Quer durch China Part 5: Guangzhou im freien Fall

Das Schicksal bescherte uns einen glücklichen Einstieg ins Jahr der Schlange. Wider Erwarten wurden wir am Zoll in Shenzhen nicht von den Menschenmassen konfrontiert, die in Macau über die Grenze wollten. Innerhalb weniger Minuten waren wir wieder zurück in Festlandchina und hasteten weiter zum nächsten Ticketschalter – sicherlich eine Wohltat für die Blasen an den Füßen, die sich Sandra vom vielen Sightseeing zugezogen hatte. Doch die Tortur lohnte sich. Anstatt in Shenzhen festzustecken, saßen wir tatsächlich zehn Minuten vor Abfahrt etwas verschwitzt, aber heilfroh im Softseater-Abteil des letzten Zugs in Sandras Heimatstadt. Ein bisschen Nervenkitzel darf eben bei keiner Zugfahrt fehlen.

Kirschblüten und rote Lampions

Kirschblüten und rote Lampions

Von diesem erholten wir uns ausgiebig am Morgen des einzigen Tages, den wir vollständig im schönen Guangzhou verbringen würden. Nachdem uns Sandra netterweise in ihrer Wohnung beherbergt hatte, brachen wir zum Orchideen-Park auf. Orchideen in Februar? Ist das nicht ein bisschen zu früh für solch empfindliche Pflanzen? Im Gegenteil. Guangzhou glänzt ganzjährig mit einigermaßen südländischen Temperaturen und so glücklicherweise schien für uns sogar die Sonne. Um genau zu sein, hätten wir vermutlich keinen besseren Zeitpunkt wählen können, um dem Park einen Besuch abzustatten. Abgeschottet vom Lärm der Straße entdeckten wir hier ein richtiges kleines Paradies. In den teilweise bereits in voller Blüte stehenden Bäumen wiegten sich noch zahlreiche Stränge von roten Frühlingsfest-Lampions im leichten Wind wie exotische, zum Grün der Umgebung kontrastierende Früchte.

Tempeltänzer-Orchideen

Tempeltänzer-Orchideen

Aus Astgabelungen hingen schwer die vollen, grazilen Blütenstände von Tempeltänzerinnen herunter und in den kleinen Gewächshäusern wurde uns ein wahres Feuerwerk an Farben geboten – eines, das im Gegensatz zum Feuerwerk in Hongkong nicht für Stunden die Luft verpestete. Handtellergroße Blütenkelche, die riesigen, bewegungslosen Schmetterlingen in allen Abstufungen des Prismen-Spektrums glichen, versetzten selbst die Besucher ohne grünen Daumen in Staunen. Faszinierend, welche Höchstleistungen die Natur hervorbringen konnte, auch wenn man ihr hier und da zugegebenermaßen nachgeholfen hatte.

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Teezeremonie im Orchideen-Garten

Teezeremonie im Orchideen-Garten

Der perfekte Ort, um endlich einmal eine Teezeremonie zu wagen. Zwischen kleinen Teichen, geschwungenen Brücken und Kirschbäumen stießen wir auf ein kleines Teehaus, wo wir das Experiment „genussvoll Tee schlürfen“ wagten. Zwar hatten wir die etwas günstigere Variante gewählt, aber nichtsdestotrotz wurden uns geradezu meditative Momente beschert, als wir hypnotisiert dabei zusahen, wie eine der Tee-Ladys unseren dampfenden Aufguss zubereitete. Tee genießt im Reich der Mitte seit jeher einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Das Nationalgetränk der Chinesen ist hier mehr als nur Durstlöscher, sondern richtig aufgebrüht einer der erlesensten Genüsse auf Erden. Dementsprechend gilt die Teezeremonie als hohe Kunstform, deren Meisterung viel Übung und Präzision erfordert.

Das hinderte uns natürlich nicht daran, das Ganze nach genauem Beobachten ebenfalls auszuprobieren, was sich dann folgendermaßen gestaltete (Ich kann mir einfach nicht helfen – ich schreibe einfach gerne Gebrauchsanweisungen. Vielleicht sollte ich irgendwann Gebrauchsanweisungen-Übersetzer für eine chinesische Firma werden.):

  1. Regel Nr. 1: Die Zeremonie-Teilnehmer nie mit diesem Gesichtsaudruck bedienen!

    Regel Nr. 1: Die Zeremonie-Teilnehmer nie mit diesem Gesichtsausdruck bedienen!

    Man nehme eine Kanne mit heißem Wasser und schwenke damit erst einmal alle Utensilien aus (das verbrauchte Wasser kann dabei einfach in das Gitter des Tabletts gegossen werden). Für alle Schritte gilt gleichermaßen, möglichst fließende, nicht ruckartige Bewegungen auszuführen, um größtmögliche Entspannung zu gewährleisten.

