Shanghai Nights

Erster Blick auf Shanghai

Kaum waren wir aus der U-Bahn-Station ans Tageslicht getreten, zeigte uns Shanghai, warum die Stadt als eine der am weitesten entwickelten Metropolen Chinas gilt. Die gleißend helle Mittagssonne brach sich in den auf Hochglanz polierten Glasfassaden der Hochhäuser und von den in Wuhan omnipräsenten blauen Bauzäunen fehlte jede Spur. Ungewohnterweise schien Englisch hier in aller Munde zu sein, denn anstelle des erfreuten, doch wenig hilfreichen Kommentars „LAOWAI!!!“ erklärte man uns hier problemlos den Weg zum Hostel. Sogar die alte Dame, die mir auf ihrem Seniorenkart fast über den Fuß fuhr, zog sich mit einem gekonnten „Excuse me!“ aus der Affäre.

Der Weg zum Hostel

Als wir jedoch in die enge Seitenstraße einbogen, in der sich unser Hostel befand, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass sich Shanghai einen Spaß mit uns erlauben wollte. Über uns spannten sich auf mehreren Ebenen mit einem Mal nicht mehr Wolkenkratzer, sondern voll behängte Wäscheleinen. Im Hinterhof eines Restaurants hackte jemand auf einen toten Fisch ein und ein Schild verwies auf eine mehr als dubiose Fußmassage. Solche Örtlichkeiten sollte man genauso wie bestimmte Friseursalons besser meiden, weil sich hinter ihnen eigentlich Bordelle verstecken. Prostitution ist in China nämlich offiziell verboten, aber so manchem ahnungslosen Ausländer wurde schon nach dem Haarschnitt gegen Bezahlung ein „Happy End“ angeboten.

Einen fröhlichen Anfang des Zwischenseminars gab es allerdings auf der Dachterrasse des Hostels sogar kostenlos. Die Wiedersehensfreude in Hangzhou war ja bereits groß gewesen, aber nun sah man einfach so viele neue Gesichter auf einmal, dass man aus dem Erzählen gar nicht mehr herauskam. War die Shanghai-Crew wieder gut in der Heimatstadt angekommen? Mit welchen Gschichtle wartete meine Mitschwäbin Theresa auf? Was hatte Homezone-Homie Jeanne in der Zwischenzeit erlebt? Zündete Luisa ihre liebevoll als „Nuttenstängel“ bezeichneten Zigaretten immer noch mit dem Flammenwerfer-Feuerzeug an, das ich ihr in Hangzhou überlassen hatte? Und was trieb eigentlich Carl-Jan beim Goethe-Institut in Shanghai? Fragen über Fragen, die man am liebsten alle gleichzeitig ausdiskutieren wollte.

Lebkuchen!

Letztendlich gelang es unseren fürsorglichen Seminarleiterinnen Sandra und Kerstin erst, uns ruhigzustellen, als sie Lebkuchen und Spekulatius aus Deutschland hervorholten. Faszinierend, wie leicht sich dreiundzwanzig chinageprüfte Kulturweit-Freiwillige vom weihnachtlichen Zimtgeruch des mitgeschmuggelten Gebäcks konditionieren ließen! So starteten wir genüsslich kauend in den offiziellen Teil unserer gemeinsamen Zeit und stellten uns zusammen seelisch und moralisch auf ein intensives, arbeitsames und, wie Sandra es mit ihrem unglaublich sympathischen serbischen Akzent zu sagen pflegt, supersexy Seminar ein. Anschließend ging es nahtlos weiter zum Abendessen, das wir in einem recht außerordentlich wirkenden japanischen Restaurant einnahmen.

Zwar erwiesen sich die Speisen schlichtweg als außerordentlich teuer, der Gang auf die Toilette war jedoch durchaus außerordentlich erstrebenswert. Wo man in Wuhan ein etwas besseres Loch im Boden erwartete, konnte man sich hier auf eine beheizte Klobrille setzen und allerlei Knöpfe mit lustigen Bildchen bestaunen, die beim Drücken vermutlich noch lustigere Effekte erzielen würden. Wer braucht noch Klopapier, wenn man sich auch einfach trockenföhnen lassen kann! Memo an mich selbst: sowas will ich unbedingt für meinen BBB – denn angesichts der momentanen Temperaturen in Wuhan bin ich mir nicht mehr ganz sicher, wie scherzhaft das mit dem Festfrieren gemeint war.

