man seinen Namen schlicht Silbe für Silbe in ähnlich klingende chinesische Worte umsetzt, kommt dabei nämlich meistens ziemlicher Schwachsinn heraus. So besuchte meinen Kurs an der Universität zum Beispiel eine kenianische Studentin, die es tatsächlich geschafft hatte, „He Ma“ zu heißen. Entweder hatte die Gute einen Hang zur Selbst-Ironie oder der Chinese, der ihr bei der Namensgebung geholfen hatte, hatte sich einen üblen Scherz erlaubt, denn „He Ma“ bedeutet übersetzt „Nilpferd“. Meistens ist es deshalb ratsam, sich vom ursprünglichen Klang des eigenen Namens etwas zu entfernen –und sich vor allem einen vertrauenswürdigen Berater zur Seite zu ziehen.
Wie ich bereits in einem anderen Artikel angedeutet habe, kann es aber auch umgekehrt zu recht amüsanten Ergebnissen führen, wenn sich Chinesen einen westlichen Namen zulegen. Einige lösen sich dabei komplett von ihrem ursprünglichen Namen und greifen einfach tief in die Kiste der berühmten Persönlichkeiten oder dramatisch klingenden Worte. Da reicht die Liste von Vorbildern wie „Adele“ oder „Schweinsteiger“ über „Sonnenschein“ und „Starlight“ bis hin zu „Aslan“ oder „Sulky“ (was so viel heißt wie „schwabbelig“ – nicht eben dramatisch, aber um ehrlich zu sein ziemlich akkurat).
Wang Kai hatte sich jedenfalls noch keinen westlichen Namen ausgesucht, dennoch war ich von seinen Sprachkenntnissen einigermaßen beeindruckt, sodass wir uns lange mehr auf Englisch als auf Chinesisch unterhielten. Das Ganze endete schließlich damit, dass Wang Kai mich für den darauf folgenden Sonntag zum Abendessen einlud, als es für mich Zeit wurde, zu einem Billard-Match mit Flo, David und ein paar anderen aufzubrechen. Das überraschte mich zugegebenermaßen ein wenig, denn ich hatte zwar schon einige schöne Abende bei anderen chinesischen Freunden verbracht, aber ein Schüler hatte mich noch nie eingeladen. Natürlich nahm ich das Angebot trotzdem mit Freuden an und so trafen wir uns eine Woche später am selben Ort wieder.
Anstatt gleich zu Wang Kais Wohnung zu fahren, wurde ich erst einmal zu einer Runde Billard herausgefordert. Leider wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ich nicht halbwegs so talentiert war, wie er sich das vorgestellt hatte. Zwar hatte ich das Spiel wirklich lieben gelernt, aber die paar Abende voller versehentlich versenkter schwarzer Kugeln und abrutschenden Queues hatten nicht wirklich einen Meister aus mir gemacht. Nach einigen haushohen Niederlagen beschloss der Schüler schließlich, mein Lehrer zu werden – und wie sich herausstellte, konnte er das sogar ziemlich gut. Zwei Stunden später gelang es mir (gelegentlich), eine Strategie erfolgreich in die Tat umzusetzen und gewann sogar das letzte Spiel (was überhaupt nicht daran lag, dass mich Wang Kai absichtlich gewinnen ließ, damit ich mein Gesicht nicht verliere).
Ziemlich selbstzufrieden schlenderte ich daraufhin mit meinem neuen Shifu zurück zum Wohnheim, um noch ein paar Dinge aus meiner Wohnung zu holen. Während ich dort meinen Rucksack packte, wurde ich Zeuge eines ziemlich amüsanten Spektakels: Wang Kai schien so fasziniert von meinem angeblich unglaublich westlich eingerichteten Zimmers, dass er begann, Bilder von allen möglichen Dingen zu schießen, die mir nie ein Foto wert gewesen wären: meine Müsli-Packung, meine Ahoj-Brause-Packungen, Schokolade und sogar meine Sprüh-Deo-Dose (versteht mich nicht falsch, ich hab mich über die jede einzelne dieser Grüße aus Deutschland riesig gefreut, aber Erinnerungsfotos brauche ich davon auch wieder nicht). Wenn ich es mir allerdings recht überlege, muss ich doch feststellen, dass man dieses Verhalten mitnichten als seltsam bewerten darf. Bilder von allen kleinen und großen Neuentdeckungen schießen – das kommt mir doch irgendwie selbst ziemlich bekannt vor, vor allem wenn ich an die ersten Wochen zurückdenke. Mittlerweile würde ich das Huhn, das mit dem Fuß an der Laternenpfosten angebunden ist oder dem Mann, der neben seinem Töchterlein noch drei fünf riesige Pakete auf seinem Elektro-Roller balanciert kaum noch wahrnehmen, doch vor ein gar nicht allzu langer Zeit sah das noch ganz anders aus.
Gelegenheit, selbst wieder einmal die Kamera zu zücken, erhielt ich dennoch, als wir endlich bei Wang Kais Zuhause angelangten. Die Dämmerung hatte sich bereits über Wuhan gelegt, aber die Straße war noch erfüllt von Leben. Kinder rannten auf den Stufen zu den kleinen Wohnungen umher, gegrillter Bacon brutzelte auf dem Grill und zahlreiche Menschen hatten sich versammelt, um nach der Arbeit ein ordentliches Mahl oder ein paar Gläser Bai Jiu in der warmen Nacht zu genießen. Unser Abendessen ließ noch ein wenig auf sich warten, da Wang Kais Eltern selbst ein Restaurant besaßen und noch damit beschäftigt waren, alle Kunden zu bedienen. Genug Zeit für den Schüler, ein zweites Mal an diesem Tage mein Lehrer zu werden.
