Hmm, der Reim in der Überschrift hat irgendwie nur mäßig funktioniert (so mäßig, dass ich hiermit darauf hinweisen muss, damit man ihn überhaupt bemerkt). Wie auch immer, da meine neue Anstellung als Teilzeit-Touristenführer dafür hingegen ziemlich gut funktioniert hatte, kündigten sich bald die nächsten Kunden an. Und zwar in Form der lieben Familie, die ich in Shanghai treffen würde.
Zuvor jedoch schlüpfte ich selbst in die Rolle von einem der unzähligen Touristen, die im Frühling nach Wuhan strömen. Für wenige Tage im Jahr stellt die Wuhan Universität (auf deren Campus auch meine Schule liegt) unter Beweis, warum sie oft als schönste Universität in ganz China bezeichnet wird, denn in dieser kurzen Zeit öffnen sich die Blüten der japanischen Kirschbäume auf dem Unigelände. Das konnte ich mir natürlich nicht entgehen lassen und so traf ich mich an einem strahlend schönen Montagnachmittag mit Spencer, um das Spektakel mitzuerleben. Spencer hatte ich übrigens (wie viele meiner Bekanntschaften) einmal zufällig in einer Bar kennengelernt und der Gute hatte mir aufgezeigt, welche lustigen Zufälle das Leben manchmal zu bieten hat. Wie sich schnell herausstellte, hatte ich in dem Studenten eine Art chinesisches Äquivalent gefunden – und die einzige Person, die dauerhaft einen noch netteren Spitznamen für mich benutzt als es Chang E bisher geschafft hat. Was könnte besser sein als „Prince of the Dark“? „My favourite German Mongo“! Memo an mich selbst: ich muss unbedingt aufhören, anderen diesen Ausdruck beizubringen…
Jedenfalls wurden Spencer und sein bester deutscher Mongo von der schönsten Universität Chinas nicht enttäuscht. Die letzten Strahlen der Nachmittagssonne drangen durch ein dichtes, wogendes Meer aus weißen Blüten, die in kleinen Trauben aus dem Astwerk hervorsprossen. Abgesehen von den Wattebausch-Wolken über Shangri-La hatte ich, glaube ich, selten etwas so Reines gesehen. Doch im leichten Wind segelten Blütenblätter wie Schnee zu Boden und leiteten bereits den verträumten Anfang vom Ende der vergänglichen Schönheit ein. Wären wir nur ein paar Tage später gekommen, wäre von der ganzen Pracht nur noch wenig übrig gewesen. Glück gehabt.
Auch um nach Shanghai zu düsen, hatte ich zufällig genau den richtigen Zeitpunkt gewählt. Bereits mein erster Abstecher in die Metropole während des Zwischenseminars wird mir immer als einer der Höhepunkte meines China-Abenteuers in Erinnerung bleiben, doch was sich an einem einzigen Wochenende abspielen würde, sollte meine Liebe für die Stadt endgültig besiegeln. Bevor ich auf meine Familie traf, feierten wir zuerst noch eine kleine Freiwilligen-Reunion. Nachdem ich ungefähr zwei Stunden lang in der Nähe des Bunds umhergeirrt war, bis ich feststellte, dass ich mein Hotel schon dreimal umrundet hatte, konnte ich endlich in die Metro steigen, um bald darauf Lien in die Arme zu schließen. Zusammen mit zwei anderen Freunden der Shanghaier Freiwilligen ließen wir uns in einem japanischen Restaurant in der French Concession ein exzellentes Abendessen schmecken und genossen anschließend das Shanghaier Nachtleben. Das gestaltet sich meines Empfindens nach zwar durchaus um einiges teurer und etwas dekadenter als im bodenständigen Wuhan, dafür scheint alles ein bisschen schneller und noch intensiver.