Mit dem nächsten Morgen brachen endlich vier Tage lang heißersehntes Hochleistungs-Reflektieren an, auf die sich viele nach zwei Monaten unter Erlebnis-Dauerbeschuss sehr freuten. Um unsere hochkreativen Hirne auf Trab zu bringen, begannen wir jede Einheit in unserem sexy Seminarraum mit einem amüsanten „pseydopädagogischen Psychospielchen“. Besonders toll fand ich daran, dass hier wirklich jeder einmal zu Wort kam und man so zahlreichen kleinen Geschichtchen, Anekdoten und Ausschnitte aus dem Freiwilligenleben in allen Ecken Chinas lauschen durfte. Beispielsweise gestalteten wir Standbilder zu einer imprägnanten Alltagssituation (warum funktioniert die Technik schon wieder nicht und wie gestaltete ich meine Stunde jetzt ohne Beamer?) oder versetzten uns in die Lage von Gegenständen oder Personen in unserer Umgebung (etwa Zhang Ping, der sich wundert, wo der Laowai bleibt, der immer bei ihm Tequila bestellt).

Danach beschäftigten wir uns meist damit, uns über die verschiedensten Aspekte unseres Auslandsaufenthalts auszutauschen. Was war bisher passiert? Welche Arbeit verrichteten wir an unseren Einsatzstellen? Welche Probleme stellten sich uns in den Weg? Wie lösen wir sie am besten? Wo soll es hingehen? So viele Diskussionsthemen! Der Gesprächsbedarf schien wirklich enorm – doch mit dieser Gruppe von durchweg lieben, interessierten und randvoll mit Erfahrungen angefüllten Leuten konnte man sich, was das betrifft, wirklich austoben. Mir persönlich tat es richtig gut, einfach mal zuzuhören, was die anderen so erlebt hatten und natürlich auch, über Sorgen, Missgeschicke und Ungewissheiten zu philosophieren. Manche Dinge stauen sich eben doch mit der Zeit an und das Seminar diente nicht nur für mich als Ventil dafür. Denn einer Sache durfte man sich jedenfalls sicher sein – man fand immer jemanden, dem es ähnlich ging und vor allem, man musste nicht zögern, seine Gedanken offen und ohne Bedenken kund zu tun.

Noch besser als Dampf ablassen war allerdings die Tatsache, dass das Seminar mir zumindest einen richtigen Kraftschub verpasste, was schlichtweg daran lag, dass es einfach so unglaublich viel zu lachen gab. Kraft durch Lachen? Das mag vielleicht etwas esoterisch klingen, hilft aber im Zweifelsfall besser als jede Art von TCM (zur Erinnerung: das heißt Traditionelle Chinesische Medizin). Ich will keinesfalls den Eindruck erwecken, dass ich mich in Wuhan nicht ebenfalls gut amüsiert hätte, aber der Tag fing für mich bereits mit einem Lächeln im Gesicht an, wenn ich von wahlweise Lien oder Fanny um meine auch als Handwärmer sehr effiziente Teeflasche angebettelt wurde. Weiterhin bestätigte sich die Devise „Gute Laune dank ein paar Runden aufs herrlichste Rumschwäbeln“ mithilfe von Carl-Jan, Theresa, Fanny, Julian und Sandra immer wieder aufs Neue und auch andere sympathische Rückfälle in den angestammten Dialekt sorgten zum Beispiel bei Luisa mit ihrem abgebrühten Brandenburgisch häufig für Lacher.

