Mr. Kai’s Series of Unfortunate Events

Hier nun der Grund, warum ich meine letzten beiden Blogeinträge noch weniger zeitnah als gewohnt veröffentlicht habe. Es tut mir jetzt schon aufrichtig leid, dass dieser Schinken von Artikel nicht einmal durch ein paar nette Bilder aufgelockert wird. Dafür gibt’s am Ende eine kleine Belohnung!

 

Im Dasein als Kulturweit-Freiwilliger ist nicht immer alles Friede, Freude, Mondkuchen – das weiß ich mehr als genau, seit ich das erste Mal mitten in der Nacht recht ratlos vor dem verschlossenen Schultor stand. Dennoch blickte ich nach dem äußerst motivierenden und erbaulichen Zwischenseminar ziemlich optimistisch auf die Zeit zurück in Wuhan. Was mich dort jedoch erwartete, entwickelte sich mit der Zeit zu einem Abschnitt in meinem Freiwilligendienst, der mich unangenehm an Lemony Snickets „A Series of Unfortunate Events“ (oder wie der Titel der Verfilmung zu gut Deutsch lautet: Rätselhafte Ereignisse) erinnerte. Zum Glück wurde bei diesen Ereignissen bisher noch niemand von Riesenblutegeln gefressen oder im Auto sitzend von einem Zug gerammt, aber Letzteres sollte sich als gar nicht allzu weit hergeholt erweisen.

Ereignis 1: Ein Magen-Melodram

Rätselhafte Ereignisse begannen direkt nach meiner Ankunft in der „Heimatstadt“ zu passieren – und zwar in meinem Magen. Der schien offenbar nicht wirklich mit einem ungewissen Etwas einverstanden zu sein, das ich ihm wohl unachtsamerweise zugemutet hatte. Um seine Ablehnung kund zu tun, hielt er es für eine gute Idee, mir das Gefühl zu geben, ein Stachelschwein verschluckt zu haben. Gut, dass ich sämtliche verfügbare Medikamente sorgsam während des Seminars auf die halbe Freiwilligenschaft verteilt hatte.

So verbrachte ich den ersten Tag zurück an der Einsatzstelle in Gesellschaft meiner Tee- und Wärmflasche mehr oder weniger in horizontal ausgerichtet. Da es sich in dieser Position jedoch äußerst schlecht unterrichten lässt und mein Magen und ich am Abend nach wie vor auf Kriegsfuß standen, beschloss ich, dem Ganzen ein hoffentlich schnelles Ende zu setzen. Der gar glorreiche Einfall, allein in eine chinesische Apotheke zu stiefeln, ging aber erst mal vollkommen nach hinten los. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn der Apotheker wollte mir einfach dreist sein teuerstes Abführmittelchen andrehen, das er in einer seiner Glasvitrinen fand. Folglich musste mir mal wieder die arme Chang E aus der Patsche helfen, der ich mit hochrotem Kopf von dem Stachelschwein in meinem Bauch erzählte. Von der plötzlichen Anwesenheit der gewitzten und durchaus fachkundigen Chinesin eingeschüchtert händigte man mir kurzerhand ein völlig anderes Präparat aus, das scheinbar keine Nebenwirkungen besitzt, weil es so viel gute, traditionelle Medizin enthält.

Lediglich eine relativ morastig schmeckende Pille später schien sich das Stachelschwein in Luft aufzulösen und machte stattdessen einem Bärenhunger Platz. Tja, auf TCM ist eben Verlass, dachte ich mir, während ich zufrieden einen Essenstand nach dem anderen in der Nachbarstraße der Schule abklapperte. Gefahr gebannt, oder? Fehlanzeige.

Ereignis 2: Die Mauer muss weg!

