Journey To The East

Quer durch China Part 2: Vom Goldenen Wasser zum Rückgrat des Drachen

Yangshuo von oben

Yangshuo von oben

Bereits während unserem ersten abendlichen Spaziergang durch Yangshuo wurde uns ersichtlich, warum die meisten Reisenden nur einen kurzen Abstecher nach Guilin machen und so schnell wie möglich nach Yangshuo weiterziehen. Das kleine Dörfchen liegt mitten in den zauberhaften Karstbergen der Region, die nun von zahlreichen Baustrahlern fantastisch in Szene gesetzt direkt über den geschwungenen Hausdächern in die Dunkelheit ragten. In der zwar sehr touristischen, aber ganz wunderbar auf traditionell  getrimmten West Street, der Haupt-Fußgängergasse, konnte man seinen Souvenir-Kaufdrang ausleben und überteuerte regionale Spezialitäten probieren. Oder wie in unserem Fall einfach das geschäftige Treiben genießen und die Straßenverkäufer belächeln, die  unermüdlich versuchen, ihre Vogelgesangs-Pfeifen zu verkaufen. Vielleicht hätte man sie darauf hinweisen sollen, dass es wenig effizient ist, potenziellen Kunden mit einem Instrument in die Ohren zu tröten, die klingt wie R2D2 im Stimmbruch.

Idylle am Straßenrand

Da es außer der West Street in Yangshuo nicht viel zu erleben gab, schnappten wir uns alsbald ein paar Fahrräder und erkundeten, verstärkt durch die nette deutsche Praktikantin Lisie, die Umgebung. Anstatt die Karstberge rauf- und runter zu radeln, hielten wir uns bescheiden an kleine Sträßchen, die uns von Dorf zu Dorf führten. Der Fahrtwind trug den frischen, klaren Duft des nahenden Frühlings mit sich und befreite unsere Lungen vom winterlichen Wuhaner Smog. Immer wieder kreuzte sich unser Weg mit dem Flüsschen, auf dem wir am vorigen Tag ungemein modische Brautpaare bewundern durften. Auf dem Weg begegneten uns immer wieder freundlich winkende Menschen, durch die Gassen tollende Kinder und gelassen an den unmöglichsten Orten herumstolzierende Hühner, die von einer Legebatterie sicherlich noch nie gehört hatten.

Obwohl wir mittlerweile so einige hübsche Felshaufen gesehen hatten, wurden wir doch immer wieder aufs Neue überrascht, bis wir schließlich sogar auf ein paar hochinteressante, von Menschenhand geformte Steinklötze stießen. An einen sonnengefluteten Hang außerhalb einer kleinen Siedlung  klammerten sich  vergilbte, mit eingemeißelten Schriftzeichen versehene Felsblöcke, die in halbrunde Mauern eingelassen waren. Als wir neugierig von unseren Fahrrädern gestiegen waren, stellten wir fest, dass es uns auf einen alten chinesischen Friedhof verschlagen hatte! Ehrfürchtig sahen wir uns um, schritten zwischen den Gruft-Eingängen hindurch und stolperten über erloschene Feuerstellen und die Überreste von Chinaböllern. Feuerstellen und Chinaböller? Ein Friedhof schien nun wirklich nicht gerade der geeignetste Ort zu sein, um eine Grillparty zu veranstalten!

Chinesischer Friedhof

Was war hier wohl passiert? Die Antwort darauf verbirgt sich im chinesischen Beerdigungsritual. Die Traditionen unterscheiden sich von Region zu Region und wurden vor allem von Konfuzianismus und Buddhismus beeinflusst. Unter Umständen kann es bis zu hundert Tagen dauern, bis eine Zeremonie vollständig abgeschlossen ist. Heutzutage geschieht das aus nachvollziehbaren Zeit- und Geldersparnisgründen nur noch selten. Stirbt ein Familienmitglied, werden die Verwandten zum Beerdigungsort eingeladen. Die Gäste tragen dafür anders als bei uns nicht nur ausschließlich schwarz, aber düstere, wenig beschwingte Farben. Ein wirklicher Dresscode existiert nicht mehr, allerdings sollte man den Toten nicht gerade in roter Sterbekleidung aufbahren, da er sich sonst in einen Geist verwandelt.

Üblicherweise knien die Trauernden während dem Ritual vor dem Sarg nieder und weinen und klagen lautstark, um den Verstorbenen zu ehren. Je wichtiger und großartiger der Verschiedene war (und je mehr Geld er im Diesseits zurückgelassen hat), desto lauter wird geklagt. Oft werden auch professionelle „Kläger“ eingeladen, die durch ihr Klagen zu einer bedrückten Atmosphäre beitragen und so das Bewusstsein um den erlittenen Verlust verstärken.