Skaten für Fortgeschrittene

Sehr ausgelassen und ungewohnt sportlich gestalteten sich außerdem unsere Aktivitäten in den Pausen oder an eher ruhigen Abenden, wo man zwischen Skateboard-Training, Tischkickern, Billard oder Mäxle spielen wählen konnte. Obwohl ich in allen vier Disziplinen gleichermaßen unfähig, äh ungeübt bin, entwickelte sich doch die letzte zu meinem persönlichen Favoriten. Zwar entstand schnell ein Running-Gag aus der Frage, ob nun Lien, Luisa oder ich den Ball zuerst verpatzten, doch nach viel Übung und mit viel Glück landete ich sogar irgendwann im Finale. Mit dem epischen Zweikampf zwischen den beiden Mädels konnte ich damit aber trotzdem nicht mithalten.

Eines Abends wurde mir sogar selbst die Ehre zuteil, für „Kraft durch Lachen“ zu sorgen. Jeder, der wollte, durfte vor versammelter Mannschaft eine Präsentation über seine Erlebnisse halten und so wagte auch ich spontan eine kleine Vorstellung. Ich kann nur so viel sagen – mir war nie klar gewesen, dass meine Einsatzstelle so zum Brüllen ist! Aber naja, es hat eben nicht jeder einen BBB! Seitdem habe ich mich jedenfalls mit dem Spitznamen „Mr. Kai“ zu arrangieren, weil ich ja unbedingt erzählen musste, wie mich meine Schülerchen begrüßen.

Einen weiteren sinnvollen Beitrag leistete ich übrigens, indem ich während des Seminars fett ins Dealer-Geschäft einstieg (ich hab’s dir doch immer gesagt, Anna!). Auch wenn es der eine oder andere am Anfang mutmaßte, handelte es sich bei den kleinen Tütchen, die Mr. Kai an verschiedene Bedürftige vertickte, nicht um irgendwelche bösen Substanzen, sondern nur um zumindest in China vollkommen legale TCM. So kochte sich der erkältungsgeplagte Teil unserer Gruppe bald täglich sein linderndes „SanJiu“-Süppchen und ich überlege seitdem ernsthaft, ob ich mein Geschäft nicht in Zukunft auf den internationalen Markt expandiere. Mit Chang E hätte ich immerhin schon eine verlässliche Kontaktperson für Export und Produktauswahl.

Von dem Bisschen Erkältung ließen wir natürlich trotzdem nicht abhalten, in unserer freien Zeit die Stadt zu erkunden. Am Nachmittag des dritten Tages nahmen die Kunstinteressierten unter uns die Metro ins Künstlerviertel M50. Auf einem alten Fabrikgelände konnte man dort die Ateliers von dutzenden Künstlern besuchen, zahlreiche wild gemischte Kunststile erkunden und sogar das eine oder andere gesellschaftskritische Bild bestaunen. Letztendlich verdankten wir einen besonders spannenden Fund jedoch Laura, die bereits in Shanghai gelebt und in ebenjenem Künstlerviertel gearbeitet hatte. Sie verwies uns auf das „Island 6“, hinter dem sich kein Club, sondern eine weitere Ausstellungshalle voller interaktiver Kunstwerke verbarg. Und die jagten einem tatsächlich den einen oder anderen Schrecken ein. Da gab es beispielsweise einen Spiegel, über dem die verlockende Aufforderung „Come closer!“ stand. Folgte man dieser Anweisung, tauchte plötzlich ein Hund mitten im Spiegelbild auf, der aufmerksam die Kopfbewegungen des Betrachters imitierte.

Auch andere Ausstellungsstücke waren darauf ausgelegt, die Neugierde und Folgsamkeit der Besucher zu testen. Ein Bildschirm, der einen Mann zeigt, der ein Mobiltelefon in der Hand hält. Darüber eine Handynummer und die blinkenden Buchstaben „CALL ME!“. Ob das funktioniert? Was passiert wohl, wenn man da wirklich anruft? Schnell die Nummer eintippen! Das Handy des Mannes klingelt. Er führt es an sein Ohr, drückt auf den „Abheben“-Knopf und – Spladder – sein Kopf explodiert. Im nächsten Moment tritt der nächste ins Sichtfeld und erneut wird eine Nummer eingeblendet. Was sollte das denn jetzt?

