Journey To The East

Wettlauf um ein Weihnachtswunder

Sieben Freiwillige. Sechs Tage bis zur Deadline. Drei Transportmittel. Ein Ziel: gemeinsam Weihnachten unter den Palmen in Sanya feiern.

Am Strand in Sanya

Der Wind rauscht angenehm durch die Palmblätter über mir und rüttelt schwach an den noch grünen Kokosnüssen. Etwas entfernt brechen sich die Wellen schäumend am Strand. Nur kurz wird die Sonne verdeckt, allerdings nicht von einer Wolke, sondern von der millionenschweren Wampe eines russischen Touristen, der sich an mir vorüberschiebt. In der Nähe lassen sich Flo und Simon von den ersten Schwimmzügen im salzigen Nass trocknen. Zufrieden graben sich meine Hände in den weichen, warmen Sand. Weihnachten kann kommen, denke ich und fühle, wie die Wuhaner Kälte allmählich von mir weicht. Doch plötzlich – Handyklingeln. Sandra! Sicher will sie uns nur sagen, dass sie jetzt im Zug nach Hainan sitzt, nicht wahr? „Franzi, Maurice und ich sitzen in Guangzhou fest. Damit wir es noch irgendwie rechtzeitig nach Sanya schaffen, müsste schon ein Wunder geschehen!“

Vier Tage zuvor: 18. Dezember – noch sechs Tage bis Heiligabend

Wuhan, am Abend. Endlich ist es entschieden: wir werden unsere hart erkämpften Weihnachtsferien in Sanya verbringen. Sanya, das ist die Hauptstadt der südlichsten Insel Chinas, ein recht tropischer und recht touristischer Flecken Erde. Bis zu 30 Grad kündigt der Wetterbericht für die nächsten Tage an. Für jemanden wie mich, der normalerweise jedes Jahr auf weiße Weihnachten hofft, nicht unbedingt die idealen Voraussetzungen, um in Weihnachtstimmung zu kommen. Eigentlich braucht man dazu ein paar hübsch dekorierte Marktstände, einen heißen Glühwein in der Hand und dämmerige Abende, die man bei Kerzenschein und Plätzchen vor dem prasselnden Kaminfeuer verbringt, während die Welt draußen vom ersten Schneegestöber eingehüllt wird.

Nachdem ich jedoch meine letzten Plätzchen verputzt hatte, wurde das mit der weihnachtlichen Atmosphäre in Wuhan eher problematisch. Zwar wird man an jeder Ecke von blechern klingenden Weihnachtsliedern beschallt, aber „It’s Christmas in my Heart“ höre ich schon ständig, seit ich in der Stadt angekommen bin. Die Plastik-Tannenbäume blitzen und blinken ebenso neonfarben wie die Leuchtreklame an den Wänden der Hochhäuser und machen mehr Lust auf eine Rave-Party als auf besinnliche Stunden. Also dachten wir uns: wenn Weihnachten schon anders wird, kann es auch gleich richtig anders werden. Nach einigem Hin und Her, dutzenden E-Mails und Doodle-Umfragen fanden sich schließlich sieben Teilnehmer am Experiment „Weihnachten in Warmen“ und wir konnten endlich unsere Flüge buchen. Fehlt nur noch eins – eine geeignete Unterkunft. Leichter gesagt als gefunden.

„Nur im Stall, bei Ochs und Esel war noch Platz.“ Unwillkürlich zuckt mir dieser Satz, den ich erst vor Kurzem meinen Schülern vorgelesen habe, durch den Kopf. Seit Stunden durchforsten Flo und ich nun schon ein Online-Buchungs-Portal für Hostels und langsam schwindet die Hoffnung auf einen erfolgreichen Abschluss unserer Mission. Wer hätte gedacht, dass so viele Menschen mit uns nach Sanya reisen wollen, obwohl Weihnachten nicht einmal ein offizieller Feiertag in China ist? Kaum finden wir einen möglichen Kandidaten, müssen wir feststellen, dass dort – oh Wunder – noch genau sechs Betten frei stehen. Der nächste, bitte. Strandlage, günstige Preise, noch nicht ausgebucht. Mission erfolgreich? Leider nicht, denn das Gebäude wird irgendwo im Nirgendwo von teuren Luxushotels gesäumt, fernab von jeder Möglichkeit, billig zu essen. Schade. Warum haben wir uns nicht früher darum gekümmert? Doch plötzlich scheint die perfekte Location gefunden. Das „Captain’s House“ bietet günstige Übernachtungsgelegenheiten, sowohl Strand als auch die Innenstadt sind innerhalb kürzester Zeit erreichbar und da Beste – direkt an das Hostel schließt sich eine Fischersiedlung mit authentischen Restaurants ohne Touristenpreise an. Zu schön, um wahr zu werden. Als Chang E für uns dort anruft, wird uns gesagt, dass das Hostel auf Wochen hin ausgebucht ist. Sh***.

Mit der Zeit beginnt sich das Büro zu leeren und gleichzeitig schwinden auch die letzten Auswahlmöglichkeiten. Was nun? Die Flüge sind bereits gebucht, es gibt kein Zurück mehr. Als das Licht im Lehrerzimmer ausgeht, müssen wir uns niedergeschlagen verabschieden. In meinem Zimmer, das mittlerweile endlich über einen Internetanschluss verfügt, wage ich ohne große Hoffnungen noch einen letzten Versuch auf einer anderen Website – und traue meinen Augen kaum. Auf dem Bildschirm steht tatsächlich in wunderbar grünen Lettern, dass im Captain’s House noch genau sieben Betten freistehen. Aber meinte der Hostelbesitzer am Telefon nicht, dass sie auf Wochen  – ach, egal! Jetzt nur keine Zeit verlieren! Schnell mit Flo die frohe Kunde geteilt, die Formalitäten ausgefüllt und die Buchung abgeschickt! Geschafft! Um ein Uhr nachts endet für mich und den Rest der Wuhan-Crew offiziell der Weihnachts-Stress. Für die anderen fängt er leider gerade erst an.

21. Dezember – noch drei Tage bis Heilig Abend

Jinhua, am Abend. Mit einer halben Stunde Verspätung rollt der Zug im Bahnhof ein. Kein Problem, so leicht lässt sich Franzi nicht aus dem inneren Gleichgewicht bringen. Siebzehn Stunden im Hard-Sleeper-Abteil liegen vor ihr. Kinderspiel! Für ihr Langzeitprojekt ist sie bereits kreuz und quer durch ganz China gereist, von den paar Stündchen auf einem harten Bett umgeben von dutzenden Fremden kann man Franzi kaum noch einschüchtern. Noch weiß sie nicht, dass die bisher anstrengendste Reise noch vor ihr liegt.

Wuhan, am Abend. Gut gelaunt sehe ich zu, wie mein Koffer auf dem Förderband davonfährt. Beim Check In hat es keine Probleme gegeben und nun bin ich das unhandliche Ding endlich los! Aber ein bisschen komisch fühlt es sich trotzdem an, nur mit ein paar T-Shirts, kurzen Hosen und Badesachen zu loszuziehen. So ganz kann ich es noch gar nicht glauben, dass es in Sanya so warm sein wird, dass ich meine frisch ersteigerten Winterkleider in Wuhan zurücklassen darf. Wir werden ja sehen. Weiter geht es zur Passkontrolle und zum Durchleuchtet werden. Seltsam. Das letzte Mal, als ich diese Prozedur vor einem Flug über mich ergehen lassen musste, war ich furchtbar aufgeregt und abschiedsschmerzgeplagt. Alles, was ich nun empfinde, als ich Flo und Simon durch die Lichtschranke folge, ist die wachsende Vorfreude auf eine Reise mit meinen Freunden. Viel angenehmer!

Ein wenig später nehmen wir in unserem Flugzeug Platz und ich schäle mich aus meinen beiden Jacken. Die werde ich fürs Erste hoffentlich nicht mehr so schnell wieder anziehen müssen. Bald darauf setzt sich die Maschine in Bewegung und hebt ab in den wolkenverhangenen Nachthimmel, weg vom kalten, verregneten Wuhan einer Woche Sonnenschein entgegen.

Auf Flughöhe angelangt mache ich eine gar schreckliche Entdeckung: das Einzige, was während der Reise zu essen gibt, ist eine Packung Erdnüsse für jeden Gast. Dabei liebe ich doch den übersalzenen, feinsäuberlich in übertrieben vielen Plastiktüten eingeschweißten Flugzeug-Fraß! Die eher dürftige Mahlzeit kommt mir jedoch nur zugute, denn plötzlich dreht sich mein Magen um. Nicht jedoch, weil die Maschine ein ungewolltes Kunststück vollführt, sondern weil sich hinter uns jemand ganz leidenschaftlich aufstößt und sich lautstark von seinem Nasenschleim befreit. An das ständige Ausspucken werde ich mich wohl nie gewöhnen und wenn es noch so reinigend für den Körper sein soll! Aber wo, zum Geier, hat der das denn jetzt hingespuckt? Doch nicht etwa auf den Gang, oder? Flo deutet mit ähnlich angewidert verzogener Miene auf die Tüten hin, die vor uns in jedem Sitz klemmen. In China erhält das Wort „Spucktüte“ eine völlig neue Bedeutung!

Nachdem wir den Flug heil überstanden haben, ohne selbst Gebrauch von einer solchen Tüte machen, sammeln wir unser Gepäck ein und machen uns auf den Weg in Richtung Taxi-Wartestreifen. Als wir das Flughafen-Gebäude verlassen, scheint sich die Temperatur kaum zu ändern. Mitten in der Nacht warten wir tatsächlich bei angenehmen 22 Grad auf Taxi, umgeben von Palmen und chinesischen Touristen in Hawaii-Outfit und Sonnenhut. Kaum zu glauben, dass ich vor wenigen Stunden meine Füße vor lauter Kälter nicht mehr spürte! Jetzt würde ich am liebsten auf der Stelle meine Schuhe ausziehen und barfuß weiterlaufen. Oder vielleicht auch nicht, denn der Boden ist übersät von seltsamen rötlichen, breiigen Spritzern. Hat da etwa jemand die Erdnüsse nicht vertragen?

„Taxi?“ Auf einmal blicke ich in das grinsende Gesicht eines braungebrannten Einheimischen, der mit seinem Autoschlüssel wedelt – und zucke erschrocken zusammen. Seine Zähne, die auf irgendetwas herum kauen, sind tiefrot eingefärbt! Wie kann der noch so fröhlich lachen, obwohl er sich gerade offenbar ordentlich geprügelt hat? Verwundert blicke ich zu den Wachmännern, die die kofferschleppenden Urlauber in die Warteschlange einweisen. Auch ihre Zähne leuchten rot. Hat es hier gerade eine Massenschlägerei gegeben? „Betelnüsse.“, lautet Flos Erklärung für das merkwürdige Phänomen. Wie ich anschließend erfahre, sind die Früchte das Lieblingssuchtmittel der Bewohner von Hainan. Man kaut sowohl die Blätter als auch die Nüsse, was leicht bewusstseinserweiternd wirkt und die charakteristische Färbung verursacht. Die Reste werden anschließend natürlich einfach auf den Böden gespuckt, sodass die Straßen von Sanya wunderbar illustrieren, wie gerne man in China spuckt.

Und von einem Typen, der vermutlich unter Dauereinfluss der Nüsse steht, werden wir jetzt zu unserem Hostel gebracht? Egal, uns bleibt sowieso keine andere Wahl und so genieße ich entspannt den frischen Wind, der mir bei unserer Fahrt durch das nächtliche Sanya entgegenschlägt. Ein wenig entfernt vom Trubel der Innenstadt hält das Taxi schließlich auf einer Anhöhe an. Vor uns ragen die dunklen Silhouetten von zwei bewaldeten Hügeln in den Himmel, zu unserer Linken spiegelt sich hinter einigen Luxushotels der Mond in der Meeresbucht. Wir biegen jedoch rechts in eine kleine Straße ein, die den Hang hinunterführt.

Das Captain’s House

Dort steht es, das Captain’s House, ein kleines blaues Gebäude, das mit seiner spitz zulaufenden Terrasse ein bisschen an ein gestrandetes Schiff erinnert. Ein bisschen mulmig ist mir zumute, als wir dort eintreten, da die Rezeption schon lange geschlossen hat. Doch Tom, der mit seinem Bruder Robert das Hostel führt, empfängt uns lächelnd im Schlafanzug und zeigt uns unser Dormitory in bestem Englisch. Müde, aber glücklich klettere ich schließlich in mein Hochbett und schlafe über der Vorfreude auf den ersten Tag am Strand ein.

22. Dezember – noch zwei Tage bis Heilig Abend

Guangzhou, am Morgen. Etwas benommen steigt Franzi aus dem Zug. Die Nacht war nicht sonderlich angenehm, aber nur eine von vielen. Menschenmassen tragen sie aus dem Bahnhofsgebäude, wo der weiße, vom Dunst verschleierte Himmel ihre müden Augen blendet. In zwei Stunden wird sie sich mit Maurice treffen, aber bis dahin muss sie die Zeit noch irgendwie totschlagen. Na dann, munter auf die Suche nach einem gemütlichen Ort mit einer Steckdose für den Laptop! Bei McDonald’s und KFC wird offenbar fürs Burgerbraten schon genug Strom verbraucht, denn nirgends findet sich ein Plätzchen für Franzis Notebook. Bis ihr ein netter Mitarbeiter endlich den Weg zum nächsten Starbucks erklärt. Es ist der vorerst letzte hilfsbereite Chinese, dem Franzi begegnet.

Als sie das Café betritt, wird sie von verführerischem Kaffeeduft und weihnachtlicher Jazz-Musik empfangen. Endlich ein bisschen Entspannen. In den folgenden Minuten darf der Wachmann alle möglichen Gefühlsextreme mitverfolgen, da sich die Ausländerin mit dem Laptop dazu entschlossen hat, den Film „Hachiko“ anzusehen. Als die Tränen haltlos ihr Gesicht herabrinnen, öffnet sich plötzlich die Türe. Strahlend wie immer betritt Maurice den Raum und erlöst Franzi fürs Erste gut gelaunt von der emotionalen Achterbahnfahrt. Beide sind sich einig: bevor sie ihren Zug nach Sanya nehmen, muss etwas zu essen her. Also schnell den Rucksack aufgeschnallt und los geht es hinaus in die reale emotionale Achterbahnfahrt.

Ausgerüstet mit ein bisschen Proviant von einem Straßenstand kommen Franzi und Maurice am Bahnhof an – und erleben den ersten Schock ihrer gemeinsamen Reise. Der Zug, der sie eigentlich ins Warme bringen soll, blinkt rot auf der Anzeigetafel. Sh***, der Zug wird nicht fahren. Aber warum nur? Auch in der Tickethalle möchte ihnen niemand den Grund für den Ausfall erklären. Erst durch einige weiter Opfer des ausgefallenen Zuges erfahren die beiden, dass ein Taifun vor der Küste Hainans das Übersetzen auf die Insel verhindert. Was nun? Zwei Tage bleiben noch, um rechtzeitig anzukommen. Und die wollen genutzt werden.

Mit dem gesamten Reisegepäck auf dem Rücken verlassen die Freunde den Bahnhof und stürzen sich in das für tropische Verhältnisse ungewohnt kalte Guangzhou. Die Zugtickets sind schnell zurückerstattet, aber nun wird es kompliziert. Internet muss her, möglichst schnell, damit die beiden einen billigen Flug buchen können. Leider weißt ihnen dieses Mal kein netter Angestellter den richtigen Weg. Stattdessen müssen sie eine geschlagene Stunde gegen unnachlässigen Wind ankämpfen und werden von den ahnungslosen Leuten auf der Straße in alle möglichen und unmöglichen Richtungen geschickt. Bis sie schließlich unverhofft in einer sogenannten Wang Ba, einem Internet-Café landen.

Darunter darf man sich aber kein nettes Plätzchen vorstellen, wo man bei einer dampfenden Tasse Cappuccino und Launch-Musik seine Bachelor-Arbeit weitertippen kann. Stattdessen finden sich Franzi und Maurice in einem abgedunkelten Raum wieder, in dem man so wenig Zeit wie möglich verbringen möchte, da er dem Besucher die Lebensenergie zu entziehen scheint. Im Zwielicht sitzen reihenweiße kettenrauchende Spielsüchtige, deren Gesichter kränklich von den breiten Bildschirmen beleuchtet werden. Durch ihre Headphones vom echten Leben abgeschirmt, haben manche von ihnen schon mehrere Tage ohne zu schlafen in der Internet-Hölle verbracht und ballern sich durch virtuelle Welten. Ihre geröteten, blutunterlaufenen Augen starren willenlos auf den Monitor und nehmen keinerlei Notiz davon, dass sich gerade zwei Ausländer an ihnen vorbeidrängen. Selten haben sich die Freiwilligen so fehl am Platz gefühlt. Egal, was tut man nicht alles, um ans Ziel zu gelangen! Aber selbst nach intensiver Suche sind sie dem Ziel noch immer nicht näher. Es gibt einfach keine preislich halbwegs akzeptablen Flüge mehr! Niedergeschlagen reißen sich die beiden von dem Computer los und eilen schleunigst aus der Wang Ba. Gerade noch rechtzeitig, um mitzuerleben, wie der völlig wahnsinnig gewordene Zocker in der Ecke hysterisch zu lachen beginnt, während sein Alter Ego massenweise Menschen abmetzelt.

Auf der anderen Seite der Stadt, am Morgen. Zwei verpasste Anrufe blinken auf dem Handy, als Sandra aufwacht. Maurice und Franzi. Besorgt wählt Sandra die Rückruftaste und erfährt die unabdingbare Hiobsbotschaft. Keine Züge nach Sanya. Einige Zeit später folgt die nächste böse Überraschung. Auch um die Flüge steht es schlecht. Also bietet sie den anderen Gestrandeten wenigstens an, die Nacht bei ihr zu verbringen, um am nächsten Tag weiter zu planen.

Irgendwann am Nachmittag erreichen Franzi und Maurice endlich Sandras Wohnung. Der Rücken schmerzt, die Kräfte schwinden. Schweren Herzens ruft Sandra die anderen, bereits am Strand in der Sonne liegenden Freiwilligen an und verkündet ihnen die schlechten Nachrichten. Um ein wenig Abstand von den deprimierenden Ereignissen der vergangenen Stunden zu bekommen, lädt sie ihre Freunde auf die Lehrer-Weihnachtsfeier ihrer Schule ein. In einem exklusiven Restaurant tanken sie bei allerlei leckeren Gerichten und Karaoke wieder ein wenig Energie. Wirklich genießen kann Franzi das Spektakel allerdings nicht, denn die Zeit tickt und im Ungewissen zu hängen ohne voranzukommen fühlt sich fast so schlimm an wie planlos durch Guangzhou zu laufen. Hoffentlich wird der nächste Tag erfolgreicher verlaufen!

23. Dezember – noch ein Tag bis Weihnachten

Guangzhou, am Morgen. Franzi hat das Weckerklingeln regelrecht sehnsüchtig erwartet. Die Nacht war kurz und wenig erholsam auf der Campingliege, aber das hält sie nicht davon ab, mit den anderen schnellstmöglich zur Ticket-Office zu spurten. Doch der Wind wird ihnen abrupt aus den hoffnungsvoll gehissten Segeln genommen. Nicht einmal Stehtickets will man ihnen verkaufen. Wunderbar. Nun sitzen die drei wohl wirklich in Guangzhou fest. Resigniert schauen sich Franzi und Maurice in die Augen. Ein letzter Funken Kampfgeist erstrahlt in ihnen. Ruhig Blut, letzte Reserven bündeln und erst einmal zu McDonald’s, um einen Notfall-Plan zu erstellen. Gibt es überhaupt noch eine realistische Alternative, rechtzeitig ans Ziel zu gelangen?  Ein Taxi überfallen und den Fahrer dazu zwingen, 900 Kilometer nach Sanya zu fahren! Waffen kaufen, ein Schiff kapern und selbstständig übersetzen. Ob Kulturweit solche Freiwilligen-Projekte akzeptieren wird? Wohl eher nicht. Innerlich kochend vor Wut über die Ausweglosigkeit der Situation beginnt Franzi, eine SMS zu tippen, in der sie all ihren Ärger bündelt.

Sanya, am Vormittag. Eine sommerliche Brise weht über den kleinen Balkon des Hostels in den mit Matratzen ausgelegten Aufenthaltsraum. Endlich auf Hainan!, denkt Julian, dessen  Maschine in der vorigen Nacht auf der Insel gelandet ist. Während sich manch anderer Freiwillige noch um den wohlverdienten Sonnenbrand kümmert, macht er sich bereits über Toast und Spiegeleier her. Strahlend wie immer reicht Robert ihm seinen Kokosnuss-Kaffee. Kai meinte ja, der solle wohl recht lecker schmecken. Tatsächlich, echt nicht schlecht, diese Kombination. Zufrieden an der Tasse nippend holt Julian sein Handy hervor – und staunt nicht schlecht über die geballte Ladung an Frust, die ihm da entgegen geschleudert wird. „So eine verdammte ***. Wir haben alles, aber auch alles versucht. Ich bin 17 Stunden nach Guangzhou gefahren, um einen Tag herumzuirren bei *** Wind und *** Menschen, die uns in falsche Richtungen schicken, obwohl wir doch nur nach Sanya wollen. Diese (hier bitte besonders kreativen Kraftausdruck einfügen) wollen uns Weihnachten versauen!“

Ach du liebe Zeit, da ist ja echt alles schief gelaufen, was nur schieflaufen kann. Besorgt erzählt Julian den anderen von Franzis Nachricht. Welchen halbwegs guten, hilfreichen Ratschlag kann man wohl darauf nur geben? Ein ums andere Mal hält Tom den Tipp des Tages bereit: Wie wäre es mit einem Fernbus?

Guangzhou, am Mittag. Von neuer Hoffnung angetrieben kehren die drei Festsitzenden zurück in Sandras Wohnung, um das Reisegepäck aufzuschnallen. Auf gut Glück natürlich. Aber man weiß ja nie. Anschließend hasten die Freunde ein letztes Mal zum Bahnhof, nur für den Fall, dass vielleicht wenigstens Sandras Zug wie geplant eintreffen wird. Doch selbst am Ticketschalter und im Infocenter weiß keiner darüber Bescheid. Nur die Putzfrau ist felsenfest überzeugt: der Zug fährt. Immerhin etwas. Leider will man ihnen auch dafür keine zwei zusätzlichen Fahrscheine verkaufen. Nicht mal auf dem Gang möchte man Maurice und Franzi mitfahren lassen. Wenig förderlich für die allgemeine Stimmung.

Letzte Chance: der Fernbus! Aber wo befindet sich nur der Kartenschalter? Ein scheinbar wissender Chinese führt die drei mitten über eine stark befahrene Straße durch mehrere Hausflure bis zu einer dubiosen Garage in einem Hinterhof. Sehr vertrauenswürdig! Ob der Typ wohl richtig verstanden hat, was die drei kaufen wollen? Eher nicht. Nichts wie zurück zum Hauptbahnhof – und siehe da, dort befindet sich der richtige Schalter. Warum hat den nur vorher niemand gesehen? Das Schicksal scheint heute echt zu Scherzen aufgelegt! Jetzt muss es dort nur noch Tickets geben. Oh Wunder, es sind welche übrig. Aber halt, das wäre doch ein wenig zu einfach gewesen! Zwei Tickets, mehr geht nicht! Verflucht!

Sandra fasst eine Entscheidung: sie überlässt den beiden anderen die Fahrscheine. Immerhin besitzt sie ein gültiges Zugticket und die Aussage der Putzfrau, woher auch immer die so genau Bescheid über die Fahrpläne weiß.

So verabschiedet sich Sandra mit einem unguten Gefühl im Magen von Franzi und Maurice und läuft zum Bahnsteig. Nun wird sich zeigen, wer auf das richtige Pferd bzw. Transportmittel gesetzt hat! Wird die mysteriöse Putzfrau recht behalten? Wenigstens steht der Zug auf der Anzeigetafel angeschrieben. Und tatsächlich: mit der gewohnten halben Stunde Verspätung trifft Sandras einzige Möglichkeit, Weihnachten in Sanya zu verbringen, im Bahnhof ein. Ist das Schlimmste überstanden? Weit gefehlt! Ihr winziges Plätzchen im Hard-Seat-Abteil muss sie sich mit ihrem Koffer und ihrer Handtasche teilen und am Gang rennen ständig Leute an ihr vorbei. Der Vorsatz, sich während der Reise von den Strapazen des Tages zu erholen scheitert hoffnungslos.

Aber – es geht voran! Raus aus Guangzhou der Südküste entgegen! Bis der Waggon mitten in der Nacht irgendwo in der Pampa stehen bleibt. Ein Überfall? Nach zwei Stunden angespannten Wartens setzt sich das Abteil auf einmal wieder in Bewegung. Über eine Stahlbrücke geht es in den Bauch einer riesigen Fähre! Deshalb werden auf den Karten im Internet also keine Brücken zwischen Hainan und dem Festland angezeigt. Es gibt nämlich einfach keine. Wer mit dem Zug zur Insel will, wird am Hafen in ein Schiff verladen. So zerlegt man den gesamten Zug in drei Teile und schraubt das Ganze auf dem Boden des gigantischen Frachtraums fest. Aufs Deck laufen, um die Aussicht zu genießen darf aber niemand. Stattdessen muss Sandra auf ihrem äußerst bequemen Sitz ausharren, ohne dass sich zumindest optisch etwas ändert. Doch plötzlich heulen die Triebwerke auf und alles beginnt zu schwanken. Man fühlt also, dass man sich auf einem Schiff befindet, ohne es jemals wirklich zu sehen. Und trotzdem, auch wenn Sandra unter Deck keinerlei Überblick über die Außenwelt hat, weiß sie doch, dass Sanya immer näher kommt! Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die anderen endlich wiedersehen darf.

Zurück in Guangzhou, am Nachmittag. Erwartungsvoll steigen Maurice und Franzi in den hart erkämpften Fernbus, in dem sich drei enge Reihen Doppelstockbetten vor ihnen erstrecken. Am Ende eines Labyrinths aus Koffern, Taschen und ausgestreckten Beinen erwarteten sie ihre eigenen höchst komfortablen Holzbetten, auf denen sie ihr gesamtes Gepäck abstellen müssen. Ratternd fährt der Bus an. Was blubbert denn da so seltsam aus der Fahrerrichtung? Perplex sieht Franzi dabei zu, wie der Busfahrer sich eine selbstgebastelte Bong anzündet und mit seinen beiden Kumpels lachend einen Zug nach dem anderen nimmt. Oh nein, auf was hat sie sich da nur eingelassen? Leider war das erst der Anfang.

Nach mehreren lebensgefährlichen Überholmanövern und dubiosen Rasten hält der Bus schließlich auf einem Schlachthof an. In der Dunkelheit der Nacht jaulen Hunde herzerweichend und Kisten, die verdächtig nach gammligem Fleisch stinken, werden in den Gepäckraum geladen. Was geht hier nur vor? Trotz der Absurdität der Situation fallen die beiden überanstrengten Reisenden in einen unruhigen Schlaf.

Um 1.30 Uhr werden Maurice und Franzi plötzlich unsanft aus den fiebrigen Träumen gerissen. Der Bus bremst abrupt ab, ohne Vorwarnung geht das Licht an und zu allem Überfluss schreit der Busfahrer aggressive Kommandos in den Schlafraum hinein. Alles stürmt nach draußen und muss sich dort militärisch in zwei Reihen aufstellen. Eisige Kälte lässt Franzis ermüdete Glieder erzittern. Zu ihrer Linken klatschen die Wellen des Meeres an den Kai. Tickets werden ihnen in die Hände gedrückt und im nächsten Moment werden die Passagiere von ihren Sklaventreibern in eine Halle gelotst. Zehn Minuten herrscht eine angespannte Ruhe vor dem Sturm. Dann bricht das totale Chaos los. Die gestresste Menge rennt in Richtung Ausgang, mitten unter ihnen zwei arme Freiwillige, die sich fühlen wie der Sektkorken in der Flasche.

Von gebrüllten Befehlen begleitet strömen die Reisenden auf eine Fähre, wo man sie in einer weiteren Halle zusammendrängt. Lautsprecher, die ein ohrenbetäubendes Informationsgewirr verkünden und die grelle, unnatürliche Beleuchtung lassen die ganze Szenerie beinahe surreal erscheinen. Maurice und Franzi retten sich erschöpft an die Reling und sehen zu, wie die Küste von der Nacht verschluckt wird. Hoffentlich fährt das Schiff überhaupt nach Hainan und nicht auf einen illegalen Sklavenmarkt!

Nach zwei Stunden setzen die Triebwerke aus. Kein Land in Sicht. Wie beruhigend. Völlig übermüdet gehen die beiden zurück in die laute Halle und kauern sich in eine Ecke. Komaschlaf übermannt sie in Sekundenschnelle.

Plötzlich wacht Maurice erschrocken auf. Irgendetwas stimmt nicht – und es wird schnell klar, was. Die gesamte Halle ist leergefegt. Zu Tode geschockt sprinten die Freunde hinunter in den geöffneten Frachtraum, wo gerade die Motoren dutzender Motoren aufheulen. Wo zum Geier steckt ihr Bus? Sie sind jetzt so weit gekommen, man kann sie doch jetzt nicht einfach hier zurücklassen! Ihr ganzes Gepäck befindet sich schließlich noch da drin! Gehört das etwa alles zum Plan? Oh nein, die ersten Busse und LKWs setzen sich bereits in Bewegung! Mit bis zum Halse klopfenden Herzen stürzen sich die beiden ins Chaos. So schnell wie möglich zwängen sie sich an anfahrenden Ungetümen vorbei und werden von ihrem giftigen Qualm eingehüllt. Ein falscher Schritt und sie werden von den Rädern dieser lärmenden Monster zerquetscht. Panik und Todesangst schnürt Franzi die Kehle zu, während sie durch den nebeligen, quietschenden, hupenden Irrgarten rast. Sonnenschein. Sie haben es nach draußen geschafft! Wer brüllt denn da so? Der Busfahrer! Dem Himmel sei Dank! Nichts wie rein ins Fahrzeug! Jetzt müssen sie nur noch die letzten fünf Stunden überstehen.

24. Dezember – Heilig Abend 

Auf dem schicksalhaften Busbahnhof in Sanya

Sanya, am Morgen. Nach neunzehn vollkommen abgedrehten Stunden stolpern Maurice und Franzi aus dem Bus. Gerädert und mit Tränen in den Augen schreit Franzi in einem letzten, wohlverdienten Gefühlsausbruch das in der Ferne verschwindende Höllenfahrzeug an. Die beiden können es kaum fassen – sie sind endlich in Sanya. Am 24. Dezember kommen sie endlich an.

Um 8 Uhr morgens vibriert mein Handy. Plötzlich hellwach schäle ich mich aus dem Bett in unserem wunderschön rosa gestrichenen Dormitory und renne gespannt die Treppe zur Rezeption hinunter. Unten auf dem Sofa vor der geöffneten Eingangstür sitzt ein Mädchen mit einem Koffer und einer Handtasche. „Sandra!!!“ Strahlend fallen wir uns in die Arme. Unglaublich, dass wir uns nach allem, was geschehen ist, wirklich treffen. Jetzt fehlen nur noch Maurice und Franzi.

Doch nicht mehr lange, denn am Nachmittag werden die beiden tatsächlich von ihrem Taxi im Captain’s House abgesetzt. Verständlicherweise wirken sie ein wenig wie zwei Schiffbrüchige, die nach Wochen auf hoher See endlich das sichere Ufer erreichen, aber die Wiedersehensfreude bleibt ungebrochen. Endlich fällt die Anspannung der letzten Tage von uns ab. Sonderlich nervenaufreibend war es ja nicht wirklich für mich, tatenlos mit gebundenen Händen am Strand herumzuliegen, mitgefiebert habe ich natürlich trotzdem aufgeregt. Doch wir haben es geschafft – wie geplant sind alle sieben Freiwilligen im Captain’s House versammelt. Jetzt kann Weihnachten wirklich kommen!

Im VIP-Bus

Als der Abend unseres ersten gemeinsamen Tages über Sanya dämmert, machen wir uns mit Tom und einigen anderen netten Deutschen, die wir im Hostel kennengelernt haben, auf den Weg in die Innenstadt. Für umgerechnet fünf Euro ersteigert uns Tom einen VIP-Bus, der uns zu einer riesigen Halle voller Tische und Kochstellen bringt. Hier werden wir also unser Weihnachtsessen einnehmen. Auf meine Verantwortung. Bevor wir aufgebrochen sind, hat Tom mich nämlich zum Gruppenleiter ernannt und ich darf nun höchst demokratisch die Entscheidungen über den Kopf der anderen hinweg fällen. Vertrauensvoll drücken mir alle Gruppenmitglieder siebzig Yuan in die Hand, mit denen ich dann einkaufen gehen soll. Na, wenn das mal gut geht! Anstatt ganz normal ein paar verschiedene Gerichte zu bestellen, führt mich Tom in den etwas abgeschirmten,  hinteren Teil der Halle.

Ein Riesen-Restaurant in einer alten Turnhalle

Der entpuppt sich als Fischmarkt, auf dem alle nur erdenklichen Meeresbewohner zum Kauf feilgeboten werden. Natürlich lebendig, versteht sich. Und woher soll ich bitteschön wissen, was davon lecker schmeckt? Von der Vielfalt etwas erschlagen, laufe ich an einem Aquarium nach dem anderen vorbei. Es hilft alles nichts – Probieren geht über Studieren! Also zeige ich auf gut Glück auf irgendwelche Tierchen und versuche einigermaßen abzuschätzen, wie viel man denn davon braucht. Den glücklichen Auserwählten wird allerdings nicht gleich der Hals umgedreht, das wäre ja langweilig. Stattdessen steckt man sie in einen wassergefüllten Beutel und überlässt diesen dann dem Käufer. Wie in der Zoohandlung – mit dem kleinen Unterschied, dass man die Tiere nicht kauft, um sie möglichst lange am Leben zu halten. Nach einiger Zeit fängt das Ganze sogar an, mir Spaß zu machen. Ich ziehe fachmännisch an den Tentakeln von auf den Trockenen liegenden Tintenfischen, schätze mit meinem geübten Kennerblick ab, welcher der bunt gefärbten Krebse wohl das beste Fleisch hergibt und beschwere mich wissend über die viel zu teuren Garnelen.

Gefüllte Seeigel – weniger spannend, als sie aussehen

Bevor ich vollends in den Kaufrausch verfalle, steuern wir, über und über mit zappelnden Beuteln behängt, eine der Kochstellen an. Dort darf ich noch entscheiden, ob ich die einzelnen Gerichte gebraten, gedämpft oder gekocht haben möchte und setze mich dann zufrieden zu den anderen an den großen, runden Tisch. Kurze Zeit später wird unser Festmahl endlich aufgetischt. Drei Platten Auberginen, Tomaten-Rührei, zwei Kilo Shrimps, drei Tintenfische, zwei Teller Muscheln, ein großer, undefinierbarer Meeresfisch, vier Seeigel und sechs Krabben türmen sich vor uns zu einem der besten Abendessen meines bisherigen Freiwilligendiensts auf. Zwar vermisse ich bei dem Ganzen ein bisschen meinen traditionellen Weihnachts-Truthahn, doch die geballte Ladung deliziöser Meeresfrüchte vertritt den gefüllten Puterich ausnehmend gut. Ich hätte nie gedacht, das mal zu sagen, aber selbst die Tintenfische zergehen förmlich auf der Zunge. Nicht dass ich jemals ein Problem mit meinen achtarmigen Freunden gehabt hätte, versteht sich.

Die folgenden Minuten beschäftigen wir uns eingehend damit, dutzende Garnelen zu häuten (naja, zumindest diejenigen, die die Geduld dafür haben), Krebse auseinanderzunehmen und die überraschend unspektakulären Stachelträger auszulöffeln. Als persönliches Finale möchte ich mich schließlich über das Backenfleisch des mittlerweile skelettierten, absolut köstlichen Fischs hermachen. Entsetzt muss ich jedoch feststellen, dass mir bereits jemand zuvor gekommen ist. Tom, der meinen enttäuschten Blick bemerkt, meint tröstend: „As group leader, you can still eat the brain of the fish. Wanna try?“ Aber sicher. Duck Head habe ich ja schon wohl oder übel an meinem ersten Tag in Wuhan probiert. Warum dann nicht auch Fisch! Also knackt Tom den Schädel für mich, damit ich dessen wunderbar pampiges Inneres ausschlürfen kann. Was ist weihnachtlicher, als an Heilig Abend ein Gehirn zu verspeisen!

Mit einem halben Aquarium im Bauch kehren wir ins Hostel zurück und verabschieden uns von Tom und den anderen Deutschen. Sieben glücklich vereinte Freiwillige  laufen sodann hinunter zum Meer, um hier wie vor einer halben Ewigkeit beschlossen, den Heiligen Abend zu verbringen. Kein einziger Mensch teilt sich den Strand mit uns. Nur ein gelangweilter Wachmann schaut interessiert dabei zu, wie sich diese komischen Ausländer auf ihren Handtüchern niederlassen und ein paar Kerzen anzünden. Unter uns der warme Sand, vor uns das rauschende Meer, hinter uns die Kokospalmen. Tausende Kilometer von uns entfernt unsere Familien. Es fühlt sich schon seltsam, ja bittersüß an, Weihnachten zum ersten Mal nicht im heimatlichen Wohnzimmer zu verbringen. Ohne einen geschmückten Weihnachtsbaum, Zimt-Duft, Weihnachtslieder und die liebe Verwandtschaft. So lernt man das, was man normalerweise gewohnt ist – das, was nun fehlt, immerhin richtig zu schätzen.

Vier Kerzen und ein Weihnachtsbaum – was braucht man mehr?

Doch was fehlt, wird durch etwas Neues ersetzt. Und dieses Neue gerät weihnachtlicher, als ich mir es mir je vorgestellt hatte. Andächtig verputzen wir Schokolade, Marzipan-Kartoffeln und den Nougat-Christstollen, den ich aus Deutschland zugeschickt bekommen habe. Er hat die Reise erstaunlich gut überstanden. Sandra hat sogar ein kleines Tütchen mit weihnachtlichen Gewürzen mitgebracht, aus dem alle einmal inhalieren dürfen. Im Kerzenschein singen wir um ein kleines LED-Bäumchen versammelt „O Tannenbaum“ und Simon gibt sogar mit unserer tatkräftigen Unterstützung einige Weihnachts-Gedichte zum Besten. Gespannt wie kleine Kinder packen wir unsere Geschenke aus und freuen uns tierisch über Mao-Anhänger, Geldbeutel, noch mehr Schokolade, neue Teeflaschen, dazu passendem Tee und chinesische Bücher. Nachdem jeder der Reihe nach seine kleine Bescherung hatte, fallen wir uns gegenseitig „Frohe Weihnachten!“ wünschend in die Arme und gehen zu einer vollkommen angebrachten Runde Flunky-Ball über.

Danach sind auch die letzten Kräfte aufgezehrt, sodass wir uns einfach nebeneinander in den Sand fallen lassen. Die zufriedene, entspannte Stille wird nur unterbrochen von den Wellen, die sich leise am Ufer brechen. Ich sehe zu, wie eine Sternschnuppe über den klaren Nachthimmel saust. Im Moment wünsche ich mir nichts weiter, als hier zu sein. Auch wenn ich meine Lieben in Deutschland an jenem Abend besonders vermisse, bin ich glücklich, dieses ganz besondere Weihnachten unter Palmen nicht alleine, sondern mit sechs Freunden teilen zu dürfen. Irgendwie haben wir es alle geschafft, rechtzeitig an diesen Ort zu kommen. Es gibt eben doch noch Weihnachtswunder!

Achievement unlocked – Weihnachten unter Palmen

 

Für alle Leser, die jetzt immer noch nicht genug von Weihnachten im Januar kriegen können, habe ich hier noch ein kleines Video. In diesem singen die Kinder aus meiner Deutsch-AG und eine meiner Deutschklassen zwei Weihnachtslieder. Die haben wir dann auf der Weihnachtsfeier vorgetragen, die just an dem Tag stattfand, als Flo und ich endlich unser Hostel buchen wollten. Das Ganze haben wir Wuhaner Freiwilligen zusammen auf die Beine gestellt, um unseren Schülern ein wenig besinnliche Atmosphäre und einen Hauch von Weihnachten in Deutschland zu vermitteln.

Mit einer ausgewählten Anzahl von Schülern im Schlepptau trafen wir uns an Philipps Schule. In dem sogar mit einem richtigen Weihnachstsbaum ausgestatteten Hörsaal trugen einige Schüler von Simon Gedichte vor und Philipp bastelte Weihnachtssterne mit unseren Schützlingen. Anschließend erklärte Flo, wie man Vanillekipferl zubereitet und schließlich warteten meine eigenen Schüler mit „O Tannenbaum“ und „Wir wünschen euch frohe Weihnacht“ auf. Zur Belohnung durften alle über haufenweise Plätzchen, Lebkuchen und Spekulatius herfallen, die ich nach drei Stunden Suche in einem Supermarkt aufgetrieben hatte.

Von dem zweiten Lied gibt es, wie man im Clip sieht, auch eine chinesische Fassung. Natürlich war ich felsenfest davon überzeugt, dass die jeder kennt, aber da hatte ich mich wohl getäuscht. Das endete dann darin, dass ich tatsächlich vor versammelter Mannschaft auf Chinesisch vorsingen musste. Ein Glück gibt es davon kein Video!

http://www.youtube.com/watch?v=rF4sM4pJdsw&feature=youtu.be

 

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