Das Paradies auf Erden

Eigentlich wollte ich diesen Artikel schon längst veröffentlichen, aber Wuhan hat mir da einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wie es dazu kam, könnt ihr dann in meinem übernächsten Artikel nachlesen. Jetzt aber erst mal viel Spaß mit diesem Exemplar hier!

 

Langsam sinkt die blasse Sonnenscheibe am gleichbleibend dunstig grauen Himmel, während sich der Schnellzug seinen Weg durch halb China in Richtung Wuhan bahnt. Darunter zieht die Landschaft in rasender Geschwindigkeit am Fenster vorbei. Qualmende Fabrikschlote und Hochspannungsleitungen, die sich bis zum Horizont erstrecken, verschwimmen mit sanften, bewaldeten Hügeln. Wo eben noch ein Bauer über sein Reisfeld stolzierte, bauen sich im nächsten Moment die anonymen Hochhausfassaden der hundertsten namenlosen Großstadt auf. „Train speed is 199 km/h now“, verkündet die Laufschriftanzeige am vorderen Ende des Abteils – und im Moment fühle ich mich, als wäre meine erste Reise raus aus Wuhan ähnlich rasant vergangen. Ziel dieser Reise war eigentlich das Kulturweit-Zwischenseminar in der Megacity Shanghai, doch weil wir es einfach nicht erwarten konnten, uns alle wiederzusehen, traf sich beinahe die Hälfte der Freiwilligen zuvor im schönen Hangzhou. Eine ganz hervorragende Idee, wie sich gezeigt hat.

Menschenmassen auf dem Wuhaner Bahnhof

So brachen auch mein Wuhaner Mitfreiwilliger Philipp und ich am Abend des neunten Novembers gen Hangzhou auf, nachdem ich in einer höchst nervenkitzelreichen und zeitlich ziemlich knapp bemessenen Kaufaktion unsere Tickets ersteigert hatte. In China kommt man nämlich erst zehn Tage vor Reiseantritt an die Fahrscheine heran und holt diese dann an einem Ticketschalter ab. Warum das so ist, weiß ich nicht genau, aber vielleicht will man ja damit verhindern, dass planungswütige Touris die besten Plätze bereits Monate im Voraus der oft eher spontan agierenden Bevölkerung wegschnappen. Dass man zu allem Überfluss auch noch die Passnummern aller Passagiere, für die man einkauft, parat haben muss, stellte ich natürlich erst fest, als ich bereits der recht angeödet dreinblickenden Dame vom Schalter meine gesamten Reisepläne vorgeschwärmt hatte. Vorsichtshalber nahm ich beim nächsten Versuch lieber gleich Chang E mit ins Schlepptau, bevor man mich am Ende noch mit einem E-Bike anstatt einer E-Lok losschickte.

Dank Chang Es tatkräftiger Unterstützung gelang es uns aber, zwei komfortable Betten im Softsleeper-Waggon des Nachtzuges zu ergattern. Wir freuten uns also auf eine angenehme Fahrt, an deren Ende wir ausgeschlafen und bereit zum Sightseeing in Hangzhou eintreffen würden. Allerdings hatten wir da die Rechnung ohne unsere Mitreisenden gemacht, die sich in Form einer Mutter mit Sohnemann und Baby präsentierten. Ein kleiner Schreihals, na prima!, dachten wir schon bestürzt, lagen aber vollkommen falsch. Wer uns letztendlich gehörig den Schlaf raubte, war nämlich die gute Frau, die bei der kleinsten unerwarteten Bewegung ihres Zöglings mit dem kompletten Entertainment-Arsenal ihres I-Phones aufwartete. In regelmäßigen Abständen dröhnten chinesische Kinderlieder durch das Abteil oder man ballerte lautstark mit Angry Birds um sich, sodass Philipp und ich unser Ziel am nächsten Morgen recht, nun ja, verballert erreichten.

