Mr. Kai, Touristenführer – Part 1: Alte Freunde in Wuhan und der Fall des „Prince of the Dark“

Nach sieben Monaten in Wuhan kann ich nicht nur behaupten, dass ich mich an den Alltag in China gewöhnt habe (es wäre ja auch ziemlich armselig, wenn man das in einer so langen Zeitspanne nicht auf die Reihe bekommt), sondern auch, dass ich unter dem meistens weiß verschleierten Himmel der auf den ersten Blick ein wenig gesichtslosen, rasant wachsenden Industrie-Metropole ein neues Zuhause gefunden habe.

Ästhetisches Gekritzel Nr. 1325: Zum Doktor gehen

Ästhetisches Gekritzel Nr. 1325: Zum Doktor gehen

Woche für Woche versuche ich, meinen Schülern wahlweise die deutsche oder englische Sprache mit allerhand merkwürdigem, äußerst ästhetischem Gekritzel an der Tafel näher zu bringen und verteile haufenweise Milka-Schokolade für die Sieger der Challenge des Tages. Im Lehrerzimmer klärt mich Chang E fleißig über die neusten Gerüchte auf, während der französische Französisch-Lehrer Cedric fleißig mit Yang Hui flirtet und David fleißig über seinen Chinesisch-Hausaufgaben brütet, was in mir wiederum ein konstant schlechtes Gewissen hervorruft. Dank meinen Freunden und zahlreichen anderen liebenswürdigen Menschen bergen das Wochenende und sonstige freie Abende gewohnt fantastische Ausgleiche zur Arbeit und Gelegenheiten für das eine oder andere ausgelassene „Ganbei“.

 Jeden Mittag oder Abend quäle ich mich etwas widerwillig in die Kantine, besuche meine Lieblings-Fressbuden am Straßenrand, erkunde neue Restaurants und gönne mir bisweilen auch hin und wieder authentische, qualitativ hochwertige westliche Küche bei diversen Fastfood-Ketten. Ich weiß genau, wo ich mich am besten mit frischem Obst ausrüste, wie ich mein Zimmer mit dem Nötigsten bestücke und dass ich von meinem Stammfriseur jederzeit mit Freuden empfangen werde. Einen neuen Haarschnitt verpasst zu bekommen ist hier am Rande bemerkt eine ziemlich günstige Angelegenheit – für umgerechnet nicht einmal fünf Euro erhält man im besten Fall sogar eine Kopfmassage und mehrmals gewaschene Haare. Leider muss man sich allerdings damit abfinden, dass das verwendete Shampoo in der exklusiven Flasche zwar ganz wunderbar duftet, aber manchmal einen hübschen Juckreiz auf der Kopfhaut hervorruft, weil es gepanscht wurde.

Zudem darf ich mir danach wieder einmal kreative Spitznamen-Kreationen von meinem kleinen Lieblings-Dämon anhören wie „Wow, you look like an elf from Lord Of The Rings!“. Danke, ich weiß, dass ich meine Ohren nicht gerade mein unauffälligstes Merkmal sind. Seit mir Chang E erklärt hat, dass große Ohren in China das Glück anziehen, gefallen mir die beiden aber schon viel besser. Naja, und ein Elb ist immer noch besser als „Bambusstange“ oder mein Ehrentitel „Prince of the Dark“, den ich trage, weil ich gelegentlich nachts um den Schulhof jogge. Doch man gewöhnt sich ja an alles.

Der erste Abend in Wuhan

Der erste Abend in Wuhan

Aller Gewohnheit zum Trotz erlebte ich vor einiger Zeit wieder einmal, wie man sich fühlt, wenn man als Ausländer zum ersten Mal mit meiner zweiten Heimat konfrontiert wird – und erhielt gleichzeitig die Chance zu testen, wie gut ich wirklich in der Stadt zurechtkam. Anfang März erwartete mich nämlich Besuch aus Deutschland. Ich hatte die Ehre, Jule, eine meiner frühesten Kindheitsfreundinnen, Lukas, einen guten Kumpel und seine Mutter Christel, mit der ich in Deutschland zufällig im selben Chinesisch-Kurs gelandet war, in Wuhan willkommen zu heißen. Zugegebenermaßen, zu Beginn traute ich meinen Augen gar nicht recht, als ich am Bahnhof im Stadtteil Hankou stand und plötzlich drei altbekannte Gesichter in der Menge wiederentdeckte. Aber die anfängliche Ungläubigkeit wich schnell der Wiedersehensfreude und der Begeisterung, die drei nach einiger vorausgegangener Planung endlich tatsächlich im gen Ausgang strebenden Menschenstrom begrüßen zu dürfen.