Ein ähnlich schockierendes Resultat erzielte ein weiterer Bildschirm, auf dem man eine leicht bekleidete Dame in einem Käfig sehen und wieder mal anrufen konnte. Ob die wohl auch in die Luft gehen würde? Probieren wir’s aus. Sobald jedoch die Durchwahlmelodie ertönte, krümmte sich die Frau vor Schmerz und wurde ordentlich durchgeschüttelt, da scheinbar Strom in ihr eisernes Gefängnis geleitet wurde. Erst wenn man erschrocken auflegte, beruhigte sich die Arme wieder. Wenig später erhielt man die kryptische SMS „This was just the beginning.“

Chinesisch Kochen für Anfänger

Was auch immer das mit dem auf das Milgram-Experiment beruhenden Kunstwerk zu tun hatte, auf den Tag traf diese Aussage jedenfalls zu. Anschließend trafen wir uns nämlich alle zusammen zum Kochkurs in der French Concession, einem der teuersten Viertel Shanghais. Dazu rüsteten wir uns mit ungemein modischen Schürzen aus und versammelten uns um eine lange Tafel, auf der sich betörend die verschiedensten frischen Zutaten türmten. Nachdem sich unsere beiden Laobans (das heißt so viel wie Chefs) vorgestellt hatten, teilten wir uns in zwei Gruppen auf. Die einen versuchten sich an den berühmten gefüllten Dumplings, die andere Hälfte stürzte sich in Zweierteams auf einige chinesische Gerichte, die auf keiner Speisekarte fehlen dürfen. Hier eine äußerst hilfreiche Schritt-für-Schritt-Anleitung zum Kochen eines recht leckeren Bohnen-Hackfleisch-Schabutzkis, für das Flo und ich zuständig waren:

  1. Erst einmal staunend zuschauen, wie geübt Flo mit dem etwas angsteinflößenden Hackebeil das Gemüse in Rekordzeit zerkleinert.

    Verköstigung der Speisen

  2. Froh sein, wenn man sich beim anschließenden Versuch, das nachzumachen, wenigstens keinen Finger abhackt.
  3. Beim Warten auf eine freie Herdplatte von Sandras Ananasstücken für das Gongbaojiding naschen. Das braucht die bestimmt eh nicht alles!
  4. Bohnen, Hackfleisch, Zwiebeln, Ingwer und Knoblauch mit reichlich Öl in einen Wok schmeißen und alles gut durchrühren.
  5. Dem Laoban das Feld überlassen und mit Flo darüber mutmaßen, welche Pülverchen er wohl gerade in den Topf wirft.
  6. Das fertige Gericht zu den anderen bereits angerichteten Speisen stellen und so tun, als hätte man das gerade alles selbst hinbekommen. Hach, Chinesisch Kochen ist ja gar nicht so schwer!
  7. Alles durchprobieren und Reinhauen, was das Zeug hält!

Der Bund in seiner ganzen leuchtenden Pracht

Als wir uns ausführlichst Punkt 7 gewidmet hatten, fühlten wir uns zwar vollgestopft wie Frühlingsrollen, doch bereit, den Abend in Angriff zu nehmen. Dann nichts wie auf zum Bund für ein paar Erinnerungsfotos! Die Uferpromenade des Huangpu-Flusses ist eine der berühmtesten Touristenattraktionen der Stadt und das Titelbild von jeder zweiten Shanghai-Postkarte. Am Kopfende der Nanjing Lu, einer der größten Einkaufsstraßen Chinas, erhielt man einen wunderbaren Blick auf die Sonderwirtschaftszone Pudong an der gegenüberliegenden Seite des Flusses. Von hier aus konnten wir unseren Blick über einen Wall von hochmodernen, in allen Farben leuchtenden Wolkenkratzern schweifen lassen. Markenzeichen des Panoramas und Wahrzeichen von Shanghai: der Oriental Pearl Tower, ein Fernsehturm, der allerdings eher aussieht wie eine 468 Meter gigantische Rakete. Begeistert versuchte jeder, die beste Aufnahme von diesem blinkenden, futuristisch anmutenden Szenario zu schießen, bevor es dann mit dem schönsten Teil der Abendplanung weiterging.