Anschließend läuft die Trauergemeinde mit dem Sarg vom Zeremonialgebäude zum Friedhof, begleitet von einer Kapelle, die mit ihrer ohrenbetäubenden Musik böse Geister vertreibt. Je höher der Tote begraben wird, desto leichter wird es ihm fallen, ins Jenseits überzutreten. Deshalb liegen die meisten Friedhöfe an Hügeln. Hier zündet man Feuerwerkskörper an, um die Dämonen auf Distanz zu halten und verbrennt „Totengeld“ und Papiernachbildungen von wertvollen Gegenständen wie Autos, Häuser und sogar Fernseher. Der Verstorbene soll es auf seiner Reise eben so angenehm wie möglich haben und ein Fernseher im Warteraum vor dem letzten Gericht kann ja nicht schaden.

Wie es danach für den Toten weitergeht? Laut meiner zuverlässigsten Quelle für Allgemeinwissen über China, Chang E, gelangt der Verschiedene durch den Nebel zu einer Brücke. Auf dieser erwartet ihn eine alte Frau, die ihm eine Schale mit Suppe reicht. Trinkt er diese Schale, vergisst er alle Erfahrungen, Erlebnisse und Erinnerungen aus dem letzten Leben. Erst dann darf er auf der Brücke voranschreiten und als unbeschriebenes Blatt in ein neues Leben übergehen.

Wer bei der heutigen Was-Sie-schon-immer-über-China-wissen-wollten-aber-noch-nie-darüber-nachgedacht-haben-Stunde gut aufgepasst hat, weiß jetzt also, dass eben keine Grillparty auf dem Friedhof stattgefunden hat. Weil sich unsere Lust, dort zu dinieren, ebenfalls eher in Grenzen hielt, kehrten wir nach unserer kleinen Expedition wieder zu unseren Fahrrädern zurück und setzten unsere Tour fort. Trotz des durch ständiges Fotografieren eher gemäßigten Tempos erreichten wir irgendwann das Dorf, das wir mit KFC besucht hatten. Auch heute fehlte wie erwartet jede Spur von Seidenbällen, dafür jedoch verwies ein verlockendes Straßenschild nach „Shangri-La“, was ungefähr mit „Garten Eden“ gleichzusetzen ist. Zwar war die Zeit bereits ein wenig fortgeschritten, aber einen Abstecher ins Paradies konnten wir uns wirklich nicht entgehen lassen. Also folgten wir einer unglaublich langweiligen Hauptstraße, bis wir endlich vor den Toren des Garten Eden standen. Dummerweise verlangte man für die vermutlich sehr hübsch angelegte Parkanlage einen weniger paradiesischen Eintrittspreis, sodass wir unverrichteter Dinge von dannen zogen. Dies würde allerdings nicht das letzte Shangri-La bleiben, dass ich auf meiner Reise besuchte, doch bis ich das nächste Mal die Schwelle zum Paradies überschritt, sollte es noch eine ganze Weile dauern.

Die darauf folgende Rückfahrt verwandelte sich in dem Moment zu einem Höllen-Ritt, in dem ich feststellte, dass das linke Pedal meines Fahrrads plötzlich zehn Meter hinter mir auf der Straße lag. Da war wohl eine Schraube locker! So ein Mist, warum musste das ausgerechnet genau am Wendepunkt der Ausfahrt passieren? Selbst als ich das Pedal wieder notdürftig anmontiert hatte, wiederholte sich das Debakel alle zweihundert Meter, was meine Motivation nicht gerade förderte. Bei dem Tempo würden wir ja nie in Yangshuo ankommen!

Zum Glück fanden wir wenigstens immer wieder ein paar nette und hilfsbereite Mechaniker, die ihr Bestes gaben, um das eigenwillige Pedal festzuzurren. Da sowohl die Schraube als auch deren Einfassung im Pedal derart abgenutzt waren, kamen wir leider selbst mit professioneller Unterstützung nie weiter als fünfhundert Meter. Einen Bus zu nehmen kam ebenfalls nicht in Frage, weil die selbst ohne ein Reparaturbedürftiges Fahrrad überquollen. Da die Dämmerung bald einsetzte, entschieden wir uns dafür, den kürzesten Weg, nämlich die Hauptstraße, einzuschlagen. Nach einiger Zeit löste sich die Schraube von Neuem Stück für Stück, was die Fahrt ähnlich unkontrollierbar machte wie ein Ritt auf einem Wasserbüffel – wenig beruhigend, wenn man sich die Straße mit rauchspuckenden Lastwagen und Bussen teilt. Trotz dass David und ich uns mit dem störrischen Drahtesel abwechselten, verließen uns allmählich die Kräfte.