Das West Lake Youth Hostel – sehr zu empfehlen für alle Hangzhou-Reisenden

Unsere Entbehrungen wurden jedoch belohnt, als wir in unserem Hostel angelangten, das praktischerweise nur ein paar hundert Meter vom berühmten West Lake entfernt lag. Dort wurden wir von der freundlichen Belegschaft und dem weißen Haushund Sunny sehr nett in Empfang genommen und waren froh, uns dieses Mal ohne hyperaktive Zimmergenossen von der anstrengenden Fahrt erholen zu können. Frisch gestärkt fuhren wir am Abend zurück zum Bahnhof, um den nächsten Schwung Freiwilliger abzuholen. Milena reiste aus der Heimatstadt unser aller Lieblingsbiers Qingdao an, Malte stieß aus Jiaxing zu uns und zum Schluss freute ich mich schließlich sehr über die Ankunft von Ruth, die ich seit wir am Flughafen gemeinsam in unser China-Abenteuer aufgebrochen waren, nicht mehr gesehen hatte.

Unser Kindergarten – mit sehr kinderfreundlicher Kriegsfassade im Hintergrund

Gleich am nächsten Tag hatten wir die Ehre, herauszufinden, warum man Hangzhou oft als das Paradies auf Erden bezeichnet. Weniger paradiesisch wurden wir allerdings erst einmal aus dem Schlaf gerissen und zwar indem wir auf die harte Tour lernten, was es heißt, einen Kindergarten nebenan zu haben. Viel zu früh für uns Erholungsbedürftige fand dort nämlich der Morgenapell statt – und der qualvollen Geräuschkulisse nach zu urteilen drückte man den Kleinen dazu einfach wahllos irgendwelche Instrumente in die Hand, die dann ausgesprochen begeistert ausgetestet werden mussten. Egal, so konnten wir wenigstens zu einer angemessenen Zeit mit unserer ersten Erkundungstour beginnen.

Unterwegs mit unseren Luxusfahrrädern

Als wir unser Hostel verließen, merkte ich zum ersten Mal richtig, wie sehr sich Hangzhou vor allem zu dieser Jahreszeit von Wuhan unterscheidet. Anstelle des von allen Seiten kommenden Dauerregens schien die Sonne warm von einem beinahe wolkenlosen Himmel, der gewohnte Dunstschleier hatte sich auf einen schmalen Streifen am Horizont zurückgezogen und eine laue, erfrischende Brise relativ smogfreier Luft wehte vom See herüber. Einfach perfektes Wetter für ein bisschen Sightseeing! Nachhaltig, wie man als Kulturweit-Freiwilliger nun einmal denkt, stiegen wir für dieses Vorhaben allerdings nicht in einen Bus, sondern auf ein paar geliehene, klapprige, aber funktionstüchtige Fahrräder. In Wuhan hätte ich bei einer solchen Idee wahrscheinlich nur verständnislos den Kopf geschüttelt, da ich dort täglich mitverfolgen kann, wie viele arme Radfahrer täglich beinahe vom Rückspiegel eines Busses erschlagen werden.

Links die Wildnis…

…rechts die Metropole

Auf unserer Route hielt sich die Gefahr, von etwas anderem als der Schönheit der Umgebung erschlagen zu werden, relativ in Grenzen. Ein breiter Fußgängerdamm führte uns, von Bäumen und blühenden Büschen gesäumt, über den Westsee, sodass sich links und rechts von uns meilenweit nur glitzernde Wasseroberfläche erstreckte. Ein paar hölzerne Boote manövrierten sich unter den zahlreichen Brücken hindurch oder an den kleinen Inseln vorbei und machten dem prächtigen Drachenschiff Platz, das eben aus dem Hafen ausgelaufen war. Am fernen Ufer reflektierte die Skyline der Stadt im Sonnenlicht umgeben von grünen Hügeln, auf denen sich die Umrisse von Pagoden und Tempeln gerade so erahnen ließen. Das Einzige, was die Idylle ein wenig störte, war die Tatsache, dass nicht alle so nachhaltig dachten wie wir. Stattdessen wurden wir immer wieder durch eine ohrenbetäubende Hupmelodie aus dem Weg gescheucht und wenig später rauschte ein Touristenfahrzeug an uns vorbei. Darauf drängten sich die Gehfaulen aneinander, selbstverständlich mit gezückten I-Phone, um die Fahrt mit ausdrucksloser Miene zu dokumentieren.