Lien hatte für uns ihre Beziehungen spielen lassen und der gesamten Freiwilligen-Mannschaft einen Tisch im M2, einem der besten Clubs in Shanghai, klargemacht. Auf mehreren Ebenen, die in der Mitte zu einer Tanzfläche geöffnet waren, feierten hier Leute aus allen Altersklassen, die es sich leisten konnten. Dennoch mussten wir nicht befürchten, für eine Flasche Sekt unser gesamtes Monatsgehalt loszuwerden, denn wir bekamen nicht nur den Tisch, sondern auch alle darauf kredenzten, äh, Leckereien gratis. Den Rest dieses höchst dekadenten Spektakels überlasse ich lieber der Fantasie des Lesers, verrate aber so viel, dass die Nacht zu einer der lustigsten meines bisherigen Auslandsjahres wurde.

Am nächsten Morgen verteilte ich jedenfalls anstatt traditioneller chinesischer Medizin meine traditionell wirksamen Aspirin-Vorräte und wir amüsierten uns prächtig beim gemeinsamen Anschauen der Hangover-Fotos (auf die sich aus irgendeinem Grund ständig Maurice oder zumindest ein Teil von ihm eingeschlichen hatte). Nach einer Runde „Findet Maurice“ wartete ein weiterer wichtiger Teil des Seminars auf uns: die Ausarbeitung unserer zukünftigen Freiwilligen-Projekte. Trotz dass einige noch ein wenig mit Konzentrationsschwierigkeiten zu kämpfen hatten, entstanden dabei wirklich spannende Ansätze, auf deren Umsetzung ich mich schon sehr freue.

Bescherung!

Unsere kreativen Auswüchse wurden am Abend, dem bereits letzten Abend unseres Seminars, belohnt, indem wir alle lecker HotPot essen gingen und danach endlich zur Wichtel-Bescherung schritten. Auf einem Tisch stapelten sich kleine Päckchen in teilweise wirklich interessanten Formen – und ihr Inhalt stellte sich zum Teil als noch interessanter heraus. Während ein paar so nützliche Dinge wie Fächer, Essstäbchen, Büchern oder ein gutes Zentrumsbier auspackten, mussten sich andere mit eingeschweißten Hühnerfüßen, tausendjährigen Eiern und BaiJiu anfreunden. Ich selbst freute mich über einen Propeller im Doraemon-Stil (Doraemon ist eine katzenähnliche Animefigur aus Japan und in China genauso berühmt wie Totoro). Simon freute sich darüber allerdings weniger, als ich ihm damit fast die Nase absäbelte. Wie dem auch sei, mein eigenes Wichtelgeschenk, eine Teeflasche mit einer Packung SanJiu, fand übrigens zufällig genau die richtige Besitzerin, nämlich Fanny. Die Gute konnte mir ja jetzt bald nicht mehr jeden Tag meine ständige Begleiterin abluchsen und hatte so einen dauerhaften Ersatz dafür gefunden. Schön, wie sich die Dinge manchmal einfach fügen!

Alltag im Knast

Mit dem Anbruch des 18. Novembers kam leider auch schon der unabdingbare Abschied auf uns zu. Zusammen mit unseren tollen Seminarleiterinnen hatten wir in den vergangenen Tagen viel reflektiert und aufgearbeitet, diskutiert und gelacht, sprich ein rundum sexy Seminar verbracht, sodass nun einige Tränen flossen und Wiedersehens-Versprechen gegeben wurden. Anstatt die Koffer zu packen, winkten Franzi, Maurice, Sandra, Simon, Philipp, Flo, Ruth und ich lediglich unseren Freunden hinterher, weil wir noch zwei Tage in Shanghai vor uns hatten. Für die verließen wir aber unsere komfortablen, von Kulturweit bezahlten Zimmer und zogen zusammen ins Dormitory um. In einem Raum mit dem Charme einer Gefängniszelle fanden alle acht Übriggebliebenen ein Plätzchen auf einem der stählernen Hochbetten. Zugegebenermaßen recht rustikal, aber doch irgendwie stilvoll.