Einen richtig intensiven Tag erlebte ich allerdings erst am folgenden Morgen. Alles begann mit zwei wunderschönen Sonnenbrillen und einer pinken Perücke, die Lien und ich in einer Shoppingmall ersteigerten. Mit diesen im Handgepäck und Theresa, die während unserer seltsamen Einkaufstour ebenfalls in Shanghai eingetroffen war, zogen wir los zum Bund und hielten dort Ausschau nach anderen Leuten, die ähnliche Accessoires bei sich trugen. Da, ein Hund im Pullover! Zu wem der wohl gehören mochte? Zu den Gestalten, die alle irgendwelche ominösen Taschen bei sich trugen! Hier waren wir richtig! Und unser gemeinsames Motto, das uns alle für eine kurze Zeit zusammenschweißte, lautete: „We do the Harlem Shake!“
Nach einigen spannungsgeladenen, verrückten und turbulenten Augenblicken verflog die Hitze des Moments wieder, das beinahe psychedelische Treiben löste sich urplötzlich auf und es kehrte wieder „Ruhe“ am Bund ein. Zugegeben, zuvor hatte ich diesen Youtube-Trend selbst für ziemlich hirnrissig gehalten, aber wer einmal mitgemacht hat, weiß, dass kaum bessere Gelegenheiten gibt, um einmal alle inneren Schranken zu durchbrechen. Das Resultat unserer spontanen Aktion könnt ihr euch hier selbst ansehen (vermutlich gibt es kein besseres Bildmaterial, um meinen Spitznamen German Mongo zu festigen):
Gerne hätte ich im Anschluss meine Mitstreiter noch näher kennengelernt (immerhin wäre es ja zu interessant gewesen, herauszufinden, wer sich noch für solche Ideen hinreisen lässt), doch ich musste schleunigst zu meinem nächsten Treffen am Bund aufbrechen. Also bedankte ich mich bei unserem Organisator Keith, der uns alle zusammengebracht hatte, verabschiedete mich von dem lustigen Haufen und spurtete los. Zum zweiten Mal innerhalb eines Monats beschlich mich daraufhin das Gefühl, dass irgendetwas mit meiner optischen Wahrnehmung nicht stimmen konnte. Wie üblich posierten hunderte Menschen vor der in blassen Dunst gehüllten Skyline – und mitten unter ihnen tauchten plötzlich zuerst mein Onkel, dann meine Tante, mein kleiner Bruder Yannik, zwei gute Freunde der Familie und schließlich meine Eltern auf.
Meine Familie in China! Wer hätte das gedacht! Nach wie vor eine pinke Perücke unter der Jacke versteckend und mit ganz schön weichen Knien durfte der verlorene Sohn einmal reihum Umarmungen und Küsschen verteilen. Immer noch Adrenalin im Blut von unserem Flashmob und nun der nächste Endorphin-Schub. Der Bund hatte sich wohl heute vorgenommen, mir für immer als Schauplatz der großen Gefühle in Erinnerung zu bleiben.
Doch der Tag hielt noch mehr Adrenalin- und Endorphin-Schübe bereit. Nach dem ersten gemeinsamen Abendessen in China, bei dem alle unter Beweis stellten, dass sie mindestens so gut mit Stäbchen umgehen konnten wie ich selbst, nahmen Yannik und ich ein Taxi zum Mao Live House. Mit Lien und Theresa sowie Christina und Anton (zwei andere Freiwillige aus Shanghai und Nanjing) nahmen wir das nächste Ziel in Angriff: Fritz Kalkbrenner in Shanghai! Dummerweise hatte keiner von uns rechtzeitig Tickets für das Event vorbestellt, sodass wir nun darauf hofften, an der Abendkasse die letzten Exemplare zu erhaschen. Fehlanzeige. Wenn Fritz Kalkbrenner in Shanghai für 180 Yuan pro Karte auflegt, bleibt da eben nicht so einfach eine für uns übrig. Was nun? Wir konnten doch jetzt nicht einfach wieder gehen! Es musste einen anderen Weg geben, irgendwie trotzdem da hinein zu gelangen! Und den fanden wir dank Antons Spürsinn auch. Allerdings werde ich den hier lieber nicht so genau erläutern – ich kann nur garantieren, dass er zunächst tatsächlich mit ganz schön viel Adrenalin für jeden einzelnen von uns verbunden war. Im Anschluss ließ es sich dafür umso ausgelassener feiern und die erfolgreiche Umsetzung unseres Plans wurde mit ordentlich Endorphinen belohnt – und einer der besten Tanz-Nächte in China überhaupt.
Nach einem finalen „Sky and Sand“ flaute die letzte Gänsehaut ab, alle Geräusche schienen angenehm weit entfernt, die Augen flimmerten von den vielen Lichtblitzen, die Arme waren schwer vom In-die-Höhe-Reißen und der Bass hallte immer noch in den Knochen wieder. Yannik und ich beschlossen deshalb einstimmig, dass wir am Sonntag nicht den Rest der Familie mit der Touristengruppe zu begleiten und stattdessen lieber auszuschlafen. Trotz aller Übermüdung schafften wir es dennoch, das große Ocean Aquarium zu besichtigen, einmal durch den wunderschönen Li-Garten zu laufen und rechtzeitig zur Touristengruppe zu stoßen, um uns die großartige Artistenshow anzusehen.