Doch siehe da, kurz bevor die Sonne endgültig hinter den Karstbergen versank, rollten wir schweißgebadet am Ortsschild von Yangshuo vorbei – sodass mein Rad bedenkenlos ein letztes Mal den Geist aufgeben konnte. Als ich schließlich mit einer Schraube in der einen und einem Pedal in der anderen Hand durch die Tür unseres Hostels schritt, eröffneten uns die netten Mitarbeiter zur Feier des Tages, dass wir doch einfach hätten anrufen können, dann hätte uns umgehend jemand mit einem neuen Fahrrad ausgestattet. Gut zu wissen.

Flussschnecken aus dem Li River

Als Belohnung für die überstandenen Strapazen wollten wir uns in der West Street eine ordentliche Stärkung gönnen. Dass ich mit einem Teller voller lokaler Flussschnecken nicht unbedingt die richtige Wahl traf, hätte ich mir vielleicht gleich denken können. Allerdings hatte ich vor einiger Zeit herausgefunden, dass die vermeintlichen Schnecken, die ich bei meinem ersten Besuch in der Hu Bu Xiang gegessen hatte, in Wahrheit Teile eines Ochsenfroschs waren und so musste ich das der Vollständigkeit halber einfach ausprobieren. Mit einem Zahnstocher bewaffnet versuchte ich, eine gekochte Schnecke nach der anderen aus ihrem gedrehten Häuschen zu locken. Hmm, lecker, schmeckte noch schleimiger als Seidenraupen! Aber warum starrte mich dieser Chinese neben mir die ganze Zeit so besorgt an? Egal, wahrscheinlich stellte ich mich einfach nur ein bisschen ungeschickt an. Oder auch nicht. „Don’t eat the black part of the snail – it’s snail shit!“ Tja, da wär mir die mittlerweile zehnte Schnecke fast im Hals stecken geblieben. Dreiundzwanzig rechtzeitig abgebissene, Knoblauch-lastige Fleischportiönchen später fühlte ich mich zwar wenig gesättigt, aber ein wenig wie als hätte ich einmal ordentlich mit der Zunge über den Grund des Li Rivers geschleckt.

Waschgang am Ufer des Li Rivers

Unsere vergangenen Erlebnisse hielten Lisie, Flo, David und mich nicht davon ab, noch eine zweite Radtour zu wagen. Dieses Mal in die entgegengesetzte Richtung  – und selbstverständlich auf anderen Fahrrädern. Dummerweise war unsere neue Route geprägt von unerwarteten Weggabelungen, sodass wir in jedem Dörfchen geschätzte zwanzig Sackgassen und Hinterhöfen einen Kurzbesuch abstatteten, bevor uns hilfsbereite Hausbesitzer wieder zurück auf den rechten Weg lotsten. Doch Sackgassen müssen nicht immer bedeuten, dass man falsch abgebogen ist – denn manche davon erwiesen sich als durchaus sehenswert. So landeten wir unverhofft am Ufer des Li-Rivers, an dem zwei Frauen im klaren Wasser ihre Kleider schrubbten und ein Mann sein kleines Söhnchen mit dem nassen Element vertraut machte. Hier begegneten wir darüber hinaus den einzigen Touristen, die an dem Tag ebenfalls beschlossen hatten, aufs Rad zu steigen. Dem älteren englischen Ehepaar und ihrem chinesischen Guide sollten wir an diesem Tag noch öfters über den Weg radeln.

Knollenernte

Mein Bester

Zwischen den Siedlungen erwarteten uns weitläufige Felder, die zwar recht brachliegend wirkten, aber offensichtlich irgendetwas Ausgrabungswürdiges bargen. Überall knieten nämlich Bauern dicht über dem Boden und buddelten seltsame, undefinierbare Objekte aus. Ich vergaß jedoch bald, mir darüber weiter Gedanken zu machen, weil ich zu meiner Freude doch tatsächlich eine unbeobachtete, friedlich in der Pampa grasende Wasserbüffel-Familie entdeckte. Die mussten natürlich sofort aus der Nähe untersucht werden. Ein bisschen idiotisch ist es vielleicht schon, sich so für einen Haufen Paarhufer zu interessieren, vor allem wenn man sich umgekehrt vorstellt, wie sich ein Tourist in Deutschland über eine Milchkuh freut, als hätte er gerade das letzte Einhorn gefunden. Naja, da konnte man mir wohl einfach nicht helfen.