Während man sich gemächlich häuslich einrichtete, verschwanden Franzi, Maurice und ich unbemerkt, um in einer „deutschen“ Bäckerei einen Hamster für unser baldiges Geburtstagskind Philipp zu bestellen. Dort sagte man uns, dass es allerdings bis zum Abend dauern würde, bis der Hamster fertig gebacken sei. Die Zwischenzeit vertrieben wir uns mit der ganz grandiosen Idee, zum Sightseeing in die Sonderwirtschaftszone Pudong zu fahren.

Dort gelang es Shanghai wieder einmal, uns sprichwörtlich kleinzukriegen. Egal, in welche Richtung man den Hals reckte, überall streckten sich Wolkenkratzer in den Abendhimmel. Eine Science-Fiction-Rakete, riesige griechische Säulenbauten, ein Dach in Form einer geöffneten Lotusblüte, chinesische Tempelarchitektur gemischt mit moderner Glasfassaden-Bauweise. Man schien den Architekten wirklich jegliche künstlerische Freiheit zugesprochen zu haben – solange es nur möglichst umwerfend und prestigeträchtig aussah! Selbstverständlich kamen wir nicht umhin, auf eines dieser Prestigeprojekte zu steigen. Wenn schon, denn schon, lautete die Devise und so wählten wir dafür das Word Financial Center, das vierthöchste Gebäude der Welt und das höchste, das es in China zu finden gibt. Zumindest bis der Nachbarturm fertiggestellt ist, der China endlich wieder den Rang als Nation mit dem höchsten Wolkenkratzer einbringen soll.

Für einen stolzen Eintrittspreis wurde uns erst einmal ein kleiner Überblick über die Entwicklung Shanghais gewährt. Auf vier Bildschirmen sahen wir im Zeitraffer die Modelle von verschiedenen Metropolen heranwachsen. Während sich New York und sogar Tokio noch vergleichsweise stetig aufbauten, lag das Gebiet Pudong lange Zeit mehr oder weniger brach. Doch ab 1990 begannen auf einmal, Gebäude wie Pilze aus dem Boden zu schießen, sodass die anderen Städte innerhalb kürzester Zeit eingeholt waren. Immer wieder faszinierend, zu welchen Höchstleistungen diese Nation fähig ist!

Shanghai von oben

Anschließend stiegen auch wir auf schwindelerregende Höhen bis in den 100. Stock des World Financial Buildings. Aufgrund des viereckigen Lochs, das die obersten Etagen vom Rest des Gebäudes abschirmt, trägt der Wolkenkratzer übrigens den passenden Spitznamen „Flaschenöffner“.Auf dem obersten der gewissermaßen frei in der Luft hängenden Stockwerke spuckte uns der Aufzug schließlich aus – fast 492 Meter über dem sicheren Erdboden! Wie Flo so schön sagte, war das sogar für seine Höhenangst zu hoch. Glück gehabt! Ansonsten hätte sich der Ausflug nämlich zu einem echten Spießrutenlauf entwickelt, weil überall in den Boden Glasscheiben eingelassen waren, durch die man direkt bis zur Erde hinabsah.

Trotz dass die vergangenen Tage geprägt gewesen waren von zahlreichen schönen Ausblicken, fand unsere Panoramajagd auf dem Skywalk des Flaschenöffners im wahrsten Sinne des Wortes ihren Höhepunkt. Als wir uns die Nase an den Scheiben plattdrückten, konnten wir gewissermaßen auf die Dächer aller anderen Wolkenkratzer in der Umgebung herab spucken, die bereits ihre übliche Leuchtorgel für uns angeworfen hatten. Hinter den Kugeln des Oriental Pearl Towers schlängelte sich der Fluss wie ein schwarzes Band durch die nächtliche Stadt und die Straßenschluchten vereinten sich zu einem Netzwerk aus rotgelb glühenden Lichtfäden, das bis zum Horizont reichte. Das schrie förmlich nach einem Gruppenfoto! Also schrieen wir wiederum einmal recht freundlich „Whisky!!!“ in die Kamera von einem chinesischen Fotografenpärchen und gingen gespannt zwei Stöcke tiefer, um die Resultate zu begutachten.