Da ich meinen Freunden Wuhan einerseits von der besten Seite, andererseits möglichst authentisch näherbringen wollte, hatte ich schon zuvor einen kleinen Erkundungsplan ausgearbeitet, der die kulinarischen und touristischen Highlights der Stadt enthielt. Währenddessen bekam ich nicht nur selbst noch ein paar hübsche neue Blickwinkel der Stadt zu sehen, sondern traf auch auf einige amüsante Unterschiede zwischen den Verhaltensweisen von Neulingen und „alten Hasen“ in Wuhan. Etwa, als Lukas und ich uns auf das Bett im Hotel fallen ließen und diese Erfahrung gleichzeitig mit „Wow, ist das hart!“ und „Wow, ist das weich!“ bewerteten.

Wie kommt man da wohl rüber?

Wie kommt man da wohl rüber?

Oder als wir das Risiko wagten, gemeinsam eine vielbefahrene, sechsspurige (bzw. im Notfall zehnspurige) Straße zu überqueren. Wie stellt man das wohl am besten an, ohne auf der Frontscheibe eines Autos zu landen oder für den Rest seines Lebens auf dem Mittelstreifen festzustecken? Die einfachste Lösung: die imaginären Scheuklappen anlegen, loslaufen und sich nicht anmerken lassen, dass man den Verkehr aus dem Augenwinkel genau beobachtet. Denn sobald man offensichtlichen Blickkontakt mit dem heranbrausenden Wagenführer aufnimmt, hat der keinen Grund mehr, anzuhalten, weil man ihn ja gesehen hat. Damit, dass man im Gegenzug für die gespielte Rücksichtslosigkeit gelegentlich ausgehupt wird, muss man sich eben abfinden, wenn man zu faul ist, die Fußgängerbrücke zu benutzen. So gesehen erscheint es mir ziemlich verständlich, dass diese Strategie vor allem bei der armen Jule hin und wieder zu kleinen Beinahe-Herzinfarkten führte.

Weiter ging der Spaß mit unserem ersten Besuch in einem der tausend Mini-Restaurants, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen. Kann man da wirklich essen? Und wenn ja, wie lange werde ich es danach bereuen? Warum macht sich niemand die Mühe, mal über den Boden zu wischen? Und warum zum Geier spucken die hier alles, was nicht schmeckt, auf den Tisch? Der wird doch danach sicher geputzt, oder? Beinahe hätte ich vergessen, dass ich mir jene Fragen vor ein paar Monaten noch selbst gestellt habe. Mittlerweile weiß ich, dass man der altbekannten Faustregel „Iss dort, wo viele andere Chinesen auch essen“ meistens trauen kann und der erste Eindruck (nach europäischem Maßstab) oft mehr als täuscht.

Insbesondere bei der winzigen uighurischen Fressbude, zu der ich meine Besucher schleppte. Nach Tradition der muslimischen Minderheit bereitet der Laoban, der mich zu seinen treuen Stammgästen zählt, jede Portion Nudeln aus frischem Teig zu. Und um ihnen eine besondere Bissfestigkeit zu verleihen (und die ausländischen Zuschauer zu unterhalten) wird der Teig nicht einfach durch die Spätzlespresse gedrückt, sondern immer wieder mit rhythmischen Bewegungen auseinandergezogen und lautstark auf den Tisch geschlagen, bis unser Laoban plötzlich wie durch ein Wunder ein paar astrein geformte Nudelstränge in den Händen hält. Gerade in den muslimischen Restaurants kann man übrigens davon ausgehen, dass auch Soßen und Fleisch frisch sind aufgrund der religiös bedingten Hygienevorschriften. Auch den Tisch putzt man normalerweise nach jedem Besuch ab (was nicht unbedingt heißt, dass man deswegen mit der Zunge darüber schlecken sollte, doch die meisten Menschen verspüren dazu normalerweise sowieso kein allzu großes Bedürfnis). So genossen wir bedenkenlos unsere ein wenig wie Spaghetti schmeckenden Häufen Tomaten-Ei-Nudeln, ohne dass uns diese erste Begegnung mit der chinesischen Straßenküche später noch schwer im Magen liegen würde.

Auf dem Weg von einer Attraktion zur anderen wurden mir außerdem wieder einmal die feinen Unterschiede zwischen dem Leben in Deutschland und in Wuhan aufgezeigt. Erst als ich schon etwas perplex „Stimmt was nicht?“ gefragt hatte, fiel mir auf, dass sich die Busfahrt anfühlte, wie als hätte man vergessen, die Federungen einzubauen und der Motor gelegentlich die Geräusche eines sterbenden Schweins von sich gab. Genauso hatte ich mir schon lange keine Gedanken mehr darum gemacht, warum manche Leute hier die Funktion eines Mülleimers nicht zu kennen scheinen oder ob die kleinen Kinder mit ihren Hosenschlitzen im Winter nicht ganz schön am Hintern frieren.