Nachdem auch wir ungefähr alle hundert Meter Gebrauch von unseren Kameras gemacht hatten, erreichten wir irgendwann den Lotusblütenpark auf der anderen Seite des Sees. Dieser konnte sich problemlos mit dem Nationalpark in Wuhan messen, bot jedoch den entscheidenden Vorteil, dass man hier keinen Eintritt zahlen musste. Nichts wie rein also! Hier sollen angeblich über zweihundert verschiedene Arten von Lotus zu finden sein, die früher den gesamten Westsee bedeckten. Dass davon heute nicht mehr viel übrig ist liegt an einem chinesischen Kaiser, der einen Großteil der Wasserpflanzen entfernen ließ, aus Angst, dass sich unter den großen Blättern Meuchelmörder verstecken könnten.

Wer fotografiert hier wen?

Einen Mordanschlag befürchteten wir an einem so friedvollen Ort eher weniger – und doch hatte es plötzlich jemand auf uns abgesehen. Denn nicht nur wir kamen hier voll auf unsere Kosten, sondern auch eine quirlige chinesische Touristengruppe. Die schienen sich genauso über Ruths Blondschopf zu freuen wie ich damals in den ersten Minuten hinter der Zollschranke und zerrten die Gute mit sich vor das beste Panorama. Noch euphorischer wurde die Stimmung, als man entdeckte, dass sich im Jackpot heute noch eine weitere Ausländerin und diese drei hochgewachsenen Jungs befanden. Für die nächsten paar Minuten hielt man mit dutzenden Fotoapparaten gleichzeitig auf uns, bis wir schließlich das dringende Bedürfnis verspürten, wieder auf unsere Räder zu steigen.

Also ließen wir ein paar selige Chinesen zurück und radelten weiter zu der ufernahen Gu Shan Insel, auf der wir im Schnelldurchlauf ein paar Denkmäler und Grabstätten abklapperten. Um viele der geehrten oder beerdigten Personen ranken sich zahlreiche Legenden, von denen leider kaum eine ein gutes Ende findet. Besonders tragisch ist dabei die Geschichte von Su Xiaoxiao, deren Grab direkt am Zugang der Brücke liegt, die zu der Insel führt. Die berühmte Poetin und Kurtisane hatte das Pech, sich unsterblich in einen ihrer Klienten zu verlieben. Zwar erwiderte er ihre Zuneigung und wollte seine Familie um die Erlaubnis bitten, seine Angebetete ehrenhaft zur Frau zu nehmen. Von dem Vorhaben zeigte sich die liebe Verwandtschaft jedoch nicht allzu begeistert, sodass der junge Mann nie wieder zu Su Xiaoxiao zurückkehrte und die Arme vor lauter Kummer starb. Bis heute soll ihr ruheloser Geist den Westsee heimsuchen. Einem Spuk konnten wir während unserer Tour nicht beiwohnen, dafür aber einem grandiosen Wasserspiel, das wir zufällig gerade zur rechten Zeit erreichten.

Fast wie zuhause – mal abgesehen von der Bohnenpaste im Schokocroissant

Und der Tag barg noch weitere Überraschungen. Zum Beispiel eine französische Bäckerei, die neben deliziösem Süßgebäck und Cappuccino, der sogar Kaffee-Junkie Ruth überzeugte, echte, ofenfrische Körnerbrötchen verkaufte. Für euch in Deutschland klingt das sicher reichlich unbeeindruckend, aber nach zwei Monaten fast ausschließlich chinesischen Essens erwiesen sich diese Leckereien als sehr willkommene Abwechslung für mich und meinen Magen. Unser Frühstück und Reiseproviant war jedenfalls definitiv gesichert.

Doch noch mehr staunten wir, als wir unsere Fahrräder gegen Abend schweren Herzens wieder abgegeben hatten und uns im Bus in Richtung Abendessen befanden. Während das Fahrzeug gerade losfuhr, um eine Haltestelle zu verlassen, klopfte es plötzlich an der Scheibe. Etwas verwirrt schauten wir uns um, wer uns da grüßen wollte – und erblickten tatsächlich die fast vollständige Shanghaier Freiwilligen-Crew auf ihren gemieteten Fahrrädern. Was für ein Zufall! Dummerweise konnten wir nicht mehr rechtzeitig anhalten und sahen Lien, Anika und Christina in der Ferne verschwinden. Wie ich später in einem Telefonat mit Lien erfuhr, hatten die drei sich genau zur selben Zeit wie wir in Hangzhou eingemietet, verließen die Stadt jedoch noch am selben Abend, sodass wir uns mit einem richtigen Wiedersehen noch bis zum Zwischenseminar gedulden mussten. Wiedersehensfreude sollte es an diesem Tag dennoch genug geben, da endlich die restlichen Mitglieder unserer Reisegruppe eintrafen. Die hatten nämlich noch ein Seminar über das Deutschbuch, das ich nie im Unterricht benutze, besucht und konnten deshalb erst später in den Urlaub fahren.