  2. Man fülle einen Becher mit möglichst hochwertigen Blättern und gieße ihn mit heißem Wasser auf.
  3. Man verschließe den Becher mit einem Deckel und hebe ihn vorsichtig an.
  4. Man verbrenne sich erst mal ordentlich die Finger am glühenden Porzellan und verkneife sich tunlichst, die Zeremonie-Teilnehmer durch sinnlose Schmerzensschreie zu verwirren.
  5. Man schütte den ersten Aufguss ins Teegitter, der ist nämlich viel zu bitter.
  6. Man wiederhole Schritt 3 und gieße den Inhalt des Bechers in ein kleines Kännchen, ohne dabei die Hälfte des mühevoll zubereiteten Aufgusses zu verschütten.
  7. Man fülle die winzigen Tässchen der sich mittlerweile in tiefer Meditation befindenden Zeremonie-Teilnehmer und reiche sie ihnen demütig mit beiden Händen.
  8. Man lasse sich nicht vom lautstarken Schlürfen der Genießenden stören. Der durch das Schlürfen eingesogene Sauerstoff verstärkt das Aroma des Tees und damit den Genuss!
  9. Herzlichen Glückwunsch – wer es schafft, Schritt 4 beim nächsten Versuch zu überspringen, hat sicherlich ein mindestens ein Zehntel aller Dinge richtig gemacht, die es bei einer Teezeremonie zu beachten gibt.
Der Guangzhou TV Tower

Der Guangzhou TV Tower

Als wir uns alle mehrmals an 9 Schritten zum erfolgreichen Teegenuss geübt hatten, fühlte ich mindestens so entspannt wie nach dem Schlammbad in der Höhle des Goldenen Wassers. Höchste Zeit, meinen Puls zu neuen Höchstleistungen anzutreiben. Ein ums andere Mal wollten wir hoch hinaus – auf das vierthöchste freistehende Gebäude der Welt. Dieses präsentierte sich uns in Form des Fernsehturms von Guangzhou, der durch die Verjüngung zur Mitte hin ein bisschen aussieht wie eine gigantische, in die Länge gezogene Sanduhr. Ungemein modisch wirken dabei die rein weißen Stahlstreben die sich korkenzieherartig um den Kern des Turms winden und der gesamten Konstruktion einen schwungvollen, lebendigen Charakter verleihen.

Der Tower auf dem Tower

Der Tower auf dem Tower

Mit dem Hochgeschwindigkeits-Aufzug rasten diese Stahlstreben wenig später schwindelerregend schnell vor unseren Augen vorbei und innerhalb von nicht einmal zwei Minuten fanden wir uns plötzlich 450 Meter über dem Erdboden wieder. Und dort oben konnte der Spaß erst richtig beginnen – wobei ich mir anfangs nicht ganz sicher war, ob man das, was ich mir am Eintrittskarten-Schalter eingebrockt hatte, wirklich Spaß nennen konnte. Mit einem ziemlich mulmigen Gefühl im Bauch verabschiedete ich mich auf der verglasten Panorama-Etage von meinen treuen Reise-Kumpanen und stieg hinaus aufs Dach des Fernsehturms. Hier erwartete mich verheißungsvoll der „Mega Drop“, der höchste Freefall-Tower der Welt. Wollte ich mir das wirklich antun? Pech gehabt, jetzt gab es kein Zurück mehr. Offenbar hatte an diesem Tag niemand sonst das Verlangen nach einer vollen Adrenalin-Dröhnung und so musste ich mich ein wenig einsam in eine der recht engen Sitzschalen quetschen. Grinsend ließ einer der Mitarbeiter den Sicherheitsbügel herunter und drückte mit noch breiterem Grinsen im Gesicht auf das rote Knöpfchen. „Have fun!“

Dieses Lachen würde mir gleich vergehen!

Dieses Lachen würde mir gleich vergehen!

In angenehm gemäßigten Tempo schraubte sich die Kabine auf eine Höhe von 484 Metern. Für ein paar kurze, angespannte Sekunden genoss ich den wohl bombastischsten Ausblick über Guangzhou schlechthin. Am Horizont versank glühend die Abendsonne und die Lichter der gigantischen Metropole flackerten stetig wie Sterne am Boden auf. Ich hing in der Schwebe über einer der größten Städte Chinas- frei und gefangen zur gleichen Zeit. Das durfte ruhig noch eine Weile so andauern. Tat es aber nicht. Plötzlich – Adrenalinstoß. Alle Verankerungen hatten sich mit einem Mal gelöst und der Boden raste ohne jeglichen Halt auf mich zu. Das war dann wohl das Ende meiner Reise, dachte ich für den Bruchteil einer Sekunde, bevor die mächtigen Magnete einsetzten und den freien Fall bremsten. Als die Zuschauertraube auf der Plattform lustigerweise zu klatschen begann, mutmaßte ich schon, dass ich das Ganze überstanden hatte. Fehlanzeige. Der Mitarbeiter, der sich gerade sicherlich köstlich amüsierte, führte mich einmal um den Freefall-Tower herum – auf der anderen Seite gab es nämlich noch ein zweites Exemplar davon. Schließlich hatte ich bei der ersten Fahrt nur die Hälfte der Stadt gesehen.