Lustigerweise sah ich mich während dem Besuch von Lukas, Christel und Jule am zweiten Abend selbst mit einem altbekannten Problem konfrontiert, das ich seit der goldenen Woche immer gekonnt gemeistert hatte. Nachdem wir gemeinsam Flos Geburtstag gefeiert und ich mich sehr gefreut hatte, sowohl mit einigen Freunden aus China und meinen deutschen Freunden in einer Original Wuhaner Bar anzustoßen, stand ich ein ums andere Mal vor meiner verschlossenen Schule. Da mir das im Durchschnitt zwei bis drei Mal pro  Woche passiert, habe ich das heimliche Über-das-Tor-Steigen schon länger als festen Bestandteil in meinen Workout-Plan integriert und diverse geeignete Kletter-Stellen ausgekundschaftet.

Aus Müdigkeit wählte ich in jener Nacht die niedrigste Stelle – unwissend, dass die heute eine besondere Challenge bereithielt. Erst, als ich mich gerade gekonnt an der obersten Stelle über die Mauer schwingen wollte, stellte ich fest, dass ich soeben in die Enden eines rostigen Eisenzauns gegriffen hatte, den man neuerdings wohl zum zusätzlichen Schutz vor Einbrechern angebracht hatte. Wie fürsorglich. Vor Schreck über diese Entdeckung verlor ich daraufhin jedenfalls das Gleichgewicht und stürzte (immerhin auf der richtigen Seite) zwei Meter in die Tiefe. Zaun: 4 – Prince of the Dark: 1. Eine verbogene Zaunspitze und vier klaffende Löcher in meiner rechten Hand. Das war mal eine Ausbeute! Nachdem ich erst einmal ein paar Minuten wie eine Schildkröte auf dem Rücken liegend die Geräusche eines sterbenden Schweins von mir gab (das können offenbar nicht nur die Busse in Wuhan), kroch ich unter Veranstaltung einer ziemlichen Sauerei zu meinem Zimmer und beschloss, in Zukunft lieber rechtzeitig nachhause zu kommen.

Fünf Tage später hangelte sich mitten in der Nacht eine ominöse Gestalt in Form einer Bambusstange mit zwei fetten Verbänden um die Finger über den Zaun vor dem Schülerwohnheim. China hat mir wohl nicht in allen Belangen Belehrbarkeit beigebracht. Am Tag nach meiner fehlgeschlagenen Einbruchs-Aktion bezahlte ich jedenfalls für meine Unaufmerksamkeit mit zwei unangenehm pochenden Fingern, die meinen ersten Besuch im Yellow Crane Tower überschatteten. Dabei hätte es so schön sein können. Die Frühlingssonne bescherte uns beinahe 30 Grad und wir hatten noch zwei zusätzliche Begleiter. Sandra und ihr Freund, der sie gerade in China besuchte, machten auf ihrer Reise ebenfalls einen kurzen Abstecher nach Wuhan und wollten sich mit uns das Wahrzeichen der Stadt ansehen. Wehwehchen hin oder her, der Tower, der zu den sogenannten „Four Great Towers of China“ zählt, wusste mich dennoch zu beeindrucken. Zwar wurde das gute Stück seit der ersten Errichtung im Jahre 223 n.Chr. zahlreiche Male zerstört und neu errichtet, aber selbst Version 10.0 von 1985 strahlte, hoch auf dem Schlangenberg gelegen, einen ehrwürdigen Charme aus.

Der Yellow Crane Tower

Der Yellow Crane Tower

Warum er da oben steht und auf die Hu Bu Xiang, die Tan Hua Lin und den Yangtse hinabschaut? Der Legende nach wohnte in der Nähe vor vielen Jahren einmal ein Wirt namens Xin, der eine Taverne besaß. Eines Tages klopfte ein Mann in zerrissenen Kleidern an seine Tür und bat ihn um ein wenig Alkohol. Ohne ihn zu verurteilen, schenkte Xin dem seltsamen Gast eine Schale Wein und ließ ihn dahinziehen. Von da an kam der Alte täglich zu der Taverne und jedes Mal erhielt er seine Schale Wein ohne Umschweife. Sechs Monate später offenbarte er Xin: „Ich schulde dir viel, aber ich kann dich nicht in Geld bezahlen.“

Daraufhin holte er ein Stück Orangenschale aus seinem Korb und malte einen gelben Kranich an die Wand. „Klatsch in die Hände und der Kranich wird tanzen.“, erklärte er, klatschte selbst in die Hände und der Kranich löste sich tatsächlich von der Wand und begann, zu tanzen. Dieses Wunder machte Xins Taverne im ganzen Land bekannt, sodass er in den folgenden Jahren immer mehr Wohlstand anhäufte.