Auf der Insel

Glücklich vereint mit unseren Neuankömmlingen Flo, Simon, Sandra, Fanny, Maurice und Franzi aus Dalian setzten wir am nächsten Morgen unsere Erkundungstour des Westsees fort. Dieses Mal ging es tatsächlich mitten auf den See hinaus, und zwar mit einem der hübschen Holzschiffe, auf dessen Außenbank die gesamte Freiwilligenschaft Platz fand. Im Vergleich zu unserer letzten gemeinsamen Bootsfahrt über den Yangtse in Wuhan fühlte sich diese beinahe wie ein Wellnesstrip an. Anstatt für die Weltmeisterschaft im Luftanhalten zu trainieren, genossen wir hier die frische Seeluft, während das vergleichsweise klare Wasser sanft an uns vorbeirauschte und die Herbstsonne angenehm unsere Gesichter wärmte. Nach einiger Zeit legten wir an einer Insel an, auf der die „Drei Teiche, die den Mond wiederspiegeln“ lagen. Das Spiegelbild des Mondes entdeckten wir logischerweise in keinem der drei Teiche, dafür aber die fettesten Kois, die ich je gesehen habe. Zu meiner großen Freude ragte außerdem eine Steinformation aus einem der Teiche, bei der es sich aus irgendeinem Grund lohnte, sie mit Münzen zu bewerfen. Wenn man schon keinen Eintritt für die Insel bezahlte, musste man sein Geld ja irgendwie anders loswerden. Durch einen äußerst sorgsam durchdachten Wurf sicherte ich mir wieder einmal den erfolgreichen Verlauf der Reise, während zahlreiche andere Leute dafür sorgten, dass die fetten Kois weiterhin genug Bares zum Verdauen hatten.

Leider ein wenig schwer erkennbar – die drei Steinlaternen vom Ein-Yuan-Schein

Bares zückten aber auch zuhauf die etwas weniger abergläubischen Touristen, denn das Motiv des Ein-Yuan-Scheins lag hier sozusagen direkt vor unserer Nase – und wer möchte sich nicht gerne einen Schein haltend mit dem Original im Hintergrund ablichten lassen! Das Motiv besteht übrigens aus drei großen, steinernen Laternen, die im Wasser vor der Insel ein Dreieck formen. Wozu genau die Bauwerke gut sind, konnte mir Wikipedia zwar nicht sagen, aber man erzählt sich, dass sie die bösen Geister auf dem Grund des Sees unter Kontrolle halten.

Die Leifang-Pagode

Als wir wieder ans Festland zurück gekehrt waren, hielten wir uns weiterhin an den Westsee. Dort konnte man nämlich wunderbar entlang spazieren und Brautpaare beim Hochzeitsfoto-Shooting begaffen, bis wir an der Leifang-Pagode in der Nähe unseres Hostels ankamen. Das Original wurde auf Geheiß des Königs Qian Chu im Jahre 975 n.Chr. errichtet, um die Geburt seines Sohnes Huang Fei zu feiern. Zur Zeit der Ming-Dynastie bildeten sich jedoch ein paar japanische Piraten ein, dass in dem prächtigen, fünfstöckigen Turm Waffen lagerten. Anstatt vorher erst einmal vorsichtig nachzuschauen, brannten sie die Pagode der Einfachheit halber gleich vollkommen nieder. Dass wir unsere zwanzig Yuan Eintritt nicht für einen Haufen verkohlter Holzspäne zahlen mussten, haben wir der Stadtregierung zu verdanken, die 1999 beschloss, das Gebäude möglichst originalgetreu zu rekonstruieren. Besonders entzückte uns, dass man dabei sogar Huang Feis Lieblings-Rolltreppe wiedererrichtet hatte, die auf den Hügel mit der Pagode führt und sich einfach perfekt in das romantische Landschaftsbild einfügt. Eine ideale Gelegenheit für einige wunderschöne Erinnerungsfotos: „Freiwillige entdecken die Transportmittel des Königs“.