Passend zu unseren knurrenden Mägen verschlug es uns am frühen Nachmittag mal wieder in eine hübsche Sackgasse am Flussufer, die praktischerweise mit dem einzigen Restaurant weit und breit ausgestattet war. Dort klärten sich gleich zwei kulinarische Mysterien auf. Einerseits kroch mir plötzlich ein wohlbekannter, süßlich-würziger Duft in die Nase. Nach einigem Herumschnüffeln wusste ich auch, wovon der wohl ausging: den gepökelten Fleischstücken, die an einer Leine aufgehängt in der frischen Luft trockneten. Das war also die traditionelle Leckerei, mit der Tante Tao tagelang die Luft im Wohnheim zum Stehen gebracht hatte. Irgendwann musste ich die wohl noch kosten – aber nicht heute.

Trockenfleisch fürs Frühlingsfest

Anstelle dessen trafen wir hier unverhofft das englische Ehepaar mit ihrem Guide, die ebenfalls nach einer Stärkung suchten. Während wir gespannt auf unser Mittagessen warteten, kamen wir mit den dreien ins Gespräch und stellten fest, dass die ältere Dame sogar Deutsch sprechen konnte, weil ihre Mutter aus Deutschland kam. Viel beeindruckender fand ich allerdings, dass die beiden in ihrem fortgeschrittenen Alter immer noch fast jedes Jahr nach China reisen und dort ganz wunderbar zurechtkommen. So einen Abenteuergeist sollte man sich bewahren! Die nette Lady wusste nämlich so einiges über ihre Reisen zu berichten, worüber wir nur staunen konnten. Harold hingegen, ein Großvater wie er im Buche steht, mit weißem Vollbart, großen Brillengläsern und gutmütigen, wissenden Augen, überließ lieber seiner kommunikativen Angetrauten das Wort und schälte seelenruhig irgendwelche braunen Schabutzkis. Was war das wohl? „Water Chestnuts“ – scheinbar etwas, das man in England sehr gerne isst – und ebenjene Feldfrüchte, die die Bauern in der Umgebung gerade überall ausbuddelten.

My Preciousss!

Nachdem Opi uns der Reihe nach eine wässrig mundende Wasser-Kastanie ausgeteilt und wir uns satt gegessen hatten, verabschiedeten wir uns von dem goldigen Paar und brachen auf zum nächsten Hinterhof. Hier stolperten wir gewissermaßen über einen im Uferdickicht versteckten Opfertempel und eine hübsche kleine Höhle, in der sich Gollum sicher wie zuhause fühlen würde. Es hätte so schön weitergehen können – wäre Lisie nicht im Matsch ausgerutscht. Resultat: unfreiwilliges Schlammbad für Lisie samt Kleidung und Kamera futsch – und das an ihrem letzten Tag! Irgendwas musste auf unseren Radtouren einfach schiefgehen!

Wenigstens erreichten wir Yangshuo am Abend mit allen Pedalen dort, wo sie hingehörten – ein schwacher Trost für die arme Lisie. Zur Erheiterung trafen wir uns mit einem der lustigen Hostel-Mitarbeiter auf der Dachterrasse des Hostels, um ein paar Bierchen in der Abenddämmerung zu genießen. Unter den dramatisch angeleuchteten Bergwänden und dem hell scheinenden Mond vergaßen wir beinahe die Verluste des Tages und lachten über die Geschichten, die Mr. Mongo über ehemalige Hotelgäste zu erzählen wusste (dieser Spitzname soll keinesfalls rassistisch sein – der Gute interessierte sich einfach ungemein für deutsche Schimpfworte. Und Mongo entwickelte sich recht schnell zu seinem Favoriten…). Als romantischen Abschluss unseres Rooftop-Meetings kramte Mr. Mongo zwei Kung Ming Deng, fliegende Lampions, hervor, die wir in den Nachthimmel steigen ließen. Nach dem missratenen Experiment am Yangtse-Ufer während der goldenen Woche stand ich diesen Dingern ein wenig skeptisch gegenüber, doch unter professioneller Anleitung entschwebten die Laternen tatsächlich aus unseren Händen. So sahen wir zu, wie die rot glühenden Lichter zu den Sternen aufstiegen, im Stillen wünschend, dass die Reise in Zukunft ohne Unfälle weiterging.

Am nächsten Morgen gingen David, Flo und ich auf eine weitere Runde Spelunking – und jene zweite Runde barg so einige Special-Features, bei der die Reed Flute Cave in Guilin nicht mithalten konnte. Von einem kleinen Bus ließen wir uns irgendwo in der Nähe des Dorfes abliefern, um gleich am Eingang der Gold Water Cave festzustellen, dass wir die einzigen Gäste waren – und blieben. Folglich erhielten wir unseren ganz persönlichen Höhlen-Guide, der uns mit seiner geradezu hypnotischen Stimme durch das Tropfstein-Wunderland führte. Besonders in der obligatorischen knallbunten Beleuchtung erschienen manche der grazilen, feingliedrigen Steingebilde wie surrealistische Kunstwerke, bei denen die verschiedensten Zufallstechniken souverän angewendet worden waren. Max Ernst wäre angesichts der beinahe fleischigen, organisch wirkenden Steinranken, Pilze und Flechten sicher vor Neid erblasst (spätestens nachdem er die Stalagtiten passiert hätte, die verdächtig aussahen wie weibliche Rundungen). Tja, die Natur ist eben selbst der größte Künstler!