Nachdem ich am nächsten Morgen einen Haufen Wiedersehensfreude im Büro nachgeholt hatte, freute ich mich darauf, den E-Mail-Berg zu checken, der sich seit der Zeit in Hangzhou angehäuft hatte. Voller Tatendrang schwang ich mich vor meinen Laptop. Sämtliche Browser schafften es innerhalb von zehn Minuten aus irgendeinem Grund immer noch nicht, mich mit meinem Mailanbieter geschweige dem meinem Online Banking Account zu verbinden. Brauchte mein Computer wohl noch ein wenig Zeit, um sich wieder in Wuhan einzugewöhnen? Oder war das Netz gerade schlicht mal wieder überlastet, weil zu viele Lehrer gleichzeitig ihre Lieblingsserien schauten? Dann musste eben Yang Xis Notebook ran. Netzwerk-Zeitüberschreitung. Super. Mir blieb demnach nichts anderes übrig, als einen Tag lang abzuwarten und zu hoffen, dass sich mein Problem einfach bis dahin wie mein Stachelschwein verflüchtigen würde. Wieder Fehlanzeige. Obwohl ich schon einige Erfahrungen mit dem launischen Internet hier gemacht hatte, bekam ich es langsam mit der Angst zu tun. Hatte etwa jemand meine Konten gehackt? Wollte man mich ruhigstellen, damit ich nicht wieder etwas über die wenig schmeichelhaften Spitznamen gewisser Organisationen ausplaudere? Beides nicht gerade angenehme Vorstellungen!

Ein letzter Ausweg bot sich mir noch: Starbucks. Vielleicht hatte ich mit der kostenlosen Wi-Fi-Verbindung dort ja mehr Glück. Und tatsächlich, nach wochenlanger Abstinenz gelang es mir endlich mit einem exquisiten Caramell Latte in der Hand, auf meine wichtigsten Seiten zuzugreifen. Das hieß folglich, dass man seit Kurzem durch unser Lehrerzimmer ein besonders fettes Stück der Great Firewall leitete. Mysteriös. Aber egal, wenigstens war ich nicht gehackt worden und fürs Erste gab ich mich damit zufrieden, mir einen Nachmittag lang die Finger wund zu tippen, da es so einiges abzuarbeiten galt.

Zwar wiederholte ich diese bewährte Prozedur auch am folgenden Tag, aber mir leuchtete durchaus ein, dass ich von jetzt an nicht jedes Mal zu Starbucks pilgern konnte, wann immer ich eine vernünftige Internetverbindung brauchte. Dazu fehlte mir sowohl die Zeit als auch das Geld. Meine gemeinsame Zukunft mit meinem Lieblings-Café entschied sich allerdings von selbst, als ich feststellen musste, dass ich hier plötzlich überhaupt nicht mehr ins Netz durfte. So ein Mist! Jetzt hatte ich mir meinen Caramell Latte ganz umsonst gekauft! Oder doch nicht?

Als ich gerade resigniert meinen Laptop zuklappte, sah ich Cherry und Tao, die (leider mittlerweile ehemaligen) Bedienungen aus dem Feelings, winkend auf mich zukommen. Nachdem ich ihnen mein Problem erklärt hatte, schauten die beiden mich nur ein wenig verdutzt an – „Im Feelings gibt es doch auch kostenloses Internet – und heute sind sogar alle heißen Getränke umsonst! Das musst du doch wissen!“ Dafür, dass ich dort ständig rumhänge, war es wirklich fast ein bisschen peinlich, dass ich das nicht wusste. Was soll’s, auf in Feelings!

