Weil Hainan den südlichsten Zipfel des riesigen Landes bildet, nennen ihn viele Chinesen auch „Das Ende der Welt“. Gewissermaßen kam das sehnsüchtig erwartete Ende der Welt für uns also tatsächlich am 21. Dezember. Wenigstens das Schicksal einiger Kulturweit-Freiwilligen hatten die Maya also richtig vorausgesagt. Immerhin. Wie am Ende der Welt fühlten wir uns allerdings die wenigste Zeit, die wir auf der Insel verbrachten.
Viel mehr kommt man sich teilweise eher vor, als hätte man Hawaii heimlich nach Russland verlegt. Für zahlreiche Russen genießt Hainan nämlich eine ähnlich große Attraktivität wie Mallorca für die Deutschen und folglich ist die russische Sprache zumindest in Sanya allgegenwärtig. Straßenschilder sind sowohl Chinesisch als auch Kyrillisch beschriftet, es gibt russische Kneipen mit russischen Kellnerinnen in sehr freizügiger Arbeitskleidung und in vielen Restaurants wird jedem halbwegs ausländisch aussehenden Gast erst einmal die russische Speisekarte gereicht.
Im Allgemeinen ist die Stadt (verständlicherweise) sehr stark touristisch geprägt. Überall schießen exquisite Luxushotels aus dem Boden und auch die Preise schießen vor allem im Vergleich zu Wuhan in ungewohnte Höhen. Für das unverzichtbare Eis am von Badegästen überlaufenen Dadong Beach zahlt man beispielsweise so viel, wie für ein sättigendes Mittagsmahl in meiner Snack-Street um die Ecke. Während man dann feststellt, dass man soeben mal wieder Schoko- mit Bohnenfüllung verwechselt hat, wedelt ein fleißiger Geschäftsmann mit Werbeflyern vor der Nase herum. „DIVING???“ Nein danke! Zehn Minuten mit der Sauerstoffflasche an der Hand eines Profis sind mir doch irgendwie keine siebzig Euro wert. Genauso wie die verlockenden Restaurants, die die gesamte Strandpromenade säumen und bei deren Angebot einem das Wasser unwillkürlich im Mund zusammenläuft. Leider mussten wir uns damit begnügen, den wohlhabenden Gästen dabei zuzusehen, wie sie eine Languste nach der anderen knackten. Schließlich wollte ja keiner von uns seinen gesamten Kulturweit-Zuschuss für ein paar Meeresfrüchte ausgeben.
Ist Sanya also genauso authentisch wie ein sogenanntes German Hamburg Steak mit Spaghetti und Spiegelei in Wuhan? Im Gegenteil, wir mussten manchmal nur etwas genauer hinsehen. Beispielsweise auf dem Weg zu unserem Lieblingsstrand, dem Xiaodong Beach. Dafür legten wir zwar immer eine etwas längere Fußstrecke zurücklegen, bekamen allerdings im Gegenzug weißen Sand, kostenlose Schattenplätze unter Kokospalmen, relativ wenige Badegäste und azurblaues Wasser geboten. Natürlich blieb auch dieser Strand keinesfalls von Hochglanz-Luxus-Monstern verschont, aber ein großer Teil deren befand sich bei unserer Ankunft noch in der finalen Bauphase. Da es dort neben ein paar Touristen nicht mehr viel einheimisches Leben gibt, schienen die Straßen dort verdächtig klinisch rein und ebenso verdächtig ausgestorben. Und leergefegte Straßen habe ich bisher vor elf Uhr nachts in keiner chinesischen Großstadt gesehen (allerdings habe ich zugegebenermaßen auch noch nicht so viele chinesische Städte gesehen).