Danach nahm ich schon wieder fürs Erste Abschied von meinen Lieben, da die, bevor sie mich in Wuhan besuchen würden, noch durchs Land reisen wollten. Mich hingegen erwartete der Unterrichtsalltag, sodass ich am Montag um fünf Uhr morgens im Schnellzug nach Wuhan saß und ein wenig benommen meine Stadt von Adrenalin und Endorphin hinter mir ließ. Ob ich ein ganzes Jahr in Shanghai hätte wohnen wollen, weiß ich nicht, doch ich muss zugeben, dass jeder Abstecher dorthin mein Herz höher und schneller schlagen lässt und ich es immer unglaublich genieße, mich von der Geschwindigkeit, den Leuten, der Internationalität, dem Nervenkitzel und den Überraschungen der Metropole mitreißen zu lassen. Ich liebe mein Leben in Wuhan, aber das nächste Wochenende in Shanghai kommt bestimmt!
Am Nachmittag desselben Montags stürzte ein etwas außer Atem geratener Mr. Kai zwei Minuten nach dem Klingeln in eine seiner siebten Klassen. Mein Zeitplan wäre perfekt gewesen – doch damit, dass ich von meiner netten Nebensitzerin im Zug noch zu einem Kaffee eingeladen werden würde, hatte ich natürlich nicht gerechnet. So durfte ich mit einem ordentlichen Drücken auf der Blase immerhin beinahe pünktlich damit beginnen, meinen Schülern von den Ostertraditionen in Deutschland zu erzählen. Das mit den Häschen und den Ostereiern klappte noch ganz gut, bei der Passionsgeschichte wurde das Ganze schon ein bisschen komplizierter – immerhin hatte ich mich damit selbst seit Langem nicht mehr wirklich auseinandergesetzt. Nein, der Osterhase war an dem Event nicht beteiligt. Nein, Jesus ist eben nicht aus seinem Bett aufgestanden, sondern vom Tode aufERstanden. Und nein, mein Guter, Jesus ist kein Zombie! Oder etwa doch?
Als alle Einheiten über Ostern schließlich überstanden waren und ich trotz aller ausführlichen Erklärungen am 31. März vergessen hatte, was wir an diesem Tag feierten, durfte ich wieder meine Touristenführer-Qualitäten austesten – und zwar im Expertenmodus. Im nächsten Level leitete ich nun gleich sieben Leute auf einmal durch das Wuhaner Wirrwarr. Im Nachhinein hätte ich wohl lieber gleich einen Privatbus chartern sollen und für den Anfang vielleicht noch einen Verkehrslotsen, der alle sicher über die Straße bringt. Die Verkehrsordnung in Wuhan gestaltet sich nämlich doch ein bisschen anders als in Shanghai, wo man bei Rot auch (meistens zumindest) anhält. Auch das Ergattern von immer gleich zwei Taxis auf einmal erwies sich teilweise als mittelgroße Herausforderung. Nicht nur, weil man grundsätzlich nicht der einzige ist, der auf ein Mitfahrgelegenheit wartet, sondern weil viele Taxifahrer beim Anblick einer größeren Ausländeransammlung gar nicht erst anhalten. Die können ja sicherlich sowieso kein Chinesisch, so verloren, wie die in der Gegend rumstehen! Da hilft es manchmal nicht einmal, wenn man versucht, das heißbegehrte Fahrzeug ganz professionell mit einer leicht wegwerfenden Handbewegung aus dem gestreckten Arm heraus herzuwinken.
Dummerweise waren wir des Öfteren auf ein Taxi angewiesen, insbesondere weil sich die Entfernungsangaben des werten Touristenführers als nicht gerade verlässlich herausstellten. Ich habe wohl in den letzten Monaten ein etwas weiter gefasstes Empfinden von den Begriffen „in der Nähe“ und „gar nicht weit entfernt“ entwickelt. Das liegt vor allem daran, dass ich obwohl ich in einer riesigen Stadt wohne, oft „größere“ Strecken zu Fuß zurücklegen muss, um an das zu kommen, was ich brauche – meistens lohnt es sich einfach nicht, dafür einen Bus oder ein Taxi zu nehmen. Wenn man beinahe jeden Tag auf der Suche nach einem guten Mittagessen, einem kleinen Snack für zwischendurch oder sonst irgendwelchen Ausrüstungsgegenständen durch die Gassen streunt, erscheint einem eben irgendwann alles, was im Umkreis von zwei Kilometern liegt, als „gar nicht weit entfernt“. Vermutlich ist das einer der Hauptgründe (neben meinen nächtlichen Kletteraktionen) dafür, dass ich trotz massig gutem und billigem Essen immer noch keinen Reissack-Bauch vor mir herschiebe.