Der Thronsaal des Drachenkönigs

Tiefer in der Höhle fanden wir eine Kammer, die wohl den Thronsaal des Drachenkönigs darstellte, der in der Reed Flute Cave seinen Kristallpalast besaß. Vor dem Hintergrund fantastischer steinerner Kaskaden wuchs aus der Mitte des Raums ein mächtiger, natürlicher Thron aus Kalkstein empor, der wahrhaft royalste Ort, um seinen Hintern zu betten, den ich je gesehen habe.

Das beste Feature der Höhle folgte allerdings erst unmittelbar danach – und zwar in Form des namengebenden goldenen Wassers. Mit dem Wort „golden“ hatte man wohl ein bisschen übertrieben, denn dahinter verbarg sich nämlich nichts anderes als ein unterirdischer See aus Schlamm – aber so ein Schlammbad soll ja bekanntlich Gold wert sein (wenn man dabei nicht seinen Fotoapparat zerstört). Die Infotafel verriet jedenfalls, dass der wertvolle Matsch Vitamine, Mineralien und Aminosäuren enthält, die der Körper aufnimmt, nebenbei Falten reduziert und den Alterungszyklus der Haut verlangsamt, vor Hautkrankheiten schützt und die körperliche Fitness verbessert. Dreck, der reinigt – was für ein sensationelles Paradoxon! Wer braucht da noch teure Anti-Aging-Cremes, wenn man auch einfach in ein Schlammloch springen kann – eine perfekte Ausrede, um mal wieder wie ein Kind im Dreck zu spielen!

Also nichts wie in die vorsorglich mitgebrachten Badehosen und rein ins Kinderparadies! Nachdem der erste Kälteschock überwunden war, konnte die private Schlammschlacht starten. Als einzige Partygäste schlitterten wir die Schlamm-Rutsche hinunter, bemalten unsere Gesichter mit bronzefarbener Kriegsbemalung und ließen uns einfach wie im toten Meer treiben – man fühlte sich beinahe schwerelos. Wenn man allerdings nicht ständig in Bewegung blieb, begann der Schlamm, auf der Haut auszuhärten, was uns leicht beunruhigte. Waren wir wohl nur deshalb die einzigen Gäste, weil in der nächsten Kammer eine Armee erstarrter Schlammkrieger errichtet wurde? So entschlossen wir uns nach einer halben Stunde nachgeholter Kindheit, den Matsch lieber wieder abzuspülen. Leichter gesagt als getan! Aus den ebenfalls in der Höhle installierten Duschhähnen quoll eiskaltes Wasser, dem wir uns eine halbe Ewigkeit aussetzen mussten, bis wieder ein Flecken Haut zum Vorschein kam.

Tatsächlich fühlte ich mich danach geradezu porentief rein – draußen an der frischen Luft hätte ich dank dieser Intensiv-Therapie garantiert wie Edward in der Sonne geglänzt. Lediglich meine Badehose wird wohl für immer so aussehen, wie als hätte ihr Träger mit chronischer, explosiver Diarrhö zu kämpfen.

Doch unser Unter-Tage-Wellness-Programm war noch nicht zu Ende. In der nächsten Kammer erwarteten uns anstatt einer Schlammkrieger-Armee steinerne Becken, die von heißen Quellen gespeist wurden. Dass ein Matsch-See, Tropfsteine und heiße Quellen zufällig alle in einer einzigen Höhle direkt aufeinander folgen, erschien uns doch ein kleines bisschen unwahrscheinlich, aber angesichts der soeben überstandenen eisigen Dusche fühlte es sich himmlisch an, ins dampfende Bad zu gleiten und sich die nächsten fünfzehn Minuten nicht mehr zu bewegen.