Bei einem leckeren Gratis-Cappuccino bewies sich mal wieder, dass diese Bar einfach immer eine gute Adresse ist, egal welche Sorgen einen plagen. Das ganze Word Wide Web öffnete seine Pforten auf einmal unverhofft für mich – das heißt, zumindest durfte ich meine Mails und Konten ungestört checken. Dennoch blieben die meisten sozialen Netzwerke, Videoplattformen und haufenweise Seiten mit bestimmten bösen Schlagwörtern weiterhin eingemauert. Doch das ließ sich ändern – und diese Gelegenheit wollte ich mir nicht entgehen lassen. Genauso wie die echte große Mauer stellt auch das virtuelle Pendant kein unüberwindbares Hindernis dar. Tatsächlich führen nämlich zahlreiche Tunnel unter der Great Firewall hindurch. Die wurden allerdings nicht von den Mongolen gegraben, sondern von ein paar findigen vpn-Firmen. Das Dumme an diesen Tunneln ist lediglich, dass man sich die Eintrittskarte dafür nur im Ausland kaufen kann, weil China alle Websites, die mit derartigen Diensten werben, sperrt. Fast alle. Nadine hatte mich nämlich kürzlich auf den Anbieter „Astrill“ hingewiesen, dessen Online-Präsenz ich ohne Probleme aufrief. Schnell den Black-Friday-Rabatt genutzt, für drei Monate meinen eigenen Tunnel gemietet und  dann hieß es endlich „Willkommen zurück in der Abhängigkeit von Facebook und Youtube, Mr. Kai!“.

Ich kann euch sagen, ich habe mich gefühlt wie Dschingis Khan persönlich, als ich erfolgreich meine lange ungenutzten Zugangsdaten für Facebook eintippte! Zwar freue ich mich natürlich immer wahnsinnig, wenn ich einen längeren Brief in meiner Mailbox finde und verfasse auch gerne etwas wohlüberlegtere Nachrichten. Aber einfach mal wieder „Hallo, wie geht’s am anderen Ende der Welt?“ zu schreiben, ohne tagelang auf eine Antwort warten zu müssen, war echt ein Luxus sondergleichen! Die spannende Frage lautet nur, wie lange es dauert, bis man mir mein Tunnel zumauert. Chinas Firewall wird leider ständig erneuert und verbessert, und das in letzter Zeit derart erfolgreich, dass sogar Firmeninterne vpn-Netwerke betroffen sind. Nicht gerade förderlich für die Wirtschaft. Ebenso wenig schlafen jedoch die fleißigen Tunnelbauer, sodass sich der uralte Wettkampf um die Überwindung der Großen Mauer bis heute ständig wiederholt. Im Moment sieht es zumindest noch so aus, als läge mein Kontakt zur Außenwelt vorerst in trockenen Tüchern.

Ereignis 3: Auf dem Trockenen

Trocken wurde es auch nach meinen Internet-Eskapaden, allerdings nicht aufgrund der Tatsache, dass der nächste Regenschauer schon verdächtig lange auf sich warten ließ. Eines a****kalten Morgens wagte ich mich auf meinen ebenso a****kalten BBB, um eine hoffentlich warme Dusche zu nehmen. Da ich mittlerweile sehr genau Bescheid weiß, in welche Richtung man den Regler bewegen muss, sollte das eigentlich kein größeres Problem darstellen. Also drehte ich frohen Mutes mit zitternden Knien und halbgeschlossenen Augen den Duschhahn auf. Nicht nass. Das deute ich in meiner Wohnung normalerweise als gutes Zeichen. Angesichts dessen, dass ich aber doch sehr gerne duschen wollte, machte ich heute mal eine Ausnahme. Ging der Wasserhahn an der Spüle etwa auch nicht mehr? Tropf, tropf, Bingo! Soso, nachdem ich mir selbst das Internet aufgedreht hatte, war mir nun das Wasser abgedreht worden. Man darf ja nie zu viel auf einmal erwarten.