Doch plötzlich wechselt man die Straßenseite und findet sich zwischen einer Ansammlung von bunt zusammengewürfelten Tante-Emma-Läden und Garküchen wieder. Hühner und struppige Hundewelpen tollen unter den Tischen hindurch, an denen Menschen ihr Mittagessen zu sich nehmen. Die Menschen, die die Hochglanz-Luxus-Monster gebaut haben oder mittlerweile dort arbeiten. Die, die nicht nur in Sanya sind, um sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen und die, die sogar hier heiraten und sich niederlassen. Woher ich das so genau weiß? Ganz einfach, als wir wieder einmal nach gebratenem Reis suchten, schien die Straße plötzlich so lebendig wie nie zuvor. Überall auf den Gehwegen hatte man Plastikhocker und Tische aufgestellt. Leckere Speisen dufteten verführerisch und mit den stillen, sterilen Hotelbauten im Hintergrund trank man ausgelassen Bai Jiu, warf mit Knochen und Garnelenköpfen um sich und sorgte für einen sehr lebhaften Geräuschpegel. Als ich das Ganze fasziniert begaffte, forderte mich sogar einer der Gäste auf, mich zu ihnen zu setzen und an der Hochzeit teilzunehmen. Allerdings konnte ich das Brautpaar nirgendwo sehen und ohne deren Segen wollte ich nicht einfach über das ganze gute Essen herfallen.
Auch am Strand wurden wir bisweilen Zeuge von diversen Feierlichkeiten. Täglich schlugen die chinesischen Sonnenbadenden zwischen den Palmen ihre Zelte auf oder breiteten große Plastikmatten aus, um darauf den halben Hausrat abzustellen. Besonders unterhaltsam fand ich die Seniorengruppe, die ihren Ghettoblaster mitgebracht hatte und mehrere Flaschen mit recht zweifelhaftem Inhalt leerte. Bald tanzten die braungebrannten Rentner so euphorisch miteinander im Sand, dass sogar die ältere Dame, die von morgens bis abends den Sand kehrte, eine Weile neugierig von ihrer anspruchsvollen Arbeit innehielt.
Die Gute gehörte ebenso zum Inventar der kleinen Bucht wie die Gruppe von einheimischen Kindern, die dort gelegentlich ihre Fähigkeiten zur Schau stellten. Flink wie eine Katze kraxelte einer der Jungs mit einem Buschmesser zwischen den Zähnen an den Palmen hoch und machte sich oben angekommen daran, eine Kokosnuss abzusägen. Und im nächsten Moment blieb mir beinahe das Herz stehen. Während die anderen fröhlich um den Stamm herum hüpften, stürzte zuerst die grüne Frucht und direkt danach das Messer in die Menge. Ach du Scheiße, das hätte um ein Haar jemandem den Schädel gespalten, dachte ich entsetzt. Aber jetzt, wo die Nuss schon mal unten war – konnte man da wohl auch eine abbekommen? Fragen kostet ja bekanntlich nichts. „Ein Yuan!“, sagte einer der Kleinen grinsend und streckte erwartungsvoll seine Hand aus. Na, wenn’s weiter nichts ist! Überraschenderweise schmeckte die Kokosnuss frisch vom Baum sogar viel überzeugender als meine erste, die ich vor ein paar Monaten in der Hu Bu Xiang gegessen hatte. Abgesehen davon stellen die tropischen Früchte einen ganz vorzüglichen Energie- und Vitaminlieferanten nach einer langen Nacht dar. Was natürlich in keinerlei Zusammenhang mit der Masse an Kokosnüssen steht, die wir während unserem Aufenthalt in Sanya vernichtet haben.
Deliziöse lokale Spezialitäten verköstigten wir darüber hinaus nicht nur am Strand. Gerade wenn man auf Meeresfrüchte steht, kann man es sich in Sanya wirklich gut gehen lassen. An jeder Ecke gibt es verlockende Restaurants, vor deren Eingängen reihenweise überquellende Aquarien vor sich hin blubbern. Des Öfteren mussten die armen anderen Freiwilligen auf mich warten, weil ich mal wieder irgendein exotisches Tierchen erspäht hatte, von dem ich nicht einmal wusste, dass man das essen kann. Von farbenprächtigen Papageienfischen über Muränen, Langusten, Sandhaien, Schlangenkopffischen bis hin zu stachelbesetzen Igelfischen mit giftigen Innereien verkaufte man dort scheinbar einfach alles, was ins Netz ging. Das erklärt vielleicht, warum ich beim Schnorcheln außer ein paar hübschen Korallen, bunten Fischchen und angriffslustigen Krebsen nicht viel zu sehen bekam.
Weil man in diesen Lokalen aber meist bereitsherausgefunden hat, wie viel Geld man aus ahnungslosen Touristen herausschlagen kann, mussten wir uns andere Örtlichkeiten suchen, um dennoch in den Genuss von Sanyas sensationellen Seebewohnern zu kommen. Was macht man in so einer Situation? Tom fragen natürlich. Und der wusste gleich, wohin wir unbedingt gehen sollten: zum Barbecue in der Fischersiedlung. In der Dämmerung begann in den Gassen am Fuße des Hügels immer ein buntes Treiben, weil die Kneipen ins Abendgeschäft übergingen und die Grills angeworfen wurden. Direkt neben einer etwas dubiosen Örtlichkeit, wo man allem Anschein nach fangfrische Seepferdchen anbot, versammelten wir uns unter Toms Anleitung um eine gut gefüllte Gefriertruhe, aus der sich jeder sein individuelles Menü zusammenstellte. Als ich einen Blick hineinwarf, verliebte ich mich sofort den Stachelrochen, der mich ziemlich eisig angrinste (Rochen sehen wirklich aus, als würden sie lächeln. Das ist ein bisschen unheimlich). Zwar warteten wir eine für chinesische Verhältnisse ungewohnt lange halbe Stunde, bis man unsere Bestellungen gebrutzelt hatte, aber es lohnte sich letztendlich voll und ganz. Ich hätte nie gedacht, dass ein Tier, das aussieht wie ein etwas missratener, grinsender Pfannkuchen aussieht, derart auf der Zunge zergehen würde. Und das tat er nicht nur im übertragenen Sinne, da das gute Stück keinerlei Knochen besitzt. Tatsächlich enthielt der Rochen gerade einmal ein paar Knorpel, die mich unfreiwilligerweise kaum daran hinderten, mein zweites Fischgehirn zu verspeisen. Immerhin hatte man es gut durchgebraten.
Die eindeutig fragwürdigste Spezialität probierte ich jedoch erst ein paar Tage später. Kurz nachdem wir mit Müh und Not den Weg aus dem Bett in den Aufenthaltsraum gefunden hatten, lud uns Panda dazu ein, mit ihm und einigen anderen Gästen Meeresfrüchte zuzubereiten und zu essen. Panda war ein Langzeitgast in dem Hostel und hatte diesen liebevollen Spitznamen Tom zufolge aufgrund seines Heimatorts, der Panda-Hauptstadt Chengdu, und seiner, äh, knuffigen Erscheinung verpasst bekommen. Weil sich meine geschätzten Mitreisenden von Fisch zum Frühstück weniger begeistert zeigten, endete ich als einziger Nicht-Chinese im Koch-Team. In der kleinen Kombüse des Captain’s House übernahm ich die höchst verantwortungsvolle Aufgabe, Oktopus-Arme und Jakobsmuscheln zu waschen, auf die im Dampf garenden Fische aufzupassen und das Ganze fotografisch festzuhalten. Währenddessen präparierte, würzte und briet Panda ein Gericht nach dem anderen und verarbeitete Chilli-Schoten in rauen Mengen, um seiner sichuanesischen Herkunft gerecht zu werden.
Nach einer Stunde Hochleistungs-Gourmet-Kochen bzw. dekorativ in der Landschaft Herumstehen versammelten wir uns auf der Terrasse um eine verführerisch dampfende Auswahl an Meeresgetier. Bei den in tiefroter Soße schwimmenden Kraken-Tentakeln wurde mir doch ein bisschen warm um die Zungenspitze, aber mittlerweile war ich nach zahlreichen Hot-Pots mit meinen schärfeliebenden Kollegen einiges gewohnt. Als ziemlich gewöhnungsbedürftig hingegen entpuppte sich ein weiterer, mit rötlicher Soße gefüllter Topf. Darin schwammen scheinbar schwarzbraune Gummistücke, aus denen teilweise recht unästhetische Pusteln hervorstanden. Seegurke. Warum man das überhaupt als Delikatesse bezeichnen darf, ist mir bis heute ein Rätsel. Die Weichtiere kosten auf dem Markt unverhältnismäßig viel, dafür dass sie tatsächlich ein bisschen schmecken wie die letzte saure Gurke, die man im Glas vergessen hat – und zu allem Überfluss die Konsistenz von gekochtem Knorpel besitzen.
Aufgrund ihrer gar magischen Wirkung gegen Gelenkschmerzen und Potenzprobleme gelten sie in vielen asiatischen Ländern trotzdem als Wundermittel, dass man oft zu speziellen Anlässen isst. So bekam Franzi zum Beispiel während ihres Aufenthalts in Indien zur Feier des Tages einmal eine ganze Seegurke vorgesetzt, die die Arme aus Höflichkeitsgründen bis auf den letzten schleimigen Bissen herunterwürgen musste – und sich anschließend die Seele aus dem Leib… Wie auch immer, wenigstens brauchte ich bei den seltsamen Kreaturen nicht befürchten, schon wieder versehentlich ein Gehirn zu verspeisen, denn die Natur hatte wohl beschlossen, dass Seegurken auch ganz gut ohne ein solches auskommen. Beim grandiosen Rest des Menüs wunderte mich übrigens, warum Robert und Tom unseren Panda nicht wirklich als Gourmet-Koch anstellten.
Am Abend des gleichen Tages erhielt der sympathische Sichuanese abermals die Gelegenheit, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Im Kühlschrank warteten nämlich noch zwei Kilo Haifisch darauf, verarbeitet zu werden. Leider nicht gerade das nachhaltigste Abendmahl, denn einerseits sind viele Hai-Arten bedroht und andererseits ist nur ein kleiner Teil des Fischs wirklich essbar. Lediglich die Flossen trennt man beim Fang ab, der ungenießbare Rest wird wieder zurück ins Meer geworfen. Dennoch muss ich gestehen, dass das zarte und zugleich feste Fleisch sowohl gekocht, als auch frittiert und gebraten fantastisch schmeckte. Wie Rochen sind nämlich auch Haifische Knorpelfische, sodass man nicht ständig von Gräten gepiekt wird. Trotzdem habe ich meinem Gewissen zuliebe nicht vor, das so schnell zu wiederholen.
Hainan hatte noch mehr zu bieten als massenhaft Gelegenheiten, sich die Bäuche mit Meeresfrüchten vollzuschlagen. Nachdem unsere großen Abenteurer Franzi und Maurice (diesmal lieber gleich mit dem Flugzeug) nach Hongkong abgereist waren, brachen wir zu unserer eigenen Adventure Tour auf. In aller Frühe machten wir Übriggebliebenen uns auf den Weg zu einem anderen Hostel, bei dem wir den Trip gebucht hatten. Im Minibus mit unserem chinesischen Guide Chris und sechs weiteren Abenteuerlustigen ließen wir die Stadt hinter uns und fuhren weit hinein ins Inland. Hinter den Scheiben wurden die modernen Hotels stetig von Kokospalmen-Feldern, der Haupt-Einnahmequelle Hainans verdrängt. Jenseits der wenig befahrenen Autobahn kamen uns anstelle von Autos Wasserbüffel entgegen, die Holzkarren hinter sich herzogen. Weiter ging es durch ein paar kleine Dörfer, während sich die Landschaft immer mehr in hügelige Wildnis verwandelte und die Ausläufer des Regenwalds Einzug hielten. Am Ende einer verlassenen Serpentinenstraße hielten wir nach drei Stunden Fahrt schließlich vor dem Fuß eines hakenförmigen Berges an.
Unser Ziel: hinauf auf den Gipfel. Von dem trennten uns allerdings vierhundert Höhenmeter. Das mag nach nicht allzu viel klingen, aber wir hatten uns vorgenommen, das Ganze innerhalb von eineinhalb Stunden zu schaffen. Irgendwie musste man ja schließlich die ganze beim Sonnenbaden angestaute Energie abbauen. Im Stechschritt erklommen wir unzählige steinerne Stufen, umgeben von dichter Vegetation und selbst für Hainan-Verhältnisse ungewohnter Stille. Stille im Regenwald? Warum wir nicht einmal das leiseste Vogelzwitschern hörten, bleibt für mich bis heute ein unklar, doch vielleicht waren die bei unserer Ankunft ja noch nicht wach. Die Schenkel hatten jedenfalls bereits ordentlich zu ziepen begonnen, als Julian, Simon, Flo und ich als erste auf dem Rückgrat des Berges endlich in den Sonnenschein traten. Die letzten Holzstufen führten uns auf eine Aussichtsplattform, erwartungsvoll erreichten wir das Geländer und sahen – eine weiße Wand. Na toll. Die Wärme der Morgensonne hatte die Verdunstung dermaßen angekurbelt, dass vor uns nun undurchdringbare Dampfschwaden aufstiegen.
Wir waren also den ganzen Weg auf den Gipfel geklettert, um ein paar Wolken von Nahem betrachten zu dürfen? Zum Glück nicht. Ein Windhauch schob den Nebel beiseite und offenbarte endlich die wohlverdiente Aussicht. Über und über mit allen Nuancen von Grün bedeckte Berge, soweit das Auge reichte und am Horizont irgendwo die Stadt Sanya und das Meer. Eine faszinierende Kombination. Ebenfalls faszinierend war der Fund, den wir machten, während wir auf den Rest unserer Adventure-Gruppe warteten. Auf einem Hinweisschild prangte tatsächlich ein Anti-Stuttgart-21-Aufkleber. Selbst bis hierher hatten es die deutschen Wutbürger geschafft! Weniger wütend, sondern eher erschöpft und zufrieden stieß auch Sandra einige Minuten später zu uns, sodass wir das obligatorische Gruppenfoto schießen konnten – „Freiwillige freuen sich über den erklommenen Gipfel, kurz bevor sie realisieren, dass sie da auch wieder runter müssen“.
Mit dem erfolgreich überstandenen Abstieg endete unser Ausflug aber noch lange nicht. Bevor wir jedoch zum besten Teil des Tages übergehen konnten, mussten wir erst einmal feststellen, dass von unserem Minibus jede Spur fehlte. Die Tatsache, dass er zur Reparatur hinunter ins Dorf gefahren war, nutzen wir, um ein wenig die Straße entlang zu marschieren und im Regenwald unter uns nach den berüchtigten Baumfarnen Ausschau zu halten. Diese lebenden Fossilien gehören zu den ältesten Pflanzenarten und sehen aus wie urtümliche Palmen. Noch mehr Spaß mit der tropischen Vegetation hatten wir, indem wir die Mimosen am Wegrand ärgerten, bis wir schließlich unseren Minibus fanden. Dessen Batterie hatte scheinbar leider versagt, bevor er im Tal angelangt war und so mussten wir warten, bis der Ersatz geliefert wurde. Genug Zeit, um den Reiseproviant zu plündern und uns für die nächste Etappe zu stärken.
Mit einer neuen Batterie ausgerüstet brachte uns der Bus zu einem Erholungsresort, das abseits der Zivilisation versteckt in den Bergen lag. Erholen wollten wir uns dort aber mitnichten, stattdessen durchquerten wir die hübschen Teichanlagen zielstrebig und stürzten uns ins Unterholz. Während wir uns auf einem kaum erkennbaren Trampelpfad an einem Flusslauf entlang hangelten, fühlte ich mich zum ersten Mal an diesem Tag wirklich wie im Regenwald. Wir kämpften uns furchtlos durch meterhohes Gestrüpp, stolperten über Wurzeln und balancierten auf einem umgestürzten Baum über einen Bach.
Schließlich rutschten wir einen steilen Hang hinunter und hatten mit einem Mal unser Ziel vor Augen: Vor uns stürzte rauschend ein beeindruckender Wasserfall in einen kleinen, klaren See mitten im Dschungel. Ein Warnschild wies zwar darauf hin, dass man darin nicht schwimmen durfte, aber ehe ich mir darüber Gedanken machen konnte, vernahm man die ersten Aufschreie der besonders Mutigen. Schnell breiteten wir unsere Handtücher auf den rundgeschliffenen Felsen am Ufer aus und stürzten uns ins Vergnügen. Ehrlich gesagt beneidete ich die kleinen bunten Fische nicht wirklich, die ihr ganzes Leben in dem recht kühlen Nass verbringen müssen. Aber mit ausgebreiteten Armen unter einem natürlichen Wasserfall zu stehen fühlte sich dagegen doch ziemlich legendär an.
Und es wurde noch besser. Unter Chris‘ wachsamen Augen kraxelten Simon und ich den Hang wieder hinauf und standen bald auf der Klippe, von der aus die Wassermassen schäumend herab donnerten. Oha, von unten hatte das aber nicht so hoch ausgesehen! Egal, ein letztes Mal tief durchatmen, Anlauf nehmen und in bester Pocahontas-Manier brüllend in den Abgrund springen! Wer gerne sehen möchte, dass bei Weitem nicht alle dabei so verwegen aussehen wie Pocahontas, kann meinen Sprung hier mitverfolgen:
http://www.youtube.com/watch?v=k40FQf6aBSQ
Was haben wir nochmal über das Springen in unbekannte Gewässer gelernt? Wenn man das erste Mal überlebt hat, am besten gleich nochmal machen! Als Flo und ich den zweiten Sprung überstanden hatten, mussten wir leider schon wieder zum Bus zurückgehen. Auf der Heimfahrt erwartete uns anschließend ein Abenteuer, das eigentlich nicht im Preis mit einbegriffen war. Plötzlich fielen nämlich in der Abenddämmerung die Scheinwerfer aus. Das störte unseren Fahrer allerdings nicht sonderlich, denn der bog seelenruhig in die Autobahn ein. Hier klammerte er sich an die Rücklichter der LKWs, um nicht vom Weg abzukommen, doch von den Strapazen des Tages ermüdet, brachte niemand die Kraft auf, sich darüber groß Sorgen zu machen. It’s China, after all! Irgendwann begann es dann, zu regnen. Wie wäre es mit Scheibenwischern? Ging nicht. Langsam wurde mir doch ein bisschen unwohl bei der Sache. Die Regentropfen auf der Windschutzs-Scheibe reflektierten die Scheinwerfer der anderen Fahrzeuge blendend, sodass ich mich fragte, woher unser Fahrer überhaupt wissen konnte, wo es lang ging.
Nach einiger Zeit tauchten die ersten städtischen Gebäude in der Dunkelheit auf und ich glaubte schon, dass wir es bald überstanden hätten. Weit gefehlt! Der Bus verlangsamte sich stetig und kam schließlich vollkommen zum Stillstand. Was war denn nun schon wieder los? Offenbar lag das Problem in Wahrheit gar nicht an der Batterie, sondern am Recharger, der nicht mehr funktionierte. Wunderbar. So standen wir nun also ohne Licht mitten auf der Autobahn und mussten an die Leitplanken gelehnt ausharren. Irgendwie schienen sich Busreisen und Freiwillige einfach nicht so recht zu vertragen! Aber wir wären ja nicht in China, wenn sich für jedes spontan auftretende Problem auch eine spontane Lösung finden würde. Einige Zeit später durften wir plötzlich wieder in das Fahrzeug steigen und legten den Rest der Strecke ohne Licht und ohne weitere Probleme zurück. Als wir es uns endlich übermüdet im Aufenthaltsraum des Captain’s House bequem machten, waren wir uns einig: trotz schmerzender Füße und weichen Knien von unserem letzten ungewollten Abenteuer hatte sich unser Adventure-Trip definitiv gelohnt!
Einmal Abenteuerluft geschnuppert, ließ das nächste Erlebnis dank Tom nicht lange auf sich warten. In der Nähe des Hostels lag idyllisch auf einer Hügelspitze angelegt der Luhuitou-Park. Aus verschiedenen Quellen hatten wir allerdings bereits gehört, dass sich der Eintrittspreis nicht wirklich lohnte. Doch abermals erhielten wir von Tom den Tipp des Tages: auf der anderen Seite des Hügels befand sich, in einer Bauarbeiter-Siedlung versteckt, der alte, stillgelegte Zugang zum Park. Und dort musste man natürlich keinen Eintritt zahlen – wenn man ihn denn fand. Einen Versuch war’s wert. Mit einer detaillierten Beschreibung von Tom im Hinterkopf bogen wir auf dem Heimweg vom Strand in den Trampelpfad zu der Siedlung am Fuß des Berges ein. Leider ohne Sandra, denn die war ebenfalls nach Hongkong weitergezogen. Ob man es hier wohl so gerne sah, wenn vier neugierige Laowais in Badehosen auftauchten?
Doch die weißen, schmucklosen Bauten schienen ziemlich verlassen. Nur ein älterer Mann hatte im Schatten eines Vordachs angefangen, einen toten Hund zu häuten. An dieser Stelle sollte kurz klargestellt werden, dass Hund eben nicht das Leibgericht der gesamten chinesischen Bevölkerung darstellt. Die meisten Chinesen, die ich bisher kennengelernt habe, würden es nie übers Herz bringen, den besten Freund des Menschen zu verspeisen. Viele sehen das geradezu als barbarisch an – Hund wird lediglich von jenen gegessen, die keine andere Wahl haben. Und ihnen sollte man es wiederum nicht übel nehmen.
Jedenfalls schien man sich nicht sonderlich an unserer Anwesenheit zu stören, sodass wir in aller Ruhe nach dem Eingang suchen konnten. Es dauerte nicht lange, da hatten wir es auch schon gefunden. Etwas abseits erhob sich ein Holzgebäude mit traditionell geschwungenen Dachrändern aus der Wildnis. Eine seltsame Anziehungskraft, die verlassene Häuser so an sich haben, ging von ihm aus. Ein bisschen erinnerte es an den Tunnel, durch den man in „Chihiros Reise ins Zauberland“ in eine fremde Welt gelangte. Aber wie kamen wir dort hin? Ein blauer Bauzaun versperrte uns den Weg, doch in einer Lücke stand eine unscheinbare Holzhütte, die fast vollkommen von Palmwedeln verdeckt wurde. Davon hatte uns Tom erzählt! Erfreut schoben wir uns an der Lücke vorbei und zwängten uns durch ein kleines Fenster. Nach ein paar Stufen kraxelten wir schließlich über ein kaputtes Drehkreuz in das mysteriöse, verlassene Gebäude. Das entpuppte sich zwar nicht als Weg in ein Fantasie-Land, aber dafür als alte Talstation einer Rodelbahn.
Trotz der großen Versuchung sahen wir davon ab, die Schienen hinaufzuklettern, sondern folgten lieber den verwilderten Steinstufen. Der Aufstieg fühlte sich beinahe mehr nach Regenwald an als unser erster. Die Vegetation hatte die Treppe zum größten Teil zurückerobert, immer wieder mussten wir unter umgestürzten Bäumen wegtauchen und aufpassen, dass wir uns nicht an Dornenranken aufrissen. In den Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach drangen, tanzten haufenweise bunte und beeindruckend große Schmetterlinge und gelegentlich schwirrte sogar ein Kolibri vorbei. Über uns schlängelte sich reflektierend das Stahlgerippe der Rodelbahn durch den Wald, während wir uns vorankämpften und immer mehr ins Schwitzen gerieten.
Doch schließlich erreichten wir, verkratzt und außer Puste, die Bergstation. Wir blickten uns verstohlen um und hüpften dann möglichst unauffällig auf die offizielle Straße zur Hügelspitze. Oben auf dem Gipfel thronte die imposante Statue eines Rehs, das seinen Kopf nach hinten wendet und dem Berg einst seinen Namen gab. Der Legende nach wurde ein tapferer Li-Krieger namens Ahei einst von einem Tyrannen dazu gezwungen, Rehe zu jagen. Eines Tages erspähte er ein besonders hübsches Exemplar und verfolgte es für viele Tage und Nächte. Als sie 99 Hügel überquert hatten, erreichten sie die Korallenklippe. In die Enge gedrängt, blieb dem Reh keine andere Wahl, als in das Meer hinter ihm zu springen. Doch als Ahei seinen Bogen spannte, wendete es seinen Kopf zu ihm und verwandelte sich in ein wunderschönes Mädchen. Ahei verliebte sich in sie, die beiden heirateten und das Mädchen rief all seine Brüder zusammen, um den Tyrannen zu stürzen. Schließlich errichteten die beiden einen paradiesischen Garten auf der Korallenklippe, die seitdem Louhuito-Shan („Reh, das seinen Kopf umdreht“-Berg) genannt wird. Ach, ich liebe chinesische Märchen!
Aufgrund dieser Geschichte hatte man bei der Errichtung des Parks auch speziell auf junge Pärchen abgezielt. So gab es dort einen Mondschein-Liebespfad und einen Baum, an dem die Liebenden rote Bänder mit ihren Namen aufhängen konnten. Wir begnügten uns damit, den Blick auf Sanyas Küste zu genießen und über die künstliche Insel zu staunen, auf der man gerade die neusten Luxushotels fertigstellte. Für die hatte man wohl ein paar Baupläne aus Dubai stibitzt, denn sie erinnerten verdächtig an das „Burj Al Arab“. Mal abgesehen davon, dass über die gesamte Glasfront der vier Gebäude ununterbrochen leuchtende chinesische Drachen flogen und andere beeindruckende Lichtspiele flimmerten.
Auf der Aussichtsterrasse ließen wir uns nieder und beobachteten amüsiert, wie chinesische Touristengruppen von ihren Megaphon-schwingenden Guides im Minutentakt von einer Attraktion zur nächsten gescheucht wurden. Sehr romantisch. Wir hingegen konnten in aller Ruhe unseren Proviant leeren und abwarten, bis die Sonne über dem Meer unterging. Während die Lichter der Stadt unter uns zu leuchten begannen, machten wir uns schließlich an den Abstieg – dieses Mal auf der offiziellen Straße. Die erwies sich als gähnend langweilig – is wir die Affenhorde entdeckten, die wohl darauf getrimmt war, Touristen zu ärgern. Um ein Haar wäre mir mein Handtuch gestohlen worden und Julian legte sich eher unfreiwillig mit dem mies gelaunten Alpha-Männchen an, sodass wir lieber schleunigst Abstand gewannen.
Bald darauf brach bereits unsere letzte Nacht in Sanya an – doch diese musste noch einmal ordentlich gefeiert werden. Immerhin begann in jener Nacht das neue Jahr und unser Lieblings-Adventure-Guide Chris hatte uns dafür in seinem Hostel zum Barbecue eingeladen. Zusammen mit den anderen Gästen schaufelten wir uns die Teller voll und folgten gerne Chris‘ Hinweis, den Barkeeper für eine Dose Freibier zu umarmen. Kurz vor Mitternacht liefen wir schließlich zum Strand in der Nähe und stießen mit einer Flasche deutschem Sekt auf ein weiteres legendäres Jahr und viele zukünftige Abenteuer in China an.
Am nächsten Morgen genossen wir eine letzte Tasse Kokosnuss-Kaffee, tankten zum letzten Mal Sonne am Strand und bestellten uns zum letzten Mal gegen Abend eine Portion von Hainans phänomenalen Meeresfrüchten. Schweren Herzens mussten wir uns von Robert, Tom und Panda verabschieden, die uns während unserer Woche an Chinas Ende der Welt sehr ans Herz gewachsen waren und brachen auf ins kalte Wuhan.
In der Zwischenzeit habe ich den Kälteschock bereits verarbeitet, die Badehosen liegen wieder ganz hinten im Schrank und Sanyas Sand hat sich endgültig aus meiner Kleidung verflüchtigt. Ausgerüstet mit zwei neuen Decken und einem frisch gekauften Standheizer kämpfe ich gegen den manchmal doch ein wenig unangenehmen Winter in Wuhan an und versuche, nach einer heißen Dusche so schnell wie möglich von meinem BBB zu flüchten. Im Büro muss ich mich mit meinem neuen, überhaupt nicht rassistischen Spitznamen „Afrikaner“ anfreunden und werde gelegentlich von meinen besorgten Schülerchen gefragt, ob ich krank sei, weil meine Haut so ungesund braun aussehe. Doch wenn man hin und wieder mit seinen Freunden Karaoke singt, bei Flo zu lecker Pfannkuchen eingeladen wird oder beim Korean BBQ haufenweise Fleisch grillt, wird selbst die dunkelste Jahreszeit in Wuhan einigermaßen erträglich. Nur ab und zu genehmige ich mir eine Tasse Kokosnuss-Kaffee und denke zurück an mein erstes Weihnachtsfest am Strand und unsere Erlebnisse am Ende der Welt.



























….40 Jahre jünger sollte man sein.
Ich freue mich für Dich!
Frieder