Guangzhou im letzten Sonnenlicht

Guangzhou im letzten Sonnenlicht

Wunderbar, es ging also fröhlich weiter, allerdings in verschärfter Version, damit es nicht langweilig wurde. Als ich zum zweiten Mal nach oben gezogen wurde, baumelten meine Füße frei in der Luft. Genial. Der Wind pfiff mir gehörig um die Ohren, ich streckte die Arme aus – und auf einmal kippte die gesamte Kabine nach vorne und ich sah direkt zur weit entfernten Erde hinunter. Es blieb einem einfach nichts anderes übrig, als laut zu schreien. Nur Fliegen ist schöner – und vielleicht Achterbahnfahren. Das Adrenalin in meinem Blut würde wohl noch für den Rest meiner Reise reichen, aber das hatte sich definitiv gelohnt.

Eine Wunderlampe

Eine Wunderlampe

Mit wackeligen Knien traf ich eine Etage tiefer wieder auf Simon und eine wissend lächelnde Sandra, die diesen Trip bereits vor längerer Zeit überstanden hatte.  Weil man ja einfach nie genug Nervenkitzel bekommen kann, traten wir schließlich noch zusammen hinaus auf die Glasboden-Plattform und fuhren hinunter zum festen Boden. In der Zwischenzeit war die Dunkelheit vollends über Guangzhou hereingebrochen und als wir den Fernsehturm verließen, erstrahlte dieser in allen Regenbogentönen. Auf einem großen Platz auf der anderen Seite des Flusses beobachteten wir schließlich, wie der Tower von Wasserfontänen begleitet eine geradezu psychedelische Lasershow veranstaltete. Wer braucht schon gewisse bewusstseinserweiternde Substanzen, wenn man sich auch einfach eine chinesische Stadt bei Nacht ansehen kann! So viel wie an diesem Tag hatten die Farbzäpfchen in meiner Netzhaut wohl noch nie arbeiten müssen. Auch wenn wir nur auf einen kurzen Besuch vorbeigekommen waren, wird mir Guangzhou wohl als Chinas bunteste Stadt in Erinnerung bleiben!

Fahrspaß garantiert!

Fahrspaß garantiert!

Mit dem Versprechen, uns bald wiederzutreffen, verabschiedeten Simon und ich uns am darauf folgenden Vormittag von Sandra und traten den bisher kräftezehrendsten Teil unserer Reise an. 26 Stunden Sitzen von Guangzhou nach Kunming im Hardseater-Abteil eines Bummelzugs durch ganz China. Warum wir nicht einfach ein Bett im Schlafabteil genommen hatten? Ganz einfach, diese Aktion sollte eine Art Selbsttest sein für ein Kulturweit-Projekt sein, das wir gegen Ende unseres China-Aufenthalts anstreben.  Und mal ehrlich, wie anstrengend konnten die paar Stündchen Sitzen schon sein? Das würden wir schon irgendwie überstehen. Leider hatten wir die Rechnung mal wieder ohne unsere geschätzten Mitreisenden gemacht. Derer gab es nämlich massenweise, weil alles nach dem Frühlingsfest wieder zurück in die Heimatstädte strömte. So war die Hoffnung auf ein Plätzchen, um die Füße hochzulegen, schnell dahin, denn freie Sitze existierten nicht. Überhaupt schien es um meine Füße ziemlich schlecht bestellt zu sein. Jegliche Beinfreiheit wurde mir nämlich durch die riesigen Taschen der vier anderen Reisenden genommen, die sich mit Simon und mir das Abteil teilten.

Wie wir schnell feststellten, waren jene Taschen bis obenhin mit Proviant gefüllt. Wann zum Geier wollten die das alles essen? Offenbar bis zum Ende der Fahrt, denn kaum hatten wir den Bahnhof verlassen, brach eine bis in die späten Abendstunden anhaltende Fressorgie aus. Man brühte sich eine Tütensuppe nach der anderen auf, verdrückte haufenweise der (meiner Meinung nach unglaublich abartigen) abgepackten Würstchen undräumte den stetig vorbeirollenden Speisewagen leer. Nun ja, zugegenermaßen ist Essen aber auch der beste Zeitvertreib, den man auf einer so langen Fahrt finden kann. Als die Akkus unserer Laptops aufgebraucht waren, machten auch wir uns über unsere hochwertigen Instant-Nudeln her, deren Genuss vermutlich auf Dauer hübsche Magengeschwüre verursacht.