Im Lehrerzimmer erfuhr ich, dass es wohl heute auf dem gesamten Gelände der Wuhan University kein fließendes Wasser gab. Warum und wann es wieder zurückkam, wusste leider niemand so genau. Keine große Tragödie – solange man nur einen großen Bogen um die Schultoiletten machte. Es schien ja bereits zu anderen Gelegenheiten nicht wirklich in Mode zu sein, die Klospülung zu betätigen, doch das heutige Spektakel übertraf alles bisher Dagewesene. Der Umwelt zuliebe werde ich darauf lieber nicht weiter eingehen, jedenfalls floss das Wasser am nächsten Morgen zwar zuerst recht bräunlich, aber doch stetig wieder. Seitdem muss ich allerdings damit rechnen, dass ich nachts beim Auffüllen meiner Wärme-Tee-Flasche auf eine leere Leitung stoßen könnte. Wenigstens weiß ich jetzt, dass ich nicht dauerhaft auf dem Trockenen sitzen muss.

Ereignis 4: Das Haus, das Verrückte macht

Der glückliche Umstand, dass ich gerade in meinem Zimmer und nicht im Flieger ins Ausland sitze, erscheint mir seit dem vierten rätselhaften Ereignis gar nicht mehr so selbstverständlich. Ganze sieben Tage, bevor mein Visum auslaufen würde, machte ich mich mit Yin Hui (der dritten Deutschlehrerin im Bunde) auf den Weg, ein neues zu besorgen. Flo, der die nervenaufreibende Prozedur bereits hinter sich hatte, hatte mir zuvor noch erklärt, dass die alte zuständige Polizeistation nicht mehr existierte und wir deshalb gleich zu einer anderen gehen sollten. Guter Tipp. Nach einer Stunde Taxifahrt in den Distrikt Hankou auf der anderen Seite des Yangtses glaubten wir, unser Ziel endlich erreicht zu haben. Oder auch nicht, denn – wer hätte es gedacht – am Ende standen wir vor verschlossenen Türen. Also besorgten wir uns ein neues Taxi und hofften, nun bei der richtigen Adresse herauszukommen. Wenn ich nur gewusst hätte, wie wenig sich die Fahrt lohnte!

Schließlich stiegen wir vor dem „Wuhan People’s Center“ aus, einem riesigen, modernen und komplett rot angestrichenen Gebäude, das zur Erledigung aller möglichen administrativen Angelegenheiten dient. Wenn man die richtigen Angestellten dafür erwischt. Schon als wir die Eingangshalle betraten, beschlich mich ein leicht ungutes Gefühl, weil dies nicht meine erste Begegnung mit jener Art von Angestellten war. Denen habe ich es nämlich zu verdanken, dass ich ganz am Anfang meines Auslandsjahres drei Mal zu einer anderen Polizeistation pilgern musste, um meine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Da konnte es eben passieren, dass die Person, die das alleinige Verfügungsrecht über einen bestimmten Stempel besaß, gerade unumgänglich ihre Kaffeepause machte. Was beim zweiten Besuch schief gelaufen war, ist mir bis heute nicht ganz klar, aber vielleicht funktionierte ja der Kugelschreiber in der Lieblingsfarbe der Empfangsdame nicht mehr.

Mr. Gong hatte mir versichert, dass es mit meinem Visum keine Probleme geben sollte, weil er für mich netterweise ein offizielles Schreiben der Wuhan University ausstellen ließ, an das ich mich jetzt klammerte. Da sich Yin Hui auf den unübersichtlichen Übersichtstafeln genauso wenig zurecht fand wie ich, steuerten wir allerdings gleich zwei Mal den falschen Schalter an. Und wurden schließlich auf Etage Eineinhalb verwiesen. Während wir ein verlassenes, fensterloses Treppenhaus emporstiegen, fragte ich mich, ob man hier nicht zufällig auch das Gleis Neundreiviertel versteckt hielt. Dort oben versteckten sich zumindest endlich die zuständigen Polizisten für internationale Angelegenheiten. Paradoxerweise konnte keiner von denen auch nur ein Wort Internationalisch, aber ich als reicher Laowai hatte ja wie gewohnt meine persönliche Dolmetscherin parat.