Dieses Mal gab er mir eine Einführung in die chinesische Kalligrafie, eine hohe Kunst, die ich schon immer einmal ausprobieren wollte. Und wieder einmal überschätzte ich mich gnadenlos. Nein, gut zeichnen zu können bedeutet nicht automatisch, dass man zu einer Karriere als Kalligraf prädestiniert ist. Ich fand sehr schnell heraus, dass mehr dazu gehörte als nur eine hübsche Handschrift, um die „Vier Schätze des Gelehrtenzimmers“, Schreibpinsel, Stangentusche, Reibstein und Papier richtig zu benutzen. Für mich erwies es sich bereits als kleine Herausforderung, den Pinsel richtig zu halten, ohne mir einen Krampf im Unterarm zuzuziehen. Während Wang Kai jeden perfekt gezogenen Strich zu einem wunderschönen Zeichen vereinigte, resultierten meine Versuche, ihn zu imitieren, immer wieder in deformierten Krüppeln.
Selbst als ich endlich dachte, langsam den Bogen rauszuhaben, zeigte sich mein Shifu als nicht gerade beeindruckt mit meiner Arbeit, weil ich einfach nicht „in Ordnung“ war – und das ist schließlich die wichtigste Grundlage! Das bedeutet nicht nur, die Strichfolgen in der richtigen Reihenfolge zu Papier zu bringen, sondern auch, mit sich selbst und der Umgebung im Reinen zu sein, bevor man zum Pinsel greift. Langsam begann ich zu verstehen, warum Wang Kai seit frühester Kindheit geübt hatte, um sein Talent zu perfektionieren. Wenn man sich wirklich ernsthaft dem Studium der Kalligrafie hingeben möchte, orientiert man sich auf der Suche nach dem eigenen Stil übrigens meisten zuerst an den großen, alten Meistern und versucht, deren Werke so genau wie möglich zu kopieren. Da ich mich mit denen zu so später Stunde lieber nicht mehr messen wollte, zeigte ich Wang Kai lieber, dass sich der Pinsel auch wunderbar eignete, um Kalligrafie in lateinischer Schrift hervorzubringen.
Von all den Errungenschaften begann mein Magen langsam ganz schön zu knurren. Glücklicherweise hatten Wang Kais Eltern gerade damit angefangen, unser Abendessen vorzubereiten. In der kleinen Küche des Restaurants arbeiteten die beiden hart, um für uns ein reichhaltiges Menü zu zaubern. Innerhalb von gerade einmal zehn Minuten landete ein dampfender Topf nach dem anderen auf unserem Tisch. Da die Familie ursprünglich aus der Sichuan-Provinz nach Wuha übergesiedelt war, befürchtete ich schon, mir mal wieder ordentlich den Gaumen zu verbrennen, doch auch wenn ich den Schweinemagen etwas gewöhnungsbedürftig fand, entpuppte sich der Rest als wahrer Gaumenschmaus. Insbesondere der reichhaltig gewürzte Fisch trug dazu bei, dass ich gar nicht so recht wusste, wie ich den Eltern meinen Dank aussprechen sollte, denn immerhin hatten die soeben jemanden gratis bekocht, den sie vorher noch nie getroffen hatten!
Da es bereits ziemlich spät war, als wir unser Bankett beendeten, bot mir Wang Kai an, bei seiner Familie zu übernachten – dem Himmel sei Dank, denn alleine hätte ich den Weg nie aus der Wohnsiedlung zur Hauptstraße gefunden! Ein leicht schlechtes Gewissen beschlich mich bei der Sache allerdings, als man mir einfach ein ganzes Zimmer überlassen wollte. Da blieb bei einer Zweizimmerwohnung mit einer kleinen Küche und einem noch kleineren Bad nicht mehr allzu viel Platz für den Rest der Familie.
So erlebte ich immerhin noch ein interessantes chinesisches Alltagsritual, das ich vorher noch nie gesehen hatte. Man nehme eine große Schüssel, gieße siedend heißes Wasser hinein und versuche dann nicht laut zu schreien, während man seine Füße zehn Minuten lang darin versenkt. Nicht, dass ich noch nie in meinem Leben darauf gekommen wäre, mir die Füße zu waschen, aber sie mir dabei beinahe zu versengen, hätte ich ansonsten nicht als sonderlich kluge Idee erachtet. Dennoch bewies sich mal wieder, dass heißes Wasser als chinesisches Allheilmittel Nummer 1 nicht nur als Getränk wahre Wunder wirken kann, zumindest wenn man darauf vertraut, dass man sich nicht die Zehen garkocht. Danach beschloss ich sogar, dieses hübsche kleine Ritual ebenfalls in meine tägliche Routine aufzunehmen – denn nach einem langen Tag wirkt das erfrischender und entspannender, als man denkt.
Nach dem heutigen langen Tag erschien mir selbst das original brettharte chinesische Bett wie eine Wohltat. Mein letzter Gedanke, bevor mich die Müdigkeit vollends übermannte: man lernt einfach nie aus. Jede neue Bekanntschaft kann dazu beitragen, die andere Kultur besser zu verstehen und neue Erfahrungen über die Eigenheiten des Landes zu sammeln, egal wie lange man sich schon dort aufhält!