Mit der Zeit füllte den Wagon ein anregendes Gemisch aus den verschiedensten Tütensuppen-Aromen, zu dem sich der Qualm von den Rauchern gesellte, die sich lässig an das Rauchverbots-Schild lehnten. Weil es sich dabei mitunter um die Angestellten selbst handelte, wurde der stetigen Einräucherung des Zugs leider auch kein Einhalt geboten, doch daran gewöhnte man sich immerhin schnell. Während wir durch die Dämmerung zuckelten und draußen in den kleineren Städten stetig kleine Feuerwerke im schwindenden Tageslicht aufleuchteten, zockten unsere Mitfahrer immer leidenschaftlicher um immer größere Geldbeträge. Die hätten in Macau sicher einen Mords-Spaß gehabt, dachte ich mir, während ich meines zweites Süppchen aufgoss und etwas besorgt beobachtete, wie sich ein älterer Herr mit einem langen Metallstab von seinem Schlüsselbund beunruhigend tief im Ohr herumrührte.

Bisher war das Ganze ja noch ganz amüsant gewesen. Richtig lustig wurde es allerdings erst, als wir mit dem Gedanken spielten, langsam zu schlafen. Leider wollte einfach niemand das Licht dimmen, doch immerhin schaltete man irgendwann die auf Dauer recht nervtötende musikalische Untermalung aus. Dafür, dass trotzdem bloß keine Ruhe einkehrte, sorgten einige Fahrgäste großzügerweise selbst. Damit man nur nicht auf die Idee käme, für einen Moment wegzunicken, marschierte eine (in meinen Augen leicht geistesgestörte) junge Dame alle zehn Minuten mit starrem, düsteren Gesichtsausdruck einmal durch den gesamten Zug und ließ grauenvolle chinesische Techno-Hymnen erschallen. Kurze Zeit, nachdem die Bahnbeamten ihr einige Stunden später Einhalt geboten hatten, kam hinter uns ein anderer Schlaukopf auf die glorreiche Idee, bei voller Lautstärke ein bescheuertes Computerspiel zu spielen. Ernsthaft jetzt?

Neben dieser netten Dauerbeschallung entwickelte es sich auf Dauer zu einer kleinen Herausforderung, eine angenehme Schlaf-Haltung zu finden, da man sich einfach nicht zur Seite lehnen konnte. Mein Gegenüber löste das einfach besonders intelligent, indem er sich direkt vor mir auf den kleinen Zwischenraum zwischen den Sitzen legte – natürlich nicht auf den Gang, weil da ständig ein Putzmann vorbeifegte. Mit dauerhaft eingezogenen Füßen erwachte in mir ehrlich gesagt nach einiger Zeit das beinahe unwiderstehliche Bedürfnis, diesem unglaublich rücksichtsvollen Mongo ordentlich in den Hintern zu treten, den er mir so frech entgegenstreckte.

Fast wie in Hohenlohe

Fast wie in Hohenlohe

Die Steinwälder von Yunnan

Die Steinwälder von Yunnan

Als ich es geschafft hatte, dieses Verlangen erfolgreich bis zur Morgendämmerung zu unterdrücken, wurden wir wenigstens mit einer hübschen Aussicht belohnt. Vor dem Fenster zogen blühende Rapsfelder und die faszinierenden Steinwälder vorbei, riesige Ansammlungen von Felsen in den unterschiedlichsten Formen. Bevor wir endlich Kunming, die Hauptstadt der Provinz Yunnan, erreichten, kam schließlich noch, was kommen musste. Die Dame in unserem Abteil hatte so viel gefuttert, dass sie sich ordentlich bergab. Weil sie damit nicht die einzige war, hatte man aber zum Glück mit ausreichend Spuck-Tüten vorgesorgt.

Am frühen Nachmittag stolperten Simon und ich endlich vollkommen gerädert hinaus auf den Bahnsteig. Das Experiment „26 Stunden Sitzen“ war geglückt. Zwar spürte ich meinen Hintern nicht mehr und meine Beine fühlten sich an als hätte man sie angesägt, aber die einigermaßen frische Luft erschien mir gegen das Gasgemisch im Zug auf einmal wie das größte Geschenk überhaupt. Ein bisschen bedrückte mich noch die Rücksichtslosigkeit der Menschen, die uns im Zug begegnet waren, aber dafür erwarteten mich in den folgenden Tagen noch ein Haufen sympathischer Reisebegleiter – und der ungeschlagen beste Teil meiner Reise. Und dafür würde es sich mehr als lohnen, ein bisschen taubes Sitzfleisch riskiert zu haben.