Also händigte ich frohen Mutes Mr. Gongs Amnestie-Briefchen an eine Frau hinterm Tresen aus. Die las sich das Ganze sogar, genervt an ihrer Teetasse nippend, durch. Und plötzlich brach eine gar epische chinesische Verbalschlacht zwischen der Polizistin und Yin Hui los. Ach du liebe Zeit, was hatte die Wuhan University denn auf diesen Wisch geschrieben? Nicht genug offenbar, erklärte mir die arme Deutschlehrerin resigniert, die leider als Verliererin die Diskussionsrunde verlassen musste. Scheinbar ging aus dem Zettel nicht hervor, was ich in Wuhan überhaupt genau trieb. „Freiwilligendienst“ zählt nämlich nicht. So etwas gibt es in China nicht. Entweder man studiert, man arbeitet oder man ist Tourist. Dumm gelaufen. Was nun? Unverrichteter Dinge von dannen ziehen  – ein ganz schönes Scheißgefühl, um ganz ehrlich zu sein. Hier ein kurzer Auszug aus dem inneren Monolog, den ich während der Heimfahrt führte: „Wird man mich jetzt ausweisen? Wie soll ich denen klar machen, dass ich hier sehr wohl eine Arbeit habe? Herrje, mir blieben doch nur noch fünf Tage! Soll ich schon mal den Flug nach Hongkong buchen, damit ich von dort aus erneut einreisen kann? Das wird bestimmt teuer und langweilig, so ganz alleine. Ich will noch nicht gehen!!!“

„Wirst du auch nicht!“, beruhigte mich Mr. Gong zurück in der Schule. Während ich den Nachmittag auf einem heißen HotPot sitzend verbrachte, setzte sich der Gute  kurzerhand mit der Wuhan University in Verbindung und am nächsten Morgen hielt ich ein verbessertes Schriftstück mit eindrucksvollem roten Stempel in der Hand. Sah genauso aus wie das Alte. Ob das funktionieren würde? Probieren wir’s aus! Also wieder mit Yin Hui ins Taxi und rüber nach Hankou – wenigstens gleich zum richtigen Gebäude. Hoch in Etage Eineinhalb und – dem Himmel sei Dank – heute saß ein Mann am Schalter und nicht mehr die Olle mit ihrer blöden Teetasse. Der Polizist ließ seinen Blick kurz fachmännisch über mein Dokument schweifen und als ich schon befürchtete, dass ich wieder umsonst hergekommen war, schaute er auf und erlöste mich mit einem „Hao de“ (Alles klar).

Ich war wieder im Spiel – und jetzt wurde es erst richtig lustig. Los ging der Spaß mit dem Beschriften eines Datenbogens, von denen man im Moment unpraktischerweise keine besaß. Triumphierend zog ich jedoch eine fertig ausgefüllte Version eben jenen Bogens aus meinem Rucksack, von dem es eigentlich geheißen hatte, dass ich sie nicht brauchen würde. Glück gehabt. Im Austausch dafür erhielt ich eine Art Rechnung für die Visumsgebühren. Mit der hasteten wir ins Erdgeschoss an einen Schalter, an dem uns eine junge Dame sagte, wie viel der Spaß nun kostete. Selbstverständlich durften wir nicht gleich dort bezahlen, sondern mussten weiter zur hauseigenen Bank. Gebühr bezahlt und mit der Quittung wieder zurück zum letzten Schalter, um da noch einen Stempel drauf zu bekommen. Wenigstens war die Stempelfrau nicht in der Zwischenzeit zur Kaffeepause aufgebrochen. Leicht außer Atem kletterten wir anschließend noch einmal auf Etage Eineinhalb zu unserem Ausgangspunkt. Der nette Polizist drückte mir schließlich noch eine Art Abholnummer auf die Quittung und kassierte meinen Reisepass zur Erneuerung ein. Fertig. Fürs Erste.