Als der Alte nach langer Zeit wieder zu Xin zurückkehrte, bot der Wirt ihm an, ihn von nun an für den Rest seines Lebens zu unterstützen. Der Mann hingegen lächelte nur und sagte: „Nicht deshalb bin ich gekommen.“ Er spielte ein paar Töne auf seiner Flöte, woraufhin sich der Kranich ein letztes Mal von der Wand löste und sein Erwecker auf seinem Rücken ins Himmlische Reich entstieg.

Erfüllt von Dankbarkeit über die Taten des Unsterblichen erbaute Xin den ersten Yellow Crane Tower an der Stelle, wo der Kranich zu den Wolken aufgeschwebt war. China-Lektion Nr. 213: es zahlt sich immer aus, jemanden einen auszugeben! Manchmal lernt man dadurch wirklich beeindruckende Persönlichkeiten kennen. Nun ja, ob man deswegen aber vor lauter Freude gleich einen Turm bauen muss, bleibt jedem selbst überlassen.

Da meine Hand und ich nach so viel Turmsteigen und weiteren Ausflügen ein bisschen Unstimmigkeiten über meine körperliche Verfassung hatten, freute ich mich schon besonders auf einen gewissen Punkt auf dem Programm: Fußmassage! Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte ich das selbst in meiner ganzen Zeit in China bisher noch nicht ausprobiert, obwohl sich massenhaft Gelegenheiten hierfür boten. Um unsere erste Fußmassage zu genießen, hatte uns Chang E ein vollkommen vertrauenswürdiges, 24 Stunden geöffnetes Etablissement empfohlen – ein unerwarteter Glücksgriff, wie sich schnell herausstellte.

Für umgerechnet nicht einmal 11 Euro pro Person durften wir uns in einem abgesonderten Zimmer nebeneinander auf vier bequemen Liegen ausstrecken und wurden achtzig Minuten lang, äh, bearbeitet. Dass wir allerdings nicht die sanft Thai-Massage, sondern die medizinische Variante gewählt hatten, fand ich in dem Moment heraus, als ich mir den ersten Schmerzensschrei unterdrücken musste. Weil mir zwischendurch zu allem Überfluss der eine oder andere Lacher herausrutschte, dachte meine arme Masseuse am Ende wahrscheinlich, dass dem Laowai die gute Wuhaner Luft mittlerweile zu Kopf gestiegen war. Trotz allem konnte niemand leugnen, dass wir uns danach durchaus entspannt und gut gedehnt fühlten. Auf die Tipps meines kleinen Dämons war eben Verlass!

Leider ist ebenfalls Verlass darauf, dass auf jedes Wiedersehen ein Abschied folgt. So ließen wir an unserem letzten gemeinsamen Abend drei fliegende Laternen über dem East Lake steigen, überlegten uns im Stillen unsere Wünsche für die Zukunft und schlossen uns am Bahnhof ein letztes Mal in die Arme bis zu unserem nächsten Wiedersehen in Deutschland. Durch den Besuch von Christel, Lukas und Jule hatte ich einerseits ein paar alte Freunde mitten in China getroffen und eine tolle Zeit mit ihnen verbracht – so eine Ehre wird wohl nicht jedem zuteil! Andererseits habe ich auch gemerkt, wie sehr ich mich zwar an das Leben hier gewöhnt habe, aber dass es nach all der Zeit immer noch unglaublich viel Spaß macht.

Danke für die schöne Zeit!

Danke für die schöne Zeit!

2 Gedanken zu „Mr. Kai, Touristenführer – Part 1: Alte Freunde in Wuhan und der Fall des „Prince of the Dark“

  1. Lieber Kai,
    ich sitze gerade und lese deine letzten Berichte bin total faziniert und freue mich dass du soviel erlebst, hoffentlich gefällt es dir später wieder in Old Germany.
    Wir vermissen dich schon, aber dein Bruder füllt die Lücke sehr gut.
    Viele Grüsse vom Schlosscafe
    Monika Dittrich

    • Liebe Frau Dittrich,

      freut mich sehr, dass meine Blogs auch im Schlosscafé gelesen werden und ihr mich noch nicht vergessen habt, obwohl ich schon so lange hier drüben bin! Ich werde mein Leben in Wuhan zwar garantiert sehr vermissen, aber es gibt schon auch gewisse Dinge, auf die ich mich schon sehr freue, wenn ich wieder in die alte Heimat zurückkomme. Ein Erdbeerbecher oder ein Meeting auf der Terasse im Schlosscafé zum Beispiel :).

      Liebe Grüße an alle!

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