Abenddämmerung über dem Westsee

Mit dem ebenfalls äußerst authentischen königlichen Glasaufzug fuhren wir komfortabel ins Obergeschoss des Turms und durften uns auf dem Aussichtsrondell austoben. Als die Abendsonne den Himmel in zarte Pastellfarben tauchte, die sich auf der glatten Oberfläche des Sees wiederspiegelten, fiel es nicht schwer, der Entstehungsgeschichte des Gebiets Glauben zu schenken. Der Legende zufolge fanden der Jadedrache und der goldene Phönix vor langer Zeit ein Stück reiner weißer Jade am Silberfluss im Himmelreich. Nach vielen Jahren gelang es ihnen, daraus eine perfekte Jadeperle zu schmieden. Wo immer die Jadeperle ihren Glanz erstrahlen ließ, gediehen Bäume und die schönsten Blumen begannen zu blühen. Als die himmlische Königin von dieser unschätzbar wertvollen Kostbarkeit erfuhr, ordnete sie ihren Wachen an, die Perle in ihren Besitz zu bringen. Weil der Drache und der Phönix ihren Schatz allerdings nicht widerstandslos hergeben wollten, brach eine große Schlacht aus, bei der die Jadeperle auf die Erde stürzte. Beim Aufprall ergoss sie sich in kristallklares Wasser, das den Westsee formte und den Phönixberg auftürmte. Seitdem wacht der Phönixberg über die verwandelte Jadeperle. Herrlich, diese Erzählung, nicht wahr?

eingelegte Schlange

Alraunenwurzel – oder sowas ähnliches

Nachdem wir uns lange genug verzückt an der Szenerie ergötzt hatten, wurde es Zeit, die Gefilde des Westsees fürs Erste zu verlassen, um unseren Pflichten als Freiwillige nachzukommen. Die bestanden im Moment darin, Geschenke zu kaufen, da wir auf dem Zwischenseminar wichteln wollten. Für dieses Vorhaben schien die Hefang Street schlicht wie geschaffen, denn hier drängen sich Souvenirläden und Teehäuser geradezu aneinander. Verpackt von hübscher, auf traditionell getrimmter Architektur konnte man vom berühmten Drachenbrunnentee über Fächer, Essstäbchenkollektionen, Seide, Talismane bis hin zu Schwertern alles kaufen, was das Touri-Herz begehrte. In einer Apotheke fanden wir sogar in Alkohol eingelegte Schlangen und Alraunenwurzeln, allerdings hielt ich mich doch lieber weiterhin an die Mittelchen die Chang E mir empfohlen hatte.

Alkohol gab es an dem Abend andernorts auch noch ohne zweifelhafte Zusätze und reichlich billiger, um genau zu sein kostenlos. Wir trafen uns nämlich nach einer erfolgreichen Wichtel-Shopping-Tour mit Luisa, die die beneidenswerte Ehre hatte, in Hangzhou als Freiwillige zu arbeiten. Die Gute lud uns ins Ellens ein, dass wir Wuhaner sofort als Pendant zu den beiden Helens und dem Feelings in der Heimatstadt erkannten. „A unique Atmosphere enjoyed by people all over the World“, stand in fetten Lettern über der Tür. Zwar schien die Bezeichnung „Einzigartig“ doch ein wenig fragwürdig angesichts der Tatsache, dass die Inneneinrichtung und die bunt gemischte Kundschaft komplett unseren Stammkneipen in Wuhan entsprachen, dafür jedoch bekam man ein bisschen das Gefühl, heimzukehren. Auch schön. Noch schöner: Bier wurde heute einfach mal für umsonst verteilt. Freibier für alle – ich möchte nicht wissen, wohin eine solche Aktion in einer deutschen Bar geführt hätte! Trotzdem verbrachten wir eine sehr amüsante Zeit mit Luisa und erhielten von ihr am Ende einen wertvollen Tipp für das folgende Tagesprogramm: Wandern auf den Stadtbergen.