Als wir das Gebäude endlich verlassen durften, fühlte ich mich ein bisschen wie nach einem Besuch im Haus, das Verrückte macht. Sei’s drum, heute waren wir siegreich aus der Schlacht hervorgegangen. Ein paar Tage später erhielt ich sogar meinen Reisepass zurück, in dem ein nagelneues Visum für sechs Monate mit zwei Ausreisen klebte. Herrlich. Zuvor allerdings musste ich mich bemühen, eine Woche lang nicht unangenehm aufzufallen, da ich ja keinen Pass besaß, um mich auszuweisen. Leichter gesagt, als getan, wie sich herausstellte.

Ereignis 5: Kollision

Alle rätselhaften Dinge sind fünf, wie man so schön sagt. Somit stand mir das große Finale leider noch bevor – und es fiel auf den vorletzten Tag ohne Reisepass. An jenem Sonntag wollte ich mich mit Franzi und Jeanne treffen, um eine traditionell chinesische Akupunktur-Behandlung auszuprobieren. Die beiden besuchten uns nämlich diese Woche in Wuhan und wir freuten uns darauf, zu erleben, wie es in einem chinesischen Hospital wohl zugeht. So nahm ich zusammen mit Chang E, die das Date mit dem Doktor für uns klargemacht hatte, ein Taxi in Richtung Krankenhaus, wo wir uns mit den Mädels verabredet hatten.

In der Nähe unseres Ziels hielt das Auto am Straßenrand an und Chang E zückte ihren Geldbeutel. Ich öffnete die Türe, wollte gerade zum Aussteigen ansetzen und – „BOUM, c’est le choc!“, wie auf den ersten Seiten von meinem Découvertes-Französisch-Buchs geschrieben steht. Was sollte das denn gerade? Ein E-Bike? Das ist nicht wirklich passiert, oder? Schnell aussteigen und nachsehen. Doch. Scheiße! Kein böser Traum! Tatsächlich hatte ein Motorroller versucht, sich an uns vorbei zu quetschen und war dabei voll mit der aufschwingenden Tür kollidiert. Das Fahrzeug lag nun unversehrt ein paar Meter weiter auf dem Bordstein, nur die Tür sah recht mitgenommen aus. Aber wie ging es dem Fahrer? Oh nein, das waren ja auch noch zwei! Einer davon schien unversehrt, der Beifahrer jedoch hatte sich wohl das Bein verletzt.

Und plötzlich – Renao! Was ist das denn schon wieder? Ganz einfach, als Renao bezeichnet man die Menschentraube, die sich für gewöhnlich innerhalb von Sekunden dort ansammelt, wo es etwas Interessantes zu sehen gibt. Und so standen aus heiterem Himmel plötzlich an die fünfzehn Chinesen um die Unfallstelle, diskutierten lautstark über eine Sache, die sie nichts anging, und schienen es alle besser zu wissen. Daran, dass man vielleicht mal dem Verletzten helfen könnte, dachte nur irgendwie niemand. Also musste ich die arme Chang E mit der Menge zurücklassen und brachte den Mann in das praktischerweise um die Ecke gelegene Krankenhaus. Doch die Englischlehrerin behielt ebenfalls einen kühlen Kopf und verständigte kurzerhand die Polizei. Das gefiel dem E-Bike-Fahrer nicht sonderlich, weil es in China als illegal gilt, Leute für Geld auf dem Rücksitz mitzunehmen (und er genau das getan hatte), doch daran führte kein Weg vorbei.