Dank meiner minimal verschobenen Entfernungswahrnehmung erhielten wir auf der anderen Seite die Gelegenheit, einmal richtig in das quirlige Leben auf den Straßen Wuhans einzutauchen. Kleinkinder, die mit geöffneten Po-Klappen fröhlich über den Asphalt robben; Tante-Emma-Laden-Besitzer, deren Gesichter beim Anblick des vorbeimarschierenden Laowai-Trupps noch mehr Falten schlagen, als sie sowieso schon haben; Obstverkäufer, die ihre süßen, kunstvoll geschälten Ananas-Spieße feilbieten; Mini-Modeboutiquen, aus denen dauerhaft grausame chinesische Techno-Hymnen erschallen; tausend verschiedene Düfte aus jedem Hauseingang (und leider auch aus jedem Gulli-Deckel) – ein einfacher Gang von einem Ziel zum nächsten kann manchmal genauso spannend sein wie eine offizielle Touristen-Attraktion.
Bei deren Besichtigung hatte ich allerdings leider die Auswirkungen des Qing Ming Festivals unterschätzt, das zufällig genau in der Zeit gefeiert wurde, in der meine Familie mich besuchte. Eigentlich gedenkt man an diesen Feiertagen traditionell den Verstorbenen, geht auf die Friedhöfe und säubert die Gräber. Weil der Brauch allerdings langsam an Bedeutung verliert und man im Normalfall nicht mehrere Tage braucht, um über einen Grabstein zu wischen, nutzen viele die restliche Zeit für touristische Aktivitäten. Dementsprechend platzte der Yellow Crane Tower als berühmteste Sehenswürdigkeit der Stadt aus allen Nähten. Während wir vor zwei Wochen stressfrei alle Ecken und Winkel des Bauwerks begutachtet hatten, wurde man nun in akkurat abgesperrte, vorgegebene Pfade geleitet, sodass man sich beim Turmsteigen ein bisschen vorkam wie eine Laborratte im Testlabyrinth. Das Hubei Province Museum konnten bzw. wollten wir später gar nicht erst sehen, weil sich vor den Toren eine Menschenschlange gebildet hatte, die sich über mehr als einen Kilometer erstreckte. Wie heißt es doch nochmal so schön – in China gibt es einfach zu viele Menschen! Auf diese Weise bekam die liebe Familie wenigstens einmal China live zu spüren – und das sollte man schließlich nicht verpasst haben.
Trotz allem brachte ich es irgendwie auf die Reihe, meinen sieben Gästen zu zeigen, welche Details bei all dem Durcheinander und der Hektik dennoch dafür sorgen, dass es mir hier so gut gefällt. Zum Beispiel, wenn beim Korean Barbeque tonnenweise Bacon und Shrimps auf dem Grill brutzeln. Wenn der Dry Hot Pot verführerisch auf dem Tisch vor sich hin blubbert. Wenn man über einen dampfenden Haufen frisch geschlagener Nudeln in einem der garantiert guten muslimischen Restaurants herfällt. Wenn man einen durchaus genießbaren Pott Kaffee in der Tan Hua Lin schlürft, währenddessen in einem der vielen Skizzenbücher herum kritzelt und das fotografierende Volk belächelt. Oder sogar, wenn man in der Helens Bar einen recht alkoholfrei, aber lecker schmeckenden Cocktail bestellt und sich bis spät in die Nacht von einem Gespräch ins andere treiben lässt.
Am letzten Morgen fand schließlich ein seltsamer Rollenwechsel statt. Anders als damals am Flughafen in München winkte heute nicht die in Deutschland zurückbleibende Familie dem Sohnemann hinterher, der in sein China-Abenteuer aufbrach. Heute war ich es, der mit einem fetten Klos im Hals meinen Lieben hinterher winkte, die nach ihrem eigenen China-Abenteuer wieder in die Heimat zurückkehrten. Zugegebenermaßen freute ich mich zwar nun darauf, meine Anstellung als Teilzeit-Touristenführer abzulegen, denn das konnte auf Dauer ein wenig anstrengend werden. Dennoch ist es immer wieder unfassbar wertvoll für mich, meine Erfahrungen mit Menschen, die mir am Herzen liegen, teilen zu dürfen, da ich so noch mehr aus ihnen lernen kann, als ich es ohnehin schon tue. Und ganz nebenbei hat es mir natürlich große Freude bereitet, all diesen Menschen einen Crashkurs im Überleben in Wuhan zu erteilen und sie Einblicke in mein chinesisches Leben gewinnen zu lassen, die selbst über das seitenlange Gelaber hinausreichen, das ich in meinem Blog so von mir gebe.