Weltherrschaft, ich komme!

Letztendlich glotzte ein Großteil der Abgelichteten auf den Fotos ein wenig verblendet aus der Wäsche. Ich selbst hatte den Gesichtsausdruck eines James-Bond-Bösewichts, der gerade triumphierend seinen fiesen Masterplan verkündet, aber gekauft werden mussten diese Unikate natürlich trotzdem. Angeblich soll der neue James Bond ja sogar zum Teil in Shanghai spielen, doch wenn ich nicht Wikipedia befrage, erfahre ich das wohl erst in Deutschland. Lustigerweise hängen hier zwar überall Werbeplakate mit dem offiziellen Release-Date des Blockbusters, aber kein Kino zeigt den Streifen bisher. Mysteriös.

Das deutscheste Essen seit Langem

Wie auch immer, der Flaschenöffner bot uns auch in den unteren Etagen noch ein paar Leckerbissen. Einerseits fanden wir dort das deutsche Restaurant „Brotzeit“, welches tatsächlich original deutsche Hausmannskost wie Schnitzel mit Kartoffelsalat, Knödel, Schlachtplatte und Spätzle mit Soß‘ anbot. Irgendwie lustig, wie sich meine Beschreibungen von Essen seit Kurzem nicht mehr nur auf chinesische Gerichte beschränken, sondern hin zu den Spezialitäten tendieren, die ich hier allmählich ein wenig vermisse. Weil ein ganzes Abendmahl allerdings unsere Preisklasse deutlich überstieg, gaben wir uns letztendlich mit einer warmen Aufback-Brezel mehr als zufrieden.

Weihnachtlicher geht’s kaum noch, oder?

Auf noch mehr Heimatgefühl stießen wir danach, als wir vor dem Ausgang einen sehr authentischen Kamin entdeckten, der mit weihnachtlicher Dekoration und Geschenk-Packungen geschmückt war. Nachdem uns der Sicherheitsmann freundlich darauf hingewiesen hatte, dass wir davon gefälligst die Finger lassen sollten, versammelten wir uns eben ohne Christbaumkugeln in der Hand zum nächsten Gruppenfoto: „ Freiwillige auf der Suche nach ein bisschen Weihnachtsstimmung in China“.

Kaum auf festem Boden angekommen, konnte das Programm munter weitergehen. Franzi und Maurice holten den mittlerweile fertiggebackenen Hamster in seinem Karton ab und los ging es auf die Suche nach einer Bar, in der wir in Philipps Geburtstag feiern würden. Nach einigem Hin und Her erwählten wir schließlich das „Soho“ zur Location des Abends, primär weil man dort zur Flatrateparty lud. Auch wenn sich die Bedienungen nicht gerade begeistert von ihren einzigen Flatrate-Nervensägen zeigten, verbrachten wir eine sehr witzige Zeit, bis wir schließlich um Mitternacht Philipps Geburtstagslied anstimmten. Und nachdem jeder herzlich gratuliert hatte, durfte Philipp endlich seinen Hamster auspacken.

Aales Gute!

Ich denke, nun ist auch der richtige Zeitpunkt gekommen, um zu enthüllen, dass sich (wer hätt’s gedacht) hinter dem Codewort „Hamster“ natürlich kein echter Nager versteckte. Stattdessen fand unser Geburtstagskind in dem Karton eine Geburtstagstorte, die wir in der deutschen Bäckerei ganz individuell hatten anfertigen lassen. Gegen entsprechende Bezahlung durfte ich ein Motiv vorzeichnen, das der Chefkonditor mit Schokoglasur nachgemalt hatte. Das Ergebnis dessen war zugegebenermaßen ähnlich verformt wie unser Gruppenfoto auf dem Flaschenöffner und darüber hinaus hatte man es besonders gut gemeint und einfach all unsere Schriftentwürfe mit auf die Torte gepackt. So stand da zwar nun aus unerfindlichen Gründen „aales Gute – Alles Gute – Happy Birthday“, aber immerhin mundete der Hamster ganz vorzüglich.