Diese Tropfsteine hätten Louise Bourgeois sicher gefallen! Destruction of the Father – Rock Hard Version

Schlamm-Krieger

Durch so viel Wärme, Energie und Mineralstoffe fühlten wir uns zurück am Tageslicht mehr als bereit, die Challenge des Tages anzugehen: hinauf auf nahe gelegenen Mondberg! Weil Flo und ich bereits in Sanya gelernt hatten, dass es sich manchmal lohnte, die eher abschüssigen Wege zu gehen, vertrauten wir wieder auf die Tipps der Hostel-Mitarbeiter. Für gerade einmal umgerechnet siebzig Cent pro Person führte uns eine am Straßenrand wartende Frau durch den Bambuswald – in einem hübschen Bogen um den Ticket-Schalter herum zum Wander-Pfad. Herrlich. Bereits von der ersten Hügelkuppe aus baute sich der Mondbeg in seiner ganzen Pracht vor uns auf, eine pyramidenförmige Erhebung mit einem halbmondförmigen Loch in der Mitte, durch das man den grauen, wolkenverhangenen Himmel sah. Von diesem Tor zu den Wolken trennten uns jedoch noch über 700 Stufen – dabei hatte der Tag doch so entspannt begonnen!

Die Wächterin des Mondbergs

Mit zitternden Knien traten wir einige Zeit später in den Schatten des gigantischen Steinbogens. Von den Stalagtiten am weit über uns gelegenen Felsengewölbe fielen stetig Wassertropfen auf uns hinab – das Loch im Mondberg war demnach so etwas wie eine riesige Tropfsteinhöhle unter freiem Himmel. Als wir uns außer Atem für einen Moment niederlassen wollten, wurden wir von der Wächterin des Bergs in Empfang genommen. Die stetig lächelnde, alte Dame nannte sich selbst „Lady“ und erklomm mit ihren 72 Jahren Tag für Tag die unzähligen Stufen. Geduldig wartete sie oben bis zur Dämmerung auf müde Wanderer, um ihnen Erfrischungen anzubieten und ihnen stolz ihr kleines Notizbuch zu zeigen, in dem sich bereits viele Generationen von Gipfelstürmern verewigt hatten. Lady kannte den Mondberg wie ihre Westentasche, zeigte uns die besten Punkte zum Fotos schießen und sogar den verbotenen  Weg zum Gipfel.

„Lady stay here. Too dangerous for old Lady!“ Ob es sich wohl lohnte, diesen risikoreichen Weg einzuschlagen? Wenn wir es nicht ausprobierten, würden wir es nie herausfinden. Also kämpften Flo und ich uns durchs Gestrüpp, über die knorrigen Wurzeln von Bäumen, die sich tapfer an den Felsen klammerten, immer weiter die steilen, abschüssigen Serpentinen hinauf, bis wir schließlich direkt über dem Halbmond befanden. Und feststellten, dass es sich mehr als gelohnt hatte. Auch wenn nirgends drei Meter große, blaue Wesen herumkletterten, wurde es von hier aus mehr als ersichtlich, dass James Cameron die Landschaft unter uns als Inspiration für seine Halleluja-Berge auf Pandora genommen hatte. Egal, in welche Richtung man den Blick schweifen ließ, überall erstreckten sich die zerklüfteten, grün getupften Steinriesen bis zum Horizont und kleine Ansammlungen von Häusern, Flussläufe und Felder füllten die ebenen Flächen dazwischen aus. Zum ersten Mal sahen wir auf die Welt der Zauberberge hinab. Traumhaft.

Der Mondberg von Weitem

Freiluft-Tropfsteinhöhle

Daher hatte Cameron also Inspiration für die Halleluja-Berge!

Zauberberge bis zum Horizont

 

Bierfisch

Da wir vor der Dunkelheit zurück in Yangshou sein wollten, verabschiedeten wir uns von Lady und überließen den Mondberg wieder seiner einsamen Wächterin. Um den Tag abzurunden, bestellten wir uns in einem der weniger touristisch-überteuerten Restaurants eine der berühmtesten lokalen Spezialitäten. Nein, keine Flussschnecken, sondern eine ordentliche Portion Bierfisch. Um mir die Wartezeit zu vertreiben, inspizierte ich die auch hier zum Trocknen aufgehängten Fleischstücke – und wurde von dem überschwänglichen Laoban doch gleich dazu eingeladen, sie zu probieren. Für ein Stück Fleisch schmeckte das Ganze ungewöhnlich süß, aber nicht so abstoßend wie ich erwartet hatte. Trotzdem stellte der Bierfisch dagegen die reinste Offenbarung dar, denn die leicht mit Bier versetzte Soße erweckte in mir leise Erinnerungen an Schweinebraten.

Leider brachen die dunklen Wolken am darauf folgenden Morgen in Regen aus, sodass wir uns gezwungen sahen,  unseren letzten Tag in Yangshuo auch wirklich in Yangshuo zu verbringen. Wenigstens bot sich uns so die Gelegenheit, den Fleisch- und Gemüsemarkt zu besuchen. Zwar hatte ich bereits schon einige dieser riesigen Hallen gesehen mit ihren wimmelnden Wasserbecken, Bergen von Grünzeug und übereinandergestapelten Vogelkäfigen, doch dieser hielt eine etwas unangenehme Überraschung für uns bereit. In den hinteren Nischen des Markts konnte man live bei den Schlachtungen zusehen – und was dort geschlachtet wurde, löste bei mir recht zwiespältige Gefühle aus.