In der Zwischenzeit harrte ich bei dem unglücklichen Invaliden aus und schleppte ihn hin und wieder vom einen zum anderen Warteraum. So hatte ich mir das mit meinem ersten Besuch in einem chinesischen Hospital nicht vorgestellt! Und dermaßen mies hatte ich mich auch schon seit Langem nicht mehr gefühlt. Natürlich ist es verboten, rechts zu überholen, vor allem wenn man dafür zwischen Auto und Bordstein nur eine Haaresbreite Platz hat. Trotzdem hoffte ich tunlichst, dass dem Mann nichts Schlimmeres passiert war. Bevor wir das aber herausfanden, tauchte schlagartig die halbe Familie des Verletzten auf und starrte mich feindselig an, bis ich endlich Unterstützung durch Chang E erhielt. Sie erzählte mir, dass die Polizei eingetroffen war und wir nun einige Fragen beantworten sollten. Zuvor wollte ich mich noch bei dem Mann entschuldigen, was Chang E widerwillig für mich übersetzte. Die Antwort darauf konnte keine besonders Nette gewesen sein, denn anschließend zerrte mich Chang E umgehend mit verärgertem Gesichtsausdruck von der Menge weg. Später erfuhr ich, dass man etwas in der Art von „Wir pfeifen auf die Entschuldigung, zahl uns lieber sofort die ganze Behandlung“ entgegnet hatte. Danke auch.

Bei der Unfallstelle warteten ein blinkendes Polizeiauto und der dazu gehörige Polizist auf uns. „Passport, please!“ Sh***, es musste ja so kommen. Noch nie hatte irgendjemand (abgesehen von den Fahrkartenverkäufern und den Bahnbeamten) meinen Reisepass sehen wollen, doch gerade wenn ich keinen besaß, wurde er auf einmal interessant. Würde ich dafür jetzt ins Gefängnis gesteckt werden? Nicht ganz, aber auf die Polizeistation fuhren wir trotzdem mit. Zufällig hatte ich nämlich meinen Rucksack mit meinem Laptop mitgenommen, auf der sich ein Scan des begehrenswerten Dokuments befand. Das druckten wir nach einigem Hin und Her aus und widmeten uns dann den Fragen des Herrn Kommissars. Zuerst war mir bei der Sache verständlicherweise überhaupt nicht wohl, insbesondere da ich mich nur indirekt verständigte. Im Kreuzverhör mit einem chinesischen Gesetzeshüter – ich hatte mich beim Antritt meines Auslandsjahrs auf vieles eingestellt, doch das hätte ich mir nie träumen lassen!

Jedenfalls  stellte sich bald heraus, dass sich der Polizist weniger mürrisch und missgelaunt verhielt, als ich zu Beginn dachte. Nachdem er mir eine Flasche Wasser und eine Zigarette angeboten hatte, konnte man zwar immer noch nicht wirklich behaupten, dass sich die Runde zu einem netten Kaffeeklatsch entwickelte, doch wenigstens versicherte der Shifu uns beschwichtigend, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchten. Am Ende spendierte uns unser Freund und Helfer sogar eine Freifahrt mit dem Blaulicht-Wagen zur Bushaltestelle. Wie dieses rätselhaft Ereignis zu Ende geht, weiß ich nach einigen vergangenen Wochen immer noch nicht, obwohl man uns sagte, dass man uns kontaktieren würde, sobald mehr Informationen zur Verfügung standen. Chang E meinte aber  bereits, dass ich eventuell nie wieder etwas von jenem Vorfall hören würde. Wünschenswert wäre es zumindest.

Epilog: Der erste Advent

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Essen fassen!

Während all dem Stress waren mir zwei Dinge beinahe entfallen. Erstens, dass man heute den ersten Advent feierte und zweitens, dass ich mich mit Franzi, Jeanne und Flo zum Abendessen verabredet hatte. Außerdem schuldete ich den Mädels noch eine Erklärung, nachdem ich sie am Nachmittag mit einem kurzen, recht verwirrenden Anruf abgespeist hatte. So traf ich immer noch mit recht wackligen Knien in der Wohnung an der Bierschule ein. Meine Sorgen fielen im Nu von mir ab, als ich dort herzlich begrüßt wurde und mir ein verführerischer Duft aus der Küche entgegen schlug. Flo hatte nämlich aus der Heimat ein Paket mit Spaghetti und italienischen Gewürzen erhalten, das die drei gerade sehr geschickt verarbeiteten. Das Resultat der geballten Kochkünste meiner lieben Mitfreiwilligen schmeckte jedenfalls herrlichst und danach fühlten wir uns derart vollgefressen, dass wir es gerade noch mit Müh und Not aufs Sofa schafften.