Räucherstäbchen-Verbrennen im Tempel

Hungrige Kois

Weil wir in dieser Nacht einfach so viel, äh, Torte gegessen hatten, gingen wir den nächsten Tag lieber etwas ruhiger an mit einem entspannten Spaziergang am Bund entlang. Dafür waren wir an unserem letzten Tag in Shanghai wieder bereit für einen finalen Sightseeing-Trip zum Tempel des weißen Jade-Buddhas. Inmitten von Hochhäusern glaubten wir hier, ein Stück chinesischer Tradition zu finden, doch als einer der wenigen historischen Attraktionen der Stadt erschien mir das Ganze doch ein wenig übertrieben kommerzialisiert. Dass man in chinesischen Tempeln gerne ein paar Münzen springen lässt, bin ich mittlerweile gewohnt und meistens macht mir das Ganze auch noch recht viel Spaß. Aber falls man nicht gerade zum ersten Mal einen solchen Tempel besucht oder unbedingt irgendwelche sündhaft teuren Talismane kaufen möchte, hat die Anlage nicht allzu viel zu bieten. Mal abgesehen einem Teich voller handzahmer Koikarpfen und dem weißen Jade-Buddha, der so unschätzbar wertvoll ist, dass man für ihn noch einmal zusätzlich Eintritt zahlen darf.

Frischer Fisch, bei lebendigem Leibe entschuppt

Eine viel authentischere Entdeckung machten wir allerdings in einer engen Seitenstraße in der Nähe des Tempels. Dort boten auf dem Fischmarkt zahlreiche Verkäufer dicht aufeinander gedrängt ihre frische Ware feil. Unter frisch darf man sich aber keinesfalls ein paar auf Eis gelegte Fleischstücke vorstellen. Im Gegenteil, in China gilt die Faustregel „Alles, was zumindest beim Anfassen noch zappelt, ist frisch“. In der Praxis hieß das, dass man hier an dutzenden kleinen Becken vorrüberging, in denen sich Aale, Barsche, Karpfen, Ochsenfrösche und Krabben tummelten. Wer das gerne einmal in Bewegung sehen will, kann das gerne im neuesten Feature meines Blogs, der Sektion für stümperhaft mit der Handkamera gedrehte Videos, tun.

http://www.youtube.com/watch?v=yFEDjT6vdJ0

Zurück im Hostel mussten wir unsere mittlerweile liebgewonnene Gemeinschaftszelle räumen und machten uns auf den Weg zum Bahnhof, wo die Wuhan-Crew zwar sehr knapp, aber erfolgreich in den Schnellzug nach Wuhan stieg.

 

Als der Zug in Wuhan einfährt, ist es bereits dunkel geworden. Die Heimatstadt heißt uns mit ihrem üblichen, von allen Seiten kommenden Nieselregen willkommen und zum ersten Mal seit Langem bin ich wirklich froh über meine dicke Jacke. Philipp, Flo und ich verabschieden uns von Simon und nehmen ein ungewohnt billiges Taxi in Richtung Wuchang District. Vor der Schule angekommen, muss ich erst einmal ein Matschfeld überqueren und bis ich das Wohnheim erreiche, sind meine Schuhe so durchnässt wie lange nicht mehr. Ein wenig sentimental wird mir zumute, als ich in die ungewohnte Stille meines Zimmers trete und meinen Koffer in die Ecke stelle. Durch die tollen vergangenen Wochen gestärkt, fühle ich mich aber dennoch bereit und motiviert, die kommende Zeit in Angriff zu nehmen. Ich freue mich darauf, meine Schülerchen wiederzusehen, fleißig zu arbeiten, im Feelings einen Tequila zu schlürfen und mit den Lehrern, der Wuhan-Crew oder den Studenten ein paar schöne Stunden in Wuhan zu verbringen, bis es dann an Weihnachten erneut auf die Reise geht.

Mal wieder an der Wand verewigt

Die ganze Mannschaft auf dem Dach des Hostels