Bei nach wie vor verlässlich scheinender Sonne fuhren wir zum Fuß der bewaldeten Hügelkette und begannen unseren Aufstieg. In engen Serpentinen führten hunderte steinerne Stufen unter dem lockeren Blätterdach den Berg hinauf und nach einiger Zeit wünschte man sich fast, dass hier ebenfalls irgendein König auf die Idee gekommen wäre, eine Rolltreppe zu bauen. Aber man durfte sich eigentlich nicht beschweren – immerhin wurde man beim Erklimmen nicht ständig von den nervtötenden Touristenbussen aus dem Weg gehupt.

Oben der Himmel, unten Hangzhou, wie Luisa zu sagen pflegt

Das Gemecker war darüber hinaus schnell vergessen, als wir den Gipfel erreichten, wo sich der Baumbestand lichtete und stattdessen (mal wieder) einem genialen Ausblick weichte. Oben der blaue Himmel, unten Hangzhou mit seinem Westsee, Parks, Tempeln, Pagoden, Hochhäusern und noch mehr grünen Hügeln im Hintergrund. Chinas Paradies auf Erden zu unseren Füßen. Von da an hangelten wir uns von einem Panorama zum nächsten und knipsten uns ordentlich die Finger wund. Vielleicht hätten wir uns mit dem exzessiven Beladen der Speicherkarten unserer Kameras allerdings etwas mehr beeilen sollen, denn wir hatten geplant, unsere Wanderung mit einem Besuch des Lingyin-Tempels abzuschließen. Der schloss seine Tore jedoch, wie die meisten Tempel und Museen in China, um punkt siebzehn Uhr. Nach den letzten Portrait-Fotos im Sonnenuntergang zeichnete sich überdeutlich ab, dass wir das nicht rechtzeitig schaffen würden. Dafür befand sich auf der letzten Hügelspitze ein kleines Kloster, in dem sich gerade die Mönche zum Beten versammelt hatten. Offenbar wollten die ihre Gebete in ganz Hangzhou publik machen, denn mitten über dem Eingang des hübschen Gebäudes ragte ein stählerner Sendemast in die Höhe. Man muss eben auch im Kloster mit der Zeit gehen.

Wären wir mit der Zeit gegangen, hätten wir uns die nächste unangenehme Überraschung sparen können. Eigentlich dachten wir nämlich, uns nun bequem mit der Seilbahn vom Berggipfel ins Tal kutschieren zu lassen. Falsch gedacht! Dummerweise glitt die letzte Gondel doch tatsächlich direkt vor unserer Nase an uns vorbei und ließ uns, erschöpft und fußlahm, vor dem verschlossenen Eingang zurück. Sh**! Als alle lange genug fassungslos der Gondel hinterher gestarrt und sich klar gemacht hatten, dass unsere Wanderung noch nicht zu Ende war, blieb uns nichts anderes übrig, als den Abstieg zu Fuß in Angriff zu nehmen. Egal, immer schön positiv denken, dachte ich mir. Dieser Vorsatz endete darin, dass ich beim darauf folgenden Gewaltmarsch zusammen mit Fanny und Sandra die Treppenstufen vor kunsthistorischem und gesellschaftlichem Hintergrund interpretierte. Sehr förderlich!

Zum Glück hatten wir noch eine ganze Nacht Zeit, um uns von unserem Wandertag zu erholen, bis uns wie gewohnt eine Horde wild musizierender Kinder aufweckte. Dann mussten wir bereits Abschied nehmen von der netten Hostelbelegschaft und dem Haushund Sunny, ließen ein letztes Mal den Blick über den Westsee schweifen und kauften den Reiseproviant in unserer französischen Lieblingsbäckerei, in die wir vorerst nicht zurückkehren würden. Der spannendste Teil unserer Reise lag aber noch vor uns. Doch obwohl ich natürlich viele Erwartungen an unser Zwischenseminar hatte und auch ein bisschen aufgeregt war, konnte ich nach dem Besuch in Chinas kleinem Paradies ziemlich entspannt in den Zug ins zwei Stunden entfernte Shanghai steigen. Noch wusste ich nicht, dass ich dort einige der bisher besten Erfahrungen meines Auslandsjahrs sammeln durfte.