Richtig, hier verkaufte man Hundefleisch. An Fleischerhaken hingen hier anstatt Schweinshaxen gehäutete Hunde. Und dahinter drängten sich in stählernen Käfigen ihre noch lebenden Artgenossen aneinander. Apathische, trübe Augen starrten zwischen den Gitterstäben hervor, Augen, die ihr Schicksal wohl bereits genau kannten. Auf jemanden, der mit Hunden als Freund und Begleiter des Menschen aufgewachsen ist, wirkte das natürlich etwas verstörend. Andererseits muss man sich genauso klar werden, dass man im Gegenzug bei uns in Europa Schweine industriell hinrichtet – Tiere, deren emotionale Intelligenz die eines Hundes sogar noch übersteigt.

Dennoch möchten nur wenige deswegen auf ihr Schnitzel verzichten und beim Anblick eines abgepackten, eingeschweißten Stücks Fleisch im Supermarkt denkt man eben kaum daran, dass das auch mal ein lebendiges, fühlendes Wesen war. Wie man der Integrierung verschiedener Tiere auf dem Speiseplan gegenüber steht, hängt meiner Meinung nach größtenteils davon ab, wie man sozialisiert wurde. Und in manchen Regionen gehört eben auch der Hund noch zum Speiseplan. Damit muss ich wohl meine in einem anderen Blog-Eintrag getroffene Aussage, Hunde würden nur von der ärmeren Bevölkerungsschicht gegessen werden, korrigieren. Trotzdem bleibt es ein Klischee, dass man sein Fiffy lieber zuhause lassen sollte, wenn man von einem Chinesen zum Essen eingeladen wird!

Da hat wohl jemand einen Bienenstock ausgeräuchert

Das Einzige, was ich mir letztendlich auf dem Markt kaufte, war ein Beutel Bienenbrot von chinesischen Killerbienen, allerdings nicht, weil ich nach den Seidenraupen ein Faible für Insekten entwickelt hatte. In Bienenbrot wurden keine Sechsbeiner verarbeitet; es besteht aus Pollen, der mittels Bienenspeichel haltbar gemacht wurde. Die goldgelben, aromatischen Zuckerkristalle enthalten Spurenelemente, Vitamine, Proteine und Enzyme – fast so gut wie der Schlamm aus der Gold Water Cave.

 

 

 

Nach unserer letzten Nacht im Hostel von Mr. Mongo brachen wir zum großen Finale unserer Reise durch die Guangxi-Region auf. Wieder einmal stiegen wir frühmorgens in einen Bus, der uns weg von Yangshuo brachte in ein Gebiet, wo sich die Zauberberge zu einem Gebirge vereinigten. Unseren ersten Stopp legten wir in einem beschaulichen Dorf an einem Fluss ein. Diese Siedlung hat es geschafft, einen Eintrag im Guinnessbuch der Rekorde zu erhalten, und zwar als „Dorf mit den längsten Haaren“. Die weiblichen Mitglieder der roten Yao-Minderheit schneiden sich ihre Lockenpracht nämlich nur einmal im Leben beim Eintritt ins sechzehnte Lebensjahr – kein Wunder, dass die durchschnittliche Haarlänge der ortsansässigen Damen 1,7 Meter beträgt. Das funktioniert übrigens auch ohne Spitzen- und Haarbruchpflege von L’Oreal und Co. „Reiswasser“ lautet die Geheimformel. Dahinter verbirgt sich kein Codename für das ultimative Super-Shampoo, sondern tatsächlich nichts anderes als Wasser, das zum Sauberspülen von Reis verwendet wird. Wer sich also mal wieder eine Tüte Uncle Ben’s aufkocht, sollte den Sud danach nicht einfach in den Abguss kippen, denn das kann man sich ja auch in die Haare schmieren.

Immer dieses Gesinge!

Im lokalen Theater zeigten einige Yao-Mädels, dass sie ihr Leben nicht nur mit der Pflege ihres wallenden Kopfschmucks verbringen, sondern auch ganz ergreifend singen können und ihre traditionellen Tänze noch lange nicht verlernt haben. Außerdem erfuhren wir, dass die Guten nicht nur eine, sondern gleich drei Lagen Haare in ihre Frisur verflechten: ihre noch wachsenden, die, die sich beim Eintritt ins Erwachsenenalter abgeschnitten haben und einen Strang ausgefallener, wieder aufgesammelter Haare. Aber wozu nur der ganze Aufwand? Ganz einfach, lange Haare bringen im Volksglauben langes Leben, Glück und Reichtum – da wäre es ja eine Schande, wenn mal eins verloren geht!

Am Ende der Inszenierung luden die Frauen schließlich noch zum gemeinsamen Tanz – und ehe ich wusste, wie mir geschah, wurde ich doch glatt von zwei hysterisch kichernden Chinesinnen auf die Bühne gehievt. Zum Glück stellte sich das Tänzchen, bei dem sich alle im Kreis an den Händen hielten, als nicht gerade kompliziert heraus, dafür als umso ausgelassener und temperamentvoller. Zum Abschied erhielt jeder einen Schluck vom lokalen Reisschnaps-Gebräu für die Linderung der blauen Flecken – und einen herzlichen Kniff in den Hintern. Sehr sympathisch, diese Damen.

Getrocknete Ratten

Bambusreis

Nun konnte es endlich zum sprichwörtlichen Höhepunkt des Ausflugs weitergehen. Noch höher in die Berge zu den Dragon’s Backbone Reisterrassen! Am Morgen hatte mir der Nebel noch ein wenig Sorgen bereitet, doch mittlerweile genossen wir klare Sicht und Sonnenschein, sodass wir zuversichtlich durch die Reisbauern-Siedlung pilgerten auf der Suche nach dem besten Aussichtspunkt. Allein die engen Gassen zwischen den hölzernen Häusern waren durchaus sehenswert. Auf schmalen Stufen bahnten wir uns den Weg den Hang hinauf, balancierten immer wieder auf Betonplanken über tief eingegrabene Wasserläufe und staunten über die seltsam geformten Fleischstücke, die am Straßenrand zum Trocknen aufgehängt waren. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass es sich dabei um ein paar getrocknete Ratten handelte! Die wollte ich allerdings lieber nicht probieren; stattdessen bestellten wir uns zwei Portionen Bambus-Reis zum Mittagessen. Dieser Reis wird mit Gemüse und Fleisch in ein Stück Bambusrohr gefüllt und anschließend gegrillt. Sieht zwar ganz originell aus, schmeckt ohne reichlich Sojasoße aber recht öde.

Dennoch bereute danach ein bisschen, nicht mehr davon gegessen zu haben, denn der Weg zum Aussichtspunkt durch die Reisterrassen hatte es ganz schön in sich. Insgeheim bewunderte ich die Bauern zutiefst dafür, dass sie jene Wege täglich zurücklegten, um ihre außergewöhnlich geformten Felder zu beackern. Natürlich lohnte sich der Aufstieg letztendlich voll und ganz. Während wir schließlich auf dem höchstgelegenen Pfad entlangwanderten, erstreckte sich unter uns ein Kunstwerk, das Mensch und Natur gleichermaßen geschaffen hatten – und das nebenbei noch den Lebensunterhalt der lokalen Bevölkerung sicherstellte. Unzählige Schichten von Grün und Braun lagerten sich in immer gleichen Abständen übereinander, schlangen sich in sanften Kurven um die Berge und liefen in Spiralen auf den Hügelspitzen zusammen. In der Mitte dieses Meers von erdfarbenen Bändern schmiegten sich die Häuser des Dorfes mit ihren dunklen Ziegeldächern an den Bergrücken und verschmolz mit der Umgebung. Neben uns reflektierte das Sonnenlicht in einem der vielen Wasserkanäle und weit unter uns füllten einige Dorfbewohner ihre Körbe mit saisonalem Gemüse. Bei so einem Panorama vergaß man beinahe, dass das Ganze nur bestehen kann, weil es intensiv von der Regierung gefördert wird.

Trotzdem waren die Dragon’s Backbone Reisterrassen für mich das schönste Zusammenspiel von Mensch und Natur, das ich bisher gesehen habe. So fuhren wir schließlich zufrieden und ergriffen nach Guilin, wo sich unsere Wege fürs Erste trennten. Flo und David kehrten zurück nach Wuhan, ich hingegen setzte meine Reise am nächsten Tag in Richtung Küste fort. Die Region Guangxi hatte mich mit ihren zauberhaften Landschaftsformen, vielen Gelegenheiten zum Spelunking und dem vielfältigen, wenn auch teilweise etwas gewöhnungsbedürftigen Essensangebot einigermaßen überwältigt. Nun freute ich mich aber schon sehr darauf, mich mal wieder auf ebenen Straßen ins Gewimmel der Großstadt zu stürzen, denn meine Füße qualmten ordentlich vom vielen Klettern und Treppensteigen. Noch wusste ich nicht, das Guilin und Yangshuo meinen Füßen und mir gerade einmal einen milden Vorgeschmack auf das gegeben hatten, was mich noch erwartete.

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