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Plätzchen aus der Heimat

Eingehüllt in ein paar warme Decken und mit einer heißen Tasse Tee in der Hand genossen wir höchst weihnachtlich das Meisterwerk „Black Swan“ zusammen. Und während wir uns über eine Schüssel himmlischer, selbstgemachter Plätzchen hermachten, die wiederum ich zugeschickt bekommen hatte, schloss ich innerlich offiziell mit „Mr. Kai’s Series of Unfortunate Events“ ab. Auch wenn ich mir einige dieser Erfahrungen gern gespart hätte, so habe ich doch mal wieder gelernt, dass es meistens für jedes Problem eine Lösung gibt – und dass ein gelegentlicher Schulterblick nie schaden kann. Die Devise lautet: nicht verzweifeln, lieber die Herausforderung angehen, dann findet auch das rätselhafteste Ereignis ein Happy End. Trotzdem freue ich mich nun umso mehr auf unsere baldigen Weihnachtsferien, in denen ich mich am Strand unter der südchinesischen Sonne von den vergangenen Ereignissen erholen darf!

 

Für alle, die es geschafft haben, diese übertrieben dramatisierte Passionsgeschichte bis hierher mitzuverfolgen, gibt es jetzt noch die versprochene Belohnung. Und zwar in Form von zwei völlig aus dem Zusammenhang gerissenen Videos in einer Bildqualität, über die ein Gameboy noch lachen könnte. Viel Spaß!

Nr. 1: Eine Markthalle in Wuhan

Wie ein Fischmarkt in China aussehen kann, wisst ihr ja schon seit meinem letzten Eintrag. Diese Markthalle habe ich aber vor einem Besuch in der Tan Hua Lin mit Jeanne und Franzi entdeckt und fand die Vielfalt der angebotenen Produkte irgendwie faszinierend. Doch Vorsicht: alle Leser, die ein Problem mit abgehakten, noch traurig zuckenden Fischköpfen haben, sollten lieber gleich zum nächsten Video übergehen.

http://www.youtube.com/watch?v=ubf7JwTrvRU

Nr. 2: Ein Kompliment

Lange Zeit wusste ich überhaupt nichts von der Existenz dieses Clips, der mit der Handykamera einer Schülerin aufgenommen wurde. Hier könnt ihr meine neunte Klasse sehen, die das Lied „Ein Kompliment“ vorträgt. Zur Erinnerung: das haben wir zusammen einstudiert, während Yang Xi mit der Hälfte der Klasse in Deutschland war. Meiner Meinung nach leisten meine Schülerchen darin echt gute Arbeit angesichts der Tatsache, dass wir das innerhalb von zwei Schulstunden hinbekommen mussten und sie am Anfang erst einmal ordentlich neue Vokabeln lernen mussten. Denn wer weiß beispielsweise schon, was eine „Schaumkrone der Woge der Begeisterung“ sein soll!

http://www.youtube.com/watch?v=HeoKf9smsEk

 

2 Gedanken zu „Mr. Kai’s Series of Unfortunate Events

  1. Lieber Kai,

    warum mein gestriger Eintrag nicht erscheint, erschließt sich mir nicht.
    Ich hatte Dir, als Dein alter Onkel, geraten, Dich vor Stachelschweinen und Datenuntertunnelungen zu hüten.

    Weiterhin viel Spaß im Reich der Mitte

    Frieder

  2. Hallo Kai,
    ist ja wieder mal sehr spannend und fesselnd! Die Videos geben uns natürlich zusätzlich Einblick in der chines. Lebensart! Tja, und nach all‘ den kleinen Unstimmigkeiten kann’s ja nur noch besser werden!